Diogenes, 2022
Originaltitel: Give Unto Others (2022)
Übersetzung von Werner Schmitz
Gebunden, 343 Seiten
€ 25,00 [D] | € 25,70 [A] | CHF 34,90
ISBN 978-3-257-07190-0
Genre: Kriminalroman
Rezension
Eines Tages bekommt Commissario Guido Brunetti in der Questura Besuch von seiner früheren Nachbarin Elisabetta Foscarini. Sie sorgt sich um ihre Tochter Flora. Deren Mann Enrico hat kürzlich eine Bemerkung gemacht, der zufolge er in kriminelle Geschäfte verwickelt sein könnte. Einen konkreten Verdacht oder einen Namen hat sie nicht. Sie bittet Brunetti, aus alter Freundschaft verdeckt nachzuforschen, wer Floras Familie bedroht.
Brunetti erinnert sich noch gut an seine ärmliche Kindheit und die reiche Notarsfamilie Foscarini, insbesondere an Elisabettas Mutter, eine liebenswerte Frau, die seiner Mutter gegenüber immer hilfsbereit und großzügig war, ohne es sie spüren zu lassen. Aus Dankbarkeit ihr gegenüber verspricht er Elisabetta, sich die Sache einmal anzusehen. Brunetti weiß nicht, was er von der Geschichte halten soll. Seine Kollegin Claudia Griffoni vermutet, dass Flora und Enrico nur einen typischen Ehestreit hatten und Elisabetta als besorgte Mutter überreagiert.
Obwohl die Sache geheim bleiben soll, sind neben Griffoni bald auch Pucetti, Vianello und Signorina Elettra damit beschäftigt. Und natürlich wird auch Paola eingeweiht. Wer sollte einem einfachen Buchhalter und einer Tierärztin Böses wollen? Enrico stammt aus einfachen Verhältnissen, arbeitete nach dem Studium für die Caritas, danach für eine Buchhalterfirma, bevor er sich selbstständig machte. Sein erster Auftrag war ein Projekt seines Schwiegervaters Bruno del Balzo, eines erfolgreichen Geschäftsmanns. Enrico half ihm bei der Gründung einer Charity-Organisation, die Spendengelder für ein Hospital in Belize sammelt. Im Aufsichtsrat sitzen zwei angesehene Bürger Venedigs, von denen einer der ehemalige Vize-Admiral Matteo Fullin ist.
Brunetti kann nichts Verdächtiges daran finden, außer vielleicht der Tatsache, dass Enrico sich rasch von der Organisation distanziert hat. Ein guter Bekannter Brunettis und Kunde Enricos bezeichnet ihn als ehrlich. Mitten in seinen Nachforschungen wird ein brutaler Anschlag auf Floras Tierklinik auf Murano durchgeführt. Nun hat Brunetti einen offiziellen Fall, den er benutzen kann, um weiter in Richtung Bruno del Balzo zu ermitteln.
Donna Leons 31. Kriminalroman um Commissario Guido Brunetti spielt vor dem Hintergrund der Pandemieausläufer und deren Auswirkungen. Hundertfünfundzwanzigtausend Menschen sind an dem Virus gestorben, viele Geschäfte mussten schließen, zahllose Scheinfirmen der Mafia haben finanzielle Kompensation von Regierungsagenturen erhalten, die mit der Verteilung von Milliarden Euro an Hilfsgeldern beauftragt waren und von nicht weniger dubiosen Personen geleitet werden. Die Mafia weiß nicht, wie sie ihre anschwellenden Geldberge noch waschen soll und kauft daher Geschäfts-Immobilien in Venedigs besten Lagen.
Da die Polizei Venedigs sich nur mit den Baby Gangs genannten Kinderbanden herumschlagen muss, die die pandemiebedingt geschlossenen Ladengeschäfte plündert, hat Brunetti Zeit, sich mit einem seiner wohl persönlichsten Fälle zu befassen. Elisabettas Besuch weckt bei ihm Erinnerungen und Gefühle an die Zeit, als er mit seiner Familie in Castello lebte und jedermann wusste, dass der Vater seltsam war, die Familie arm und deshalb mietfrei wohnte. Mit Elisabetta verbindet er vor allem eine Respektlosigkeit gegenüber seiner Mutter, weil sie ihr einmal nicht die Tür aufhielt. Im Laufe der Handlung erfährt er, auch mit Hilfe seines älteren Bruders, dass er damals zu jung und naiv war, um die dunklen Seiten menschlichen Verhaltens wirklich verstehen zu können.
Nicht nur die Überdehnung der Polizeiregeln durch den Missbrauch von Ressourcen der Questura für eine persönliche Sache, auch ein sehr menschlicher Irrtum bringen ihn in ein gefährliches Fahrwasser, das seine Karriere und Reputation bedroht. Was mit der Möglichkeit eines betrügerischen Buchhalters beginnt, verwandelt sich in eine Geschichte über eine weitere Institution Italiens mit janusgesichtiger Natur. Brunetti ist überrascht, wie einfach es ist, eine Organisation, die nicht profitorientiert ist und einen sozialen Nutzen verfolgt, zu gründen und dadurch von der Steuer befreit zu werden. Noch erstaunter ist er, dass die Modalitäten dieses Modells nachgerade zur Steuerhinterziehung einladen.
Doch das ist nur die vordergründige Handlung. Donna Leon zieht zwei weitere Handlungsebenen ein, die erst allmählich zum Vorschein kommen. Sie erzählen eine andere Geschichte, ermöglichen einen völlig neuen Blick auf das Geschehen, diesmal mit Brunetti als Hauptdarsteller. Brunetti ist nicht mehr Agent seines Handelns, sondern in ein doppeltes Spinnennetz verstrickt. Um Ruf und Karriere nicht zu gefährden, muss er herausfinden, wer die Fäden im Hintergrund zieht und wer wiederum an dessen Fäden zieht, worum es wirklich geht, wer wen warum manipuliert, und wer am Ende dafür bezahlen muss.
Fazit
Subtil und in zurückgenommenem Tempo erzählt Donna Leon in ihrem 31. Brunetti-Roman davon, welche Grenzen des Berufsethos wir zu überschreiten bereit sind, um Menschen zu helfen, denen wir vermeintlich einen Gefallen schulden, und welche Regeln und Gesetze wir brechen, um die Kontrolle über Menschen, die uns wichtig sind, zurückzuerlangen. Ein sorgfältig konstruierter Roman mit überraschenden Wendungen.
Pro und Kontra
+ subtiles Drama über menschliche Abgründe
+ erzähltechnisch brillant, doppelbödig, mit einem Hauch von Paranoia
+ glaubwürdige Figuren und Dialoge
+ kritischer Blick auf aktuelle Probleme Italiens
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5
Rezension zu Lasset die Kinder zu mir kommen