Shadowrun - Wendigos Wahrheit (David Grade)

wendigos wahrheit

Pegasus Spiele (November 2021)
Taschenbuch, 376 Seiten, 14,95 EUR
ISBN: 978-3969280362

Genre: Cyberpunk mit Fantasyelementen


Klappentext

Kein Platz für Helden

Der Rhein-Ruhr-Megaplex: ein Moloch aus Klassenunterschieden, Konzernintrigen und Unterweltkonflikten. Auf der Oberfläche blinken Konzernlichter und versprechen ein behütetes Leben innerhalb der Wohnenklaven. Aber darunter brodelt der tägliche Kampf ums Überleben zwischen toxischen Brachen und den Gefahren der Schattenwelten.

Die zwergische Privatermittlerin Hermine Wendigo nimmt den Auftrag an, die Mörder einer ehemaligen Mafiasoldatin aus dem Rhein-Ruhr-Megaplex zu finden. Die „Familie“ scheint nicht interessiert an einer Aufklärung. Die Polizei noch weniger. Je weiter Wendigo der mörderischen Spur in die Schatten folgt, desto tiefer versinkt sie in einen Krieg der Mafia, in dem alles in Gefahr gerät: ihre Überzeugungen, ihre Loyalitäten und ihr Überleben.


Rezension

„Zu mir kamen Leute, die zu sonst niemandem gehen konnten. Das hieß, sie waren entweder sehr arm, sehr einsam oder sie hatten sehr viel Angst.“ (Seite 8/9)

Privatermittlerin Hermine Wendigo lacht sich gewaltige Probleme an, als der Fitnessstudiobesitzer Theodus Finn bei ihr auftaucht und sie bittet, den Mord an seiner Frau zu untersuchen. Die Polizei hat den Fall aufgegeben und ein alter Kollege von Wendigo hat sie empfohlen. Trotz ungutem Gefühl nimmt sie den Auftrag an. Die Spur führt zur italienischen Mafia, da die Ermordete zu einem der im Rhein-Ruhr-Megaplex einflussreichsten und gefährlichsten Clans gehörte. Notgedrungen muss Wendigo mit der Mafia zusammenarbeiten, doch die hat erstaunlich wenig Interesse daran, den Tod eines Familienmitglieds aufzuklären. Trotz jahrelanger Erfahrung, besten Kontakten und der Hilfe des Hackers Golden Boy stochert Wendigo lange im Dunkeln, bis sich nach und nach ein verstörendes Bild ergibt. Bald ist sie gezwungen, all ihre guten Vorsätze über Bord zu werfen und sich für andere in Lebensgefahr zu begeben …

„Wendigos Wahrheit“ ist als Detektivgeschichte mit nur einer Protagonistin ein ungewöhnlicher „Shadowrun“-Roman, der mit relativ wenig Action auskommt (und dennoch manchmal sehr brutal ist). Die Handlung beginnt damit, dass Wendigo ihrer Therapeutenpersona Satyr die Ereignisse aus ihrer Sicht schildert, wobei sich die Gespräche mit Satyr mit Szenen aus ihren Ermittlungen abwechseln. Stück für Stück entsteht so ein Gesamtbild, das man erst am Ende richtig erkennt. Dabei lernt man Wendigo als facettenreiche Persönlichkeit kennen, die viel erlebt und durchlitten hat, die vieles bereut und die als ältere, Schwarze Zwergin mehrfach diskriminiert wird. Sie kann sich allerdings auch gut selbst das Leben schwer machen, vor allem der Alkohol hat vieles zerstört und sie zu einer einsamen, depressiven Person gemacht. Gleichzeitig ist sie durchaus empathisch und hilfsbereit, bringt ihrem soziophoben Nachbarn regelmäßig Essen mit und kümmert sich um ein traumatisiertes Mafiakind.

Wendigos Ermittlungen schreiten langsam voran, trotzdem wird es nie langweilig. Sie spricht mit vielen unterschiedlichen Leuten und man gewinnt dabei ein detailreiches, düsteres Bild der zukünftigen Rhein-Ruhr-Megaplexes, das David Grades andere „Shadowrun“-Romane „Iwangs Weg“ und „Marlene lebt“ perfekt ergänzt. Abseits der glitzernden Konzernwelten kämpfen die Metamenschen täglich ums Überleben, es gibt viele Konflikte, aber auch großen Zusammenhalt. Als Privatermittlerin ist Wendigo auf ihre Kontakte angewiesen und es gelingt ihr relativ leicht, neue zu knüpfen. Allerdings gehen damit oft neue Probleme einher. So gerät sie in den Wohnkomplex einer gefährlichen Gang, zu der auch gewaltbereite Nazis gehören. Als Schwarze Zwergin wird Wendigo auf übelste Weise beschimpft, wobei auch rassistische Begriffe fallen, die man heute in keinem Roman mehr lesen will und die in der Zukunft von „Shadowrun“ anachronistisch wirken.

Auch die italienische Mafia wirkt manchmal seltsam anachronistisch, Teile der Handlung scheinen alten Mafiafilmen entsprungen zu sein. Das ergibt mit dem düster-dreckigen Cyberpunk eine interessante Mischung, wobei der Einsatz von Klischees nicht immer gelungen ist. Der Reiz des Romans liegt ohnehin weniger in der Mafia-Geschichte, die ihre Funktion, zu unterhalten, passabel erfüllt, sondern mehr in Wendigos Persönlichkeit, ihren inneren Kämpfen und ihren Beziehungen zu anderen Metamenschen. Auch ist die Zukunft in manchen Punkten nicht ganz so dystopisch: Für Wendigo gibt es als Zwergin zahlreiche Barrieren im Alltag, doch es gibt Abhilfe und viele Figuren bieten ihr ganz selbstverständlich einen zwergengerechten Stuhl an. Immer wieder schimmert durch, dass das Leben viel besser und schöner sein könnte, wenn mehr Metamenschen Rücksicht aufeinander nehmen würden. Und in Nebensätzen erfährt man immer wieder von Einzelpersonen oder auch Organisationen, die sich für andere einsetzen. Der Rhein-Ruhr-Megaplex ist ein Moloch voller Schatten, aber es gibt auch Licht und dieses setzt David Grade besonders in Szene.

„Vielleicht ging es gar nicht darum, das Loch zu stopfen. Nur klein genug machen, um es ertragen zu können.“ (Seite 337)


Fazit

„Wendigos Wahrheit“ funktioniert trotz oder auch wegen einiger Mafia-Klischees im„Shadowrun“-Universum gut, auch wenn hier Shadowrunner nur in Nebensätzen vorkommen. Wendigo entspricht dem Archetyp des Hardboiled Detective, ist als Schwarze, ältere Zwergin aber auch eine mehrfach diskriminierte Figur, die selbst ihr größter Feind ist. David Grade überrascht mit einer retrospektiven Erzählweise, die die Ereignisse bis zum Finale Stück für Stück offenbart und so auch mit wenig Action viel Spannung generiert.


Pro und Contra

+ Wendigo ist eine vielschichtige, mehrfach diskriminierte Figur
+ detailreiches, lebendiges Bild des Rhein-Ruhr-Megaplexes
+ Nebenfiguren wirken (meta)menschlich und interessant
+ Therapeutenpersona Satyr, die Wendigos Perspektive aufbricht
+ trotz relativ wenig Action spannend
+ zwischen den Schatten blitzt immer wieder Licht durch
+ spricht beiläufig verschiedenste gesellschaftspolitische Probleme ab

- manchmal zu viele Mafia-Klischees
- Verwendung anachronistischer, rassistischer Begriffe

Wertungsterne4

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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Tags: Cyberpunk, Shadowrun, David Grade, progressive Phantastik, deutschsprachige SF, Zwerge, Rassismus