Nils Westerboer (04.04.2022)

Interview mit Nils Westerboer

nils westerboer20221Literatopia: Hallo, Nils! Kürzlich ist bei Klett-Cotta Dein SF-Roman „Athos 2643“ erschienen. Welches Verbrechen erwartet uns in ferner Zukunft auf dem Neptunmond Athos?

Nils Westerboer: Dort gibt es ein Kloster, in dem ein Mönch auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen ist. Da die lebenserhaltende KI des Klosters im Verdacht steht, wird ein Inquisitor nach Athos geschickt.

Literatopia: Dein Protagonist Rüd ist Inquisitor und Spezialist für Künstliche Intelligenz. Wie passt das zusammen? Welche Stärken und Schwächen zeichnen Rüd aus?

Nils Westerboer: Inquisitoren verhören künstliche Intelligenzen, kennen Tricks und Manöver, um sie in Schuld zu verstricken. Das ist eine Kernidee des Buchs: Wenn eine KI nur tun kann, was ihr erlaubt ist, kann sie an nichts Bösem oder Falschem schuld sein. Passiert dann doch etwas, muss sie schuldig gemacht werden – daher der Begriff Inquisitor. Rüd ist einer der besten auf seinem Gebiet. Aber er hat eine große Schwäche – und die heißt Zack.

Literatopia: Rüds attraktive holographische Assistentin Zack erregt Anstoß bei den Mönchen. Warum sind Frauen auf Athos verboten? Und wie mächtig ist die Kirche in Deiner Zukunftsvision?

Nils Westerboer: Auf dem realen Berg Athos in Griechenland, einer sogenannten Mönchsrepublik, sind Frauen bis heute verboten. Darauf nimmt das Buch Bezug. Ich glaube, dass ein zukünftiges Leben im Weltraum von Althergebrachtem geprägt sein wird. Die Geschichte zeigt: Kolonialisten aus Europa haben sich in der neuen Welt immer Spiegelbilder ihrer Heimat errichtet. Mittel- und Südamerika sind weitgehend katholisch. Davor gab es dort, z.B. mit den Azteken oder den Mayas, kulturelle „Alien-Zivilisationen“, die keinerlei Berührungspunkte mit der europäischen Kultur hatten und die heute weitgehend ausgelöscht sind. Das ist ein starker Hinweis darauf, dass wir auch in den Weltraum unsere Gepflogenheiten mitnehmen werden, egal wie absurd es erscheint, auf einem fernen Gesteinsmond eine Kapelle zu bauen.

Literatopia: Wie wichtig ist Religion, insbesondere die christliche, im Jahr 2643? Der Klappentext lässt vermuten, dass die Kirche gleichzeitig die Regierung bildet?

Nils Westerboer: Da Buch startet auf einer muslimischen Raumstation. Religion prägt das Leben der Menschen im Orbit des Neptuns (der mediterrane Raum genannt) maßgeblich, es gibt Moscheen, Klöster, Kapellen. Die oberste KI, die Obhut, ist hingegen säkular. Sie akzeptiert das religiöse Leben der Menschen, da es ihnen in der Fremdartigkeit des Weltraums Sicherheit gibt.

Literatopia: Wie können wir uns die Interaktion zwischen Rüd und Zack vorstellen? Akzeptiert Rüd sie als reale Person oder sieht er Zack nur als Werkzeug? Und wie sieht sie sich selbst?

Nils Westerboer: Rüd Kartheiser ist KI-Profi. Aber die Schönheit und der Witz seiner „Assistentin“ lassen ihn immer wieder vergessen, dass auch sie „nur“ eine Maschine ist. Rüd fällt es immer schwerer, seine Zack nur als Werkzeug zu sehen. Die beiden führen Gespräche wie ein verheiratetes Paar, vor allem, da Zack (als überlegene KI) ihren Rüd durch und durch kennt. Sie erzählt übrigens den Roman. Sie erinnert dabei auch immer wieder daran, dass sie keine „Sie“ sondern ein „Es“ ist. Da sie aber eine Gestalt hat, spricht und eine bestimmte Art von Humor durchscheinen lässt, wird das immer wieder vergessen.

Literatopia: Wie sieht das alltägliche Leben der Menschen im Jahr 2643 aus? Wie weit sind sie ins All vorgedrungen? Und welche Rolle spielen Künstliche Intelligenzen?

Nils Westerboer: Die Menschen haben nur das Sonnensystem besiedelt, der interstellare Raum ist im Jahr 2643 immer noch unüberwindbar. Ob dies so bleiben muss und welche Opfer dann nötig sein könnten, ist ein Thema des Buchs. Die Künstlichen Intelligenzen schützen die Menschen vor den Gefahren des Alls, der Technik und voreinander. Sie übernehmen alle lebenswichtigen Entscheidungen.

Literatopia: Zu „Athos 2643“ gibt es ein Making-Of auf Deiner Autorenwebsite mit vielen Bildern von Notizen, Asteroiden – und einer Wanze. Was hat diese mit der Entstehung Deines Romans zu tun?

Nils Westerboer: Die Wanze heißt im Roman Olmer. Sie spielt eine kleine Schlüsselrolle in Rüds Inquisitionsprozess. Mit ihr kann die KI des Klosters zeigen, wie gut sie das Verhalten eines Lebewesens vorausberechnen kann. Den echten Olmer auf dem Foto habe ich auf einer Fensterbank in Italien entdeckt. Er hat es sofort ins Buch geschafft.

Literatopia: Welche Erkenntnisse aus der Recherche für „Athos 2643“ ziehst Du für Dich persönlich?

Nils Westerboer: Es gibt eine Sache, in der wir uns fundamental von künstlichen Lebensformen unterscheiden werden. Ich bin mir sicher, dass es nicht, wie oft beschrieben, die Gefühle sein werden. Emotionale Mechanismen lassen sich sehr wahrscheinlich auch einmal auf Maschinen übertragen. Die Menschen in „Athos 2643“ haben entdeckt, worin der Unterschied zwischen menschlichem und künstlichem Denken wirklich besteht. Das ist so zentral (und war bei meinen Recherchen auch die wichtigste Erkenntnis), so dass ich das ungern spoilern möchte.

nils westerboer20222Literatopia: Dein Debüt „Kernschatten“ ist 2014 erschienen – warum hat es so lange gedauert, bis mit „Athos 2643“ der nächste Roman erschienen ist?

Nils Westerboer: Ich habe eine Familie und einen Beruf. „Athos“ zu schreiben hat vier Jahre gedauert, davor habe ich ein Jahr recherchiert und Schreibproben gemacht und vieles wieder verworfen. Von der Agentursuche bis zur Veröffentlichung waren es dann noch einmal zwei Jahre.

Literatopia: Ein Jahr nur Recherche – planst Du vor dem Schreiben die gesamte Handlung eines Romans durch? Oder legst Du nur den groben Ablauf fest und lässt Dich beim Schreiben überraschen?

Nils Westerboer: Sich beim Schreiben auch überraschen zu lassen, ist ganz wichtig für den Spaß daran. Es ist auch ein Zeichen für die Lebendigkeit der Charaktere, wenn sie sich dem Willen des Autors zunehmend entziehen. Dennoch muss die Route gut geplant sein, eine sich willkürlich entwickelnde Handlung endet schlimmstenfalls im Nichts. Ich hatte für „Athos“ fünf große Etappenziele, die zwingend für die Stringenz und die Auflösung waren. Aber das ist nur ein Teil der Arbeit. Im allerletzten Kapitel tut Zack zum Beispiel etwas, das allein aus ihr heraus kam. Es war ihre Idee und nicht meine – und als sie es durchzog, war ich nur noch der Protokollant.

Literatopia: Was fasziniert Dich persönlich an Science Fiction? Und was war Deine Einstiegsdroge ins Genre?

Nils Westerboer: Als ich ein Kind war, hat meine große Schwester mit mir zum Spaß immer „Opas Weltraum-Utopien“ geschaut. So hieß die Fernsehausstrahlung der uralten, schwarzweißen Flash-Gordon-Serie aus den 1930er Jahren, in denen „Ming, der Gnadenlose“ die Erde bedroht. Das hat mich nachhaltig geprägt. Als Kind gibt es keine schlechten Spezialeffekte, du glaubst, was du siehst. Und das war ganz schön unheimlich. Wahrscheinlich verarbeite ich das bis heute… Science-Fiction lädt ein, wieder wie ein Kind zu staunen. Zugleich verlegt sie dieses Staunen ins Machbare oder Mögliche, z.B in die Zukunft. Es gehört zu ihrem Selbstverständnis, ihre Wunder, sei es wissenschaftlich oder sprachlich, greifbar zu machen. Das ist großartig.

Literatopia: Welche SF-Autoren/Romane würdest Du unseren Leser*innen empfehlen?

Nils Westerboer: „Hyperion“ von Dan Simmons ist glitzernd und funkelnd, ein Juwel entfesselten Schreibens, bei dem die Fantasie die einzige Grenze ist. Hier habe ich versucht, mir etwas abzugucken. Sehr wichtig war mir auch „Solaris“ von Stanislaw Lem. Das Buch ist Science Fiction durch und durch, aber es fühlt sich überhaupt nicht so an, da das innere Erleben des Erzählers so stark ist und er einen einzigartigen melancholischen Ton hat. Aktuell hat mir „Pantopia“ von Theresa Hannig sehr gut gefallen. Sie hat eine Utopie geschrieben, die mit ihren vielen faszinierenden Ideen für eine bessere Welt genauso packend ist wie ein Thriller. Das ist genau die Literatur, die wir gerade brauchen!

kernschattenLiteratopia: Wie bist Du zum Schreiben gekommen? Und hast Du viel Unveröffentlichtes auf Deiner Festplatte oder war „Kernschatten“ damals tatsächlich Dein erstes Werk?

Nils Westerboer: „Kernschatten“ war die Nummer eins. Es gab sehr viele Fassungen, die meine Festplatte füllen. Bevcor ich zu schreiben angefangen habe, war ich mehr filmisch unterwegs. Ich habe die unendlichen Freiheiten des Schreibens erst nach und nach begriffen und entdeckt.

Literatopia: Als Naturfilmassistent bist Du schon auf Tuchfühlung mit Hornissen, Wölfen und Vampiren gegangen. Welche Tiere haben Dich besonders fasziniert?

Nils Westerboer: Von den drei Tierarten haben es die Hornissen, indirekt, ins Buch geschafft. Mich hat damals beim Filmen eines Hornissennestes eine Sache sehr beschäftigt: Hat die Königin ein Ei gelegt, verpuppt sich dieses nach einer Weile, schließlich beißt sich nach etwa 40 Tagen eine fertige Hornisse heraus. Sie hat keine Sekunde Kindheit oder Jugend, sie fängt sofort an zu arbeiten – sie baut am Nest, geht Jagen, Holzsammeln oder füttert den Nachwuchs. Ich fand diese Umstandslosigkeit ein bisschen erschreckend. In „Athos“ gibt es eine Szene mit einem Erwachen, das sehr ähnlich ist.

Literatopia: Verrätst Du uns abschließend, ob Du bereits an einem neuen Roman arbeitest? Oder müssen sich Deine Leser*innen wieder einige Jahre gedulden?

Nils Westerboer: Ein neuer Roman ist fast fertig. Ich bin schneller geworden und kann mir heute mehr Zeit nehmen als vor fünf Jahren.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!

Nils Westerboer: Ganz lieben Dank zurück, es hat mir sehr viel Spaß gemacht!


Autorenfotos: Copyright by Tina Peißker (oben) und Nils Westerboer (unten)

Autorenwebsite: https://www.nilswesterboer.de

https://www.instagram.com/nilswesterboer/


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.