Was im Verborgenen ruht. Ein Inspector Lynley Roman (Elizabeth George)

george lynley 21 Was im Verborgenen

Goldmann, 2022
Originaltitel: Something to hide (2022)
Übersetzung von Charlotte Breuer
Gebunden, 796 Seiten
€ 26,00 [D] | € 26,80 [A] | CHF 36,90
ISBN 978-3-442-31620-5

Genre: Krimi, Thriller


Rezension

Der achtzehnjährige Tani Bankole aus dem Londoner Viertel Dalston erfährt, dass sein dominanter Vater Abeo mit einer Familie in Nigeria über den Kauf eines Mädchens verhandelt, das er heiraten soll. Tani ist entschlossen, sich gegen seinen Vater zu wehren. Auch das Leben seiner achtjährigen Schwester Simi hat der Vater verplant. Er will sie an einen Nigerianer verheiraten. Um Simi zu beschützen, sucht Tani nach einer Möglichkeit, seinen Vater zu erpressen. Doch dann bekommt er heraus, dass seine Eltern sie nach alter Tradition vor dem Verkauf beschneiden lassen wollen. Das ist in Großbritannien verboten, wird aber in der nigerianischen und somalischen Community noch praktiziert.

Während Abeo eine kostengünstige Beschneiderin ins Haus bestellen will, sucht Mutter Monifa heimlich nach einer illegalen FGM-Klinik (Female genital mutilation), wo eine Ärztin eine medizinische Genitalverstümmelung vornehmen soll. Tani versucht mit Hilfe seiner Freundin Sophie, Simi über ein gerichtliches Kontaktverbot vor ihren Eltern zu schützen und an einen sicheren Ort zu bringen. Dafür benötigt er die Hilfe seiner Mutter, die jedoch von ihrem Mann terrorisiert und unterdrückt wird. Der familiäre Konflikt spitzt sich zu und zieht dabei immer weitere Kreise.

Zur gleichen Zeit bekommt die Fotografin Deborah St. James, Lynleys ehemalige Verlobte und jetzige Ehefrau seines besten Freundes Simon St. James, vom Bildungsministerium den Auftrag, eine Fotoserie von Mädchen zu machen, die Opfer von Genitalverstümmelungen sind oder es werden könnten. Die Fotos sollen zusammen mit einem Dokumentarfilm als Aufklärungsmaterial im Schulunterricht verwendet werden. Deborah lernt die betroffenen Mädchen im Orchid House, einem Zufluchtsort, kennen. Deren Gründerin Zawadi, selbst Opfer von Genitalverstümmelung, steht gerade unter medialem Beschuss.

Die Eltern eines Mädchens, das sie in ein Safe House gebracht hat, werfen ihr Übereifer und Kindesentzug vor. Eine Anti-FGM-Aktivistin ist auch die Chirurgin Dr. Weatherall, die Rekonstruktionen an betroffenen Frauen durchführt. Derweil untersucht DI Lynley gemeinsam mit den Detective Sergeants Barbara Havers und Winston Nkata den Tod einer Kollegin. Detective Sergeant Teo Bontempi war von ihrem Vorgesetzten DCS Mark Phinney in komatösen Zustand in ihrer Wohnung aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht worden, wo sie drei Tage später starb. Jemand hatte ihr den Schädel eingeschlagen.

Das Mysterium ihres Todes führt Lynley und sein Team zu Teos Adoptiveltern, ihrer leiblichen Schwester Rosie, ihrem entfremdeten Mann Ross Carver und Mark Phinney. Dieser war nicht nur ihr Chef, sondern auch ihr Geliebter und total vernarrt in sie. Anscheinend wollte er ihretwegen seine Frau und seine schwerstbehinderte Tochter verlassen. Das Motiv für die Tat könnte auch mit Teos Beruf zu tun haben. Teo war, anscheinend unter einem Decknamen, Teil einer Anti-FGM Task Force und verantwortlich für die kürzliche Schließung einer illegalen Klinik in Dalston. Bei seinen Ermittlungen wird Lynley mit einer ihm völlig fremden Welt konfrontiert.

Die Leser*innen folgen einem umfangreichen Figurenensemble kreuz und quer durch die Sommerhitze Londons, von den Mietskasernen und Straßenmärkten in Dalstons farbiger Community, den schattigen Villen in Hampstead, den Cottages auf der grünen Insel Eel Pie Island in Twickenham, den großzügigen Stadthäusern in Belgravia und Chelsea. Elizabeth George entwickelt ein komplexes Beziehungsgeflecht aus Liebe, Lüge, Täuschung und Selbsttäuschung. Jede Familie hat ihre Geheimnisse, die Schicht um Schicht freigelegt werden.

Mit müheloser Eleganz fügt George die zahlreichen Handlungsfäden zu einem großen Ganzen zusammen, eine starke Sogwirkung entfaltend, der man sich kaum zu entziehen vermag. George platziert gezielt Hinweise, die zum Miträtseln veranlassen und immer wieder auf die falsche Spur bringen. Es gibt keine Tatwaffe, schlechte Aufnahmen von Überwachungskameras, und keinen Mangel an Verdächtigen.

George entwickelt die Geschichte von Lynley und Havers weiter. Lynley ist Acting Chief Superintendent, da seine Chefin, Superintendent Isabelle Ardery, einen Alkoholentzug macht. Er wünscht seine Beziehung zur Tierärztin Daidre Trahair zu vertiefen, die allerdings mehr mit einem familiären Problem beschäftigt ist. Havers versucht die Pläne der Scotland Yard Sekretärin Dorothea Harriman abzuschmettern, einen Mann für sie zu finden. Ihre Beziehung zu Commissario Lo Bianco entwickelt sich weiter, in welche Richtung, bleibt offen.


Fazit

Was im Verborgenen ruht ist sowohl ein ausgeklügeltes Kriminaldrama über Lüge, Betrug und Selbstbetrug als auch eine bestechende Gesellschaftsanalyse mit Fokus auf eine schockierende kulturelle Praxis, die nicht alle Beteiligten als Verbrechen betrachten. In ihrem 21. Lynley-Roman leuchtet George den FGM-Komplex gründlich und exakt aus verschiedenen Perspektiven aus, denen der Leidenden, der Erduldenden, der Kämpfenden. Die Beschreibungen des Verstümmelungsvorgangs und die körperlichen und seelischen Folgen für die Opfer sind brutal realistisch. Georges Romane sind mehr als Krimis. Man erfährt in ihnen mehr über Leben und Arbeit der Menschen als aus Sozialstudien.


Pro und Kontra

+ wichtiges, schwieriges Thema, sensibel und fundiert analysiert und bearbeitet
+ brillant erzählt
+ detailfreudig beschriebene Settings
+ moderner psychologischer Scharfblick, emotionale Tiefe
+ sardonischer Humor

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


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Tags: Elizabeth George, DI Lynley, DS Havers, Female genital mutilation