Der Tote aus Zimmer 12 (Anthony Horowitz)

Horowitz Zimmer 12

Insel Verlag, 2022
Originaltitel: Moonflower Murders (2020)
Übersetzung von Lutz-W. Wolf
Gebunden, 601 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24340 [A] | CHF 28,90
ISBN 978-3-458-64287-9

Genre: Detektivroman, Krimi


Rezension

Die ehemalige Lektorin Susan Ryeland hat sich nach der Katastrophe von Die Morde von Pye Hall nach Kreta zurückgezogen. Es war das letzte Buch, an dem sie gearbeitet hat und das zum Tod des Autors Alan Conway, der Zerstörung ihres Verlages und dem Ende ihrer Karriere geführt hat. Nun führt Susan mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Andreas das charmante Familienhotel Polydorus in einem Fischerdorf auf Kreta. Doch ihr neues Leben ist nicht so idyllisch, wie sie es sich erträumt hat. Es gibt Probleme mit der Haustechnik, unpünktlichem Personal und schwierigen Gästen. Langsam geht das Geld aus, ihre Beziehung leidet unter dem Stress, und sie vermisst ihr altes Leben in London.

Das Ehepaar Treherne aus England erzählt ihr eine seltsame Geschichte. Im Sommer 2008 geschah in ihrem Hotel Branlow Hall ein Mord, genau an dem Wochenende, als sie dort die Hochzeit ihrer Tochter Cecily und ihres Schwiegersohns Aiden MacNeil feierten. Der Brite Frank Parris, Gast aus Zimmer 12, wurde mit einem Hammer erschlagen. Er war gerade aus Australien zurückgekehrt, wo er eine Werbeagentur besaß. Ein Hotel-Angestellter, der junge Rumäne Stefan Codrescu, wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Er hatte kein Alibi, Blutspritzer auf seiner Kleidung, Geld des Opfers in seinem Zimmer, er war beim Betreten des Zimmers gesehen worden und gestand die Tat.

Vor einigen Tagen bekamen die Trehernes einen Anruf von Cecily. Sie behauptete, dass Stefan unschuldig ist und sie den wahren Mörder kennt, nachdem sie Alan Conways Roman Atticus Pünd unterwegs gelesen hat. Nur ein paar Stunden nach dem Anruf verschwand Cecily spurlos. Susan hat das Buch lektoriert und veröffentlicht. Alan Conway, ein alter Freund von Frank Parris, muss Franks Mörder bei seinen Recherchen in Branlow Hall entdeckt und in seinem Buch einen Hinweis versteckt haben, den Cecily gefunden hat. Die Trehernes bieten Susan zehntausend Pfund, wenn sie hilft herauszufinden, was mit Cecily passiert ist. Susan kann unmöglich Nein sagen und reist nach England.

Der Tote aus Zimmer 12 ist nach Die Morde von Pye Hall der zweite Roman mit der ehemaligen Lektorin Susan Ryeland als Detektivin. Wie so oft, geht es Horowitz um die Familie. Jede gibt vor, ein perfektes Leben zu führen. Aber wenn man genauer hinsieht, entdeckt man die Risse in der Fassade und dahinter menschliche Abgründe wie Geldgier, sexuellen Sadismus und Geschwisterneid. Horowitz setzt das Thema gleich zu Beginn, als Ich-Erzählerin Susan Ryeland über ihr nur scheinbar idyllisches Leben nachdenkt.

Wenn ein Mord geschieht, wird es unangenehm, weil jemand auf der Suche nach dem Täter gräbt und dabei sorgsam gehütete Geheimnisse zutage fördern könnte. Deshalb stößt Susan auf Misstrauen und großen Widerstand, selbst bei Susans Mann Aiden, vor allem jedoch bei ihrer Schwester Lisa. Auch DCS Locke (Die Morde von Pye Hall) sieht sie als Ärgernis und möchte sie loswerden.

Horowitz orientiert sich am klassischen Mystery. Es gibt einen Mord, der nur vordergründig geklärt ist, eine Frau verschwindet auf rätselhafte Weise bei einem Spaziergang. Haupthandlungsort ist Branlow Hall, ein gotisches Burgschloss, in einer parkähnlichen Landschaft in einem abgelegenen Landstrich von Suffolk, das ideale Vorbild für die Location in einer Mordgeschichte, wie Susan bemerkt. Am Ende versammelt Susan alle Figuren, um ihre Ergebnisse zu präsentieren. Sie reflektiert über diese Topoi, amüsiert und kritisch zugleich. Die Realität imitiert die Kunst, die Kunst imitiert die Realität etc. Schriftsteller wie Alan Conway stehlen nicht, erklärt Susan, sie absorbieren aus der sie umgebenden Welt.

Eine der Schlüsselfiguren ist Alan Conway, der die Wahrheit herausfand, der nicht mehr sprechen kann, weil er sich hat ermorden lassen. Alan hat sich immer sehr bedeckt gegeben, doch seine Exfrau Melissa spricht nur zu gern schlecht über ihn. Sein ehemaliger Lebenspartner und Erbe James übergibt ihr Alans Aufzeichnungen und Interviews zum Roman. Eine wichtige Spur führt zu Frank Parris’ Schwester und Mann, Joanne und Martin Williams, im Nachbarort, eine weitere in die Londoner Schwulenszene der vordigitalen Zeit, als Prostituierte und Call Boys Zettel mit ihrer Nummer in Telefonzellen klebten. Insgesamt umfasst Susans Liste fünf Verdächtige. Dabei kann sie nicht sicher sein, ob sie auf der richtigen Fährte ist.

Denn Horowitz baut eine weitere Unsicherheit ein. Ursprünglich sollte Schuldirektor George Sanders das Zimmer 12 bewohnen. Galt der Mordanschlag ihm? Er quälte seine Schüler, darunter Derek, den jetzigen Nachtportier von Branlow Hall. Möglicherweise war er ein Pädophiler. Häufig treten Kinder und Jugendliche bei Horowitz als Opfer von Mobbing, Gewalt und sexuellen Übergriffen auf, die sie für ihr Leben traumatisieren. Hier sind es Derek und Alans Sohn Freddy, der wegen des Coming Out seines Vaters zum Mobbing-Opfer in der Schule wurde. Susan hofft, in Alan Conways Roman den Schlüssel zur Wahrheit zu finden. Atticus Pünd unterwegs ist ein Roman im Roman mit eigener Typografie, Seitenzahlen etc. Es ist ein genialer Schachzug von Horowitz, dass wir den Hinweis nicht entdecken, obwohl wir es könnten, und Susan vorerst auch. Die Auflösung ist schlichtweg brillant.


Fazit

Vor dem Hintergrund eines idyllischen Hotel-Schlosses im sommerlichen Sussex entfaltet Horowitz eine verwickelte Geschichte um einen Mord und eine verschwundene Frau. Es geht um Erpressung, Eifersucht und Erbstreitigkeiten. Ein gelungenes Sequel von Die Morde von Pye Hall mit einer eindrucksvollen Susan Ryeland in ihrem zweiten Fall.


Pro und Kontra

+ wahnsinnig unterhaltsam, spannend, clever, stylish
+ realistische Charaktere
+ schwarzer Humor
+ nostalgisch und zugleich inspiriert und originell

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


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