The Narrows (Ann Petry)

petry narrows

Nagel & Kimche, 2022
Originaltitel: The Narrows (1953)
Übersetzung von Pieke Biermann
Gebunden, 544 Seiten
€ 28,00 [D] | € 28,80 [A] | CHF 39,90
ISBN 978-3-7556-0016-9

Genre: Belletristik


Rezension

The Narrows ist der afro-amerikanische Bezirk der fiktiven Stadt Monmouth in Connecticut, einer überwiegend von Weißen bewohnten Stadt. Der Großteil der Handlung spielt in den Narrows. Abbie Crunch ist eine Witwe mittleren Alters, wohnt in der Dumble Street Nr. 6 und vermietet Zimmer. Sie muss oft an ihren Mann denken, dessen Hut noch auf der Hutablage liegt. Ihr engster Freund ist der Bestatter F.K. (Frances) Jackson. Neue Mieter bei Abbie sind Malcolm Powther, seine Frau Mamie und die gemeinsamen drei Kinder. Malcolm ist seit neun Jahren der Butler von Treadway Hall und einziger Schwarzer (im Roman Farbiger genannt) unter den Beschäftigten. Die Treadways sind als Besitzer einer Rüstungsfabrik die größten Arbeitgeber in Monmouth. Malcolm ist stolz auf seine Anstellung, seine Arbeitgeberin hält viel von ihm. Er ist mit dem weißen Chauffeur Al befreundet.

Mamie singt den Blues, textet auch selbst und ist ihrem Mann untreu. Abbie mag sie nicht. Malcolm will Mamie nicht verlieren, weshalb er sich mit ihrer Untreue arrangiert. Sie weiß allerdings nicht, dass er davon Kenntnis hat. Der jüngste Powther trägt die Initialen J.C. und darf, wenn er älter ist, entscheiden, wofür sie stehen sollen. Schon bald verbringt J.C. viel Zeit mit Abbie, die für ihn immer wichtiger wird.

Lincoln Williams, genannt Link, ist der Adoptivsohn von Abbie. Als er acht Jahre alt war, vernachlässigte Abbie ihn in ihrer Trauer über ihren verstorbenen Mann. In dieser Zeit lebte Link bei Bill Hod in der Bar The Last Chance. Nun ist Link Mitte zwanzig, die Beziehung zwischen beiden ist schwierig. Bill ist für Link eine Vaterfigur, Abbie hasst Bill. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg und dem Collegestudium arbeitet Link in der Bar. Mit Abbie und Bill haben zwei Autoritätspersonen widersprüchlichen Einfluss auf Link. Während einer nebligen Nacht trifft Link auf eine verängstigte Frau auf der Flucht vor der Nachstellung durch den Veteranen Cat Jimmie. Im Halbdunkel hält er sie für eine Schwarze mit blasser Haut. In einer Bar erkennt er dann, dass sie weiß ist.

„Die hat Angst, dachte er. Die ist taub, blöd und blind vor Angst. Die glaubt, ich will sie vergewaltigen. Steht mir doch zu, sie zu vergewaltigen, wenigstens der Versuch, ich bin ja farbig, und es ist festgeschrieben, dass farbige Männer einzig und allein dafür leben, weiße Frauen zu vergewaltigen, vor allem schöne junge weiße Frauen, die sich rumtreiben.“ (S.103f.)

Wochen später beginnen Link und die Frau, die sich Camilo Williams nennt und Camilla Treadway Sheffield heißt, eine Affäre. The Narrows beschreibt den Weg Links, der nach dem Krieg und einer guten Ausbildung sich ein zufriedenes Leben wünscht, aber in eine Abwärtsspirale gerät, als er sich in die weiße Frau verliebt, die aus dem Hause Treadway stammt und mit dem einflussreichen New Yorker Börsenmakler Captain Sheffield unglücklich verheiratet ist. In einer zweiten Abwärtsspirale bewegt sich Camilo.

Der Roman aus dem Jahr 1953 ist die umfangreichste Veröffentlichung von Ann Petry, wurde jedoch nie so populär wie The Street. Der große Umfang geht einher mit einem hohen Grad an Komplexität, sowohl in der Handlung wie auch im personalen Beziehungsgeflecht. Erzählt in der dritten Person Singular, werden wechselnde Perspektiven verwendet, wobei häufig Rückblicke und introspektive Verfahren zum Einsatz kommen. The Narrows ist nicht einfach der Ort, an dem die Handlung situiert ist, sondern ein wichtiger Bestandteil dessen, was über die Menschen erzählt wird. Die Geschichten und ihre Entwicklung sind ohne den Raum nicht denkbar. Der Roman wurde bereits 1955 im Propyläen-Verlag einmal unter dem Titel Link und Camilo veröffentlicht. Angesichts der Bedeutung des Handlungsortes ist der Titel der neuen Übersetzung sicher eine gute Wahl.

Petry erzählt nicht nur von Menschen, die ihrem Leben an diesem Ort Sinn und Perspektive geben wollen, sondern auch von dem Bemühen, Kontrolle über das eigene Narrativ zu erlangen. Hierin wird das alte Problem sichtbar, wer Geschichte, im Großen wie im Kleinen, schreibt. Ein Diskurs, der aktuell relevant ist wie selten zuvor. Abbie reflektiert die Entwicklung von Monmouth, das einmal ein schönerer Ort gewesen sein soll und seit Jahren langsam verkommt. Soziale Desintegration, Alkoholismus, Prostitution gehören zu den Problemen. Links Blick auf die Narrows ist ein ganz anderer. Malcolm Powther wiederum zieht frisch in die Narrows und entwickelt einen eigenen Blick darauf, der mitbestimmt ist durch die Welt der Weißen, in der er arbeitet.

Peter Bullock, der weiße Herausgeber, Eigentümer und Verleger des Monmouth Chronicle, hat seine Zeitung in Richtung eines Mediums entwickelt, in dem er sich als den einflussreichen Weißen gefällig erweist, um seine Position und die Existenz seines Blattes zu sichern. Einen Kontrast bildet der freiberufliche Fotograf Jubine, der Bullock vorwirft, er habe sich an die Herrschenden verkauft, weshalb Bullock ihn als kommunistischen Fotografen bezeichnet. Dessen sozialkritische Bilder will er nicht veröffentlichen, um keine Abonnenten und Anzeigenkunden zu verlieren. Die wechselnden Perspektiven führen letztlich aus verschiedenen Richtungen zu einem Narrativ, in dem die Versuche, eine Gemeinschaft und deren Identität zu entwickeln, deutlich werden.


Fazit

The Narrows erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebesbeziehung zwischen zwei jungen Menschen verschiedener Hautfarbe in Monmouth, Connecticut nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Themen sind Rassismus, Sexismus, Klassismus, Täuschung und Korruption. Während die Geschichte in ihrer Gesamtheit, vor allem durch die Rückblicke, sich über rund zwanzig Jahre erstreckt, beschränkt sich die Gegenwartshandlung auf drei Monate. Die Ereignisse entwickeln sich auf schicksalhaft anmutende Weise der Logik einer Tragödie folgend. Übersetzerin Pieke Biermann erläutert am Ende „einige übersetzerische Entscheidungen“ und hat einen Anhang mit Quellen und Anmerkungen beigefügt.


Pro und Kontra

+ Bild eines Sozialgefüges, das sich aus vielen, auch widersprüchlichen, Teilen zusammensetzt
+ hervorragende Charakterentwicklung
+ emotional berührende Gesellschaftsanalyse
+ schöne Detailbeobachtungen
+ sehr differenzierte Behandlung von -ismen

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5

Tags: Schwarze Autor*innen, Korruption, Rassismus, Sexismus, Klassismus, Gesellschaftskritik