Die Aosawa-Morde (Riku Onda)

onda aosawamorde

Atrium, 16. März 2022
Originaltitel: Yujinia (2005)
Übersetzung aus dem Japanischen von Nora Bartels
Gebunden, 368 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-85535-127-5

Genre: Kriminalroman, Mystery


Rezension

In einem kleinen Ort an der japanischen Westküste geschah im Jahr 1973 ein Massenmord. Die bekannte Familie Aosawa und ihre Gäste wurden während einer Geburtstagsfeier mit Zyanid in den Getränken vergiftet. Siebzehn Menschen starben. Der Getränkelieferant beging Suizid und wurde vor allem aufgrund seiner Abschiedsnachricht als Täter identifiziert. Elf Jahre später interviewte Makiko Saiga, eins der Kinder, die die Mordopfer seinerzeit gesehen haben, Menschen aus dem Umfeld der Aosawas für eine Abschlussarbeit im Marketing-Studium. Aufgabe war es, Interview- und Befragungstechniken zu erforschen. Der Text wurde ein Bestseller als Sachbuch Das vergessene Fest. Makiko veröffentlichte danach nie wieder etwas. Auch verweigerte sie Interviews. 

Die einzige Überlebende der Aosawa-Familie, die blinde Hisako, heiratete und zog in die USA. Makiko hält Hisako für die Mörderin, weiß jedoch nicht, wie eine blinde 11-Jährige ohne fremde Hilfe einen Massenmord hätte begehen können. In der Gegenwart, rund 30 Jahre nach dem Mordgeschehen, werden Personen interviewt, die irgendetwas mit dem Mordfall oder mit Makiko Saigas Buch zu tun hatten.

Die Aosawa-Morde, im Jahr 2005 in Japan als Yujinia veröffentlicht und mit dem 59. Nihon Suiri Sakka Kyōkai Shō (Preis für den besten Kriminalroman) ausgezeichnet, besteht aus 14 Kapiteln, von denen ein jedes eine andere Erzählstimme hat. Makiko Saiga ist höflich und ausweichend. Ihr Assistent bemerkt Abweichungen von der Realität, weiß damit aber nichts anzufangen. Der Polizist Teru, der seinerzeit für den Fall zuständig war und nun Rentner ist, hält Hisako für die Mörderin, konnte ihr aber nichts beweisen. Eine weitere Person glaubt, der Getränkelieferant sei von einer unbekannten Frau zur Tat veranlasst worden. Makikos Bruder Junji und die Verlagslektorin ihres Buches, Terus Kollegin und die Tochter der Haushälterin der Aosawas steuern ihre Sichten bei. Diese in der ersten Person Singular gehaltenen Beiträge werden ergänzt um Texte in der dritten Person Singular, Akten und andere Aufzeichnungen, fiktionale Texte und Auszüge aus Makiko Saigas Buch.

Über eine weite Strecke der Lektüre lesen wir unverbundenes Material, das wir nach Inhalten sortieren und verbinden können, in dem wir Gemeinsamkeiten feststellen oder Widersprüche. Es gibt keine Handlungsfetzen, die an der Klippe hängen, keine roten Heringe, ebenso kein klassisches Erzähltempo. Wir werden nicht durch die Handlung getrieben, haben Zeit, während der Lektüre mitzudenken. Riku Onda führt ein paar wiederkehrende und verbindende Motive ein, darunter eine schneeweiße Kräuselmyrtenblüte, das 3. Auge, die Stimme der Blumen und den Traumpfad. Diese Motive helfen auch dabei, zwei Personen besser zu verstehen, über die wir ansonsten nur wenig Verbindliches und Überprüfbares erfahren.

Onda setzt mehrere Theorien über den Mord nebeneinander. Sie sind in geringem Maße durch Fakten gestützt, spekulativ und natürlich auch durch ihre Autor*innen bestimmt. Zwangsläufig stellt sich die Frage nach der Wahrheit, gibt es doch objektiv einen Massenmord. Aber aufgrund fehlender Beweise, vielleicht auch brauchbarer Indizien, sind die subjektiven Sichten auf die Tat und mögliche Tatverantwortliche für die vollständige Aufklärung des Falls nicht geeignet. Für Makiko Saiga basiert ihr Buch zwar auf Fakten und Recherche. Aber sie stellt die Recherche als Instrument infrage, auch den Charakter des Buchs als Sachbuch oder Tatsachenroman. „Das Einzige, was es gibt, ist eine Fiktion dessen, was man sehen kann. Aber was wir sehen, trügt.“ (S.22) Folglich ist die Sicht, nur überprüfbare Fakten seien die Wahrheit, problematisch.

Nachdem wir eine Menge über sie von anderen Menschen gelesen haben, kommen in den beiden letzten Kapiteln abschließend Hisako Aosawa, die nun Hisako Schmidt heißt, und Makiko Saiga zu Wort. Wer aber darauf hofft, am Ende eine normale Auflösung zu erhalten, dürfte enttäuscht werden. Der Roman ähnelt dem Buch von Makiko Saiga. Makiko hat die Unklarheiten und Widersprüche in den einzelnen Darstellungen für sich stehen lassen, hat das Ende offengelassen. Die Wiedergabe der Interviews, die einen erheblichen Teil des Textes ausmachen, ist eindimensional, die Fragen werden nicht mit veröffentlicht, in wenigen Fällen macht eine befragte Person sie aber zum Bestandteil ihrer Antwort.

Die Identität der Person, die die Interviews führt, ist ein weiteres Rätsel. Dadurch entsteht der Eindruck, die Erzähler*innen würden sich an eine abwesende Person richten. Die Auszüge aus Makikos Buch, Rückblicke in der dritten Person Singular und Zeitungsartikel tragen zur Verrätselung bei, die noch eine Windung höher getrieben wird durch die Frage nach einem mysteriösen Brief und eine ebensolche Person namens Eugenia. Die Leser*innen müssen sich mit dem Material während der Lektüre auseinandersetzen. Das ist Arbeit und Vergnügen zugleich.


Fazit

Riku Onda gestaltet in ihrem Roman Die Aosawa-Morde aus den Charakteren und Perspektiven ein organisches Ganzes, angereichert um Beobachtungen – wiederum: Perspektiven - auf die menschliche Conditio. Durch die perspektivischen Verschiebungen wird der mysteriöse Fall im Wortsinn immer wieder neu ausgeleuchtet. In der Summe ergeben sich ein paar begründete Mutmaßungen und begründete Zweifel. Ein exquisiter und vielschichtiger Kriminalroman.


Pro und Kontra

+ formal beeindruckend
+ enthält ein Glossar mit Erklärungen zu japanischen Begriffen

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5

Tags: Japan, Massenmord, Riku Onda, unterschiedliche Perspektiven, japanischer Mystery-Krimi