Das Obsidianherz (Ju Honisch)

das obsidianherz

Edition Weltenschreiber (2021)
Taschenbuch, 702 Seiten, 16,90 EUR
ISBN: 978-3944879956

Genre: historische Dark Fantasy


Klappentext

München 1865. Ein magisches Manuskript von ultimativer Zerstörungskraft ist gestohlen worden. Der britische Agent Delacroix erhält den Auftrag, die Schrift aufzuspüren und zurückzubringen, wobei ihm zwei junge bayerische Offiziere sowie ein Magiewissenschaftler hilfreich zur Seite stehen. Doch auch das Böse trachtet in mannigfaltiger Form nach der Macht des Manuskripts, um die Welt in ein Abbild seiner eigenen grausamen Phantasien umzuwandeln.

Nichts von all dem ahnt Miss Corrisande Jarrencourt, eine junge Dame, die in München nur einen wohlsituierten Ehemann sucht. Ins Geschehen hineingezogen muss sie feststellen, dass es auf dieser Welt Dinge gibt, von deren Existenz sie bis dahin nichts ahnte ...


Rezension

Corrisande Jarrencourt reist mit Anstandsdame und Kammerzofe nach Mündchen, um sich einen wohlhabenden Ehemann zu angeln. Im Hotel wird sie Opfer eines mysteriösen Schattens, der sie beinahe verschlungen hätte, wären ihr nicht der britische Agent Delacroix sowie zwei bayrische Offiziere zu Hilfe gekommen. Die Männer halten Corrisande für ein zartes Wesen, das sie unter allen Umständen beschützen wollen – dennoch fassen sie einen gefährlichen Plan, denn die junge Frau eignet sich perfekt als Köder für die Schattenkreatur, die die Männer zu einem gestohlenen Manuskript führen soll. Dieses birgt unvorstellbar große Macht und könnte in den falschen Händen die Welt vernichten. Unterstützung erhalten die Offiziere von einer ehrgeizigen Operndiva und einem Meister der arkanen Künste, während ihre Gegner zunächst im Verborgenen taktieren ...

Bei „Das Obsidianherz“ handelt es sich um den Debütroman von Ju Honisch, für den sie 2009 mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet wurde. In der Edition Weltenschreiber ist nun eine Neuausgabe erschienen, sodass neue Leser*innen in den Genuss dieses facettenreichen, nicht immer einfach zu lesenden Werkes kommen. Tatsächlich kommt ein wenig „Sissi“-Flair auf bei dem detailreich ausgearbeiteten Setting im Mündchen des 19. Jahrhunderts, wobei „Das Obsidianherz“ kaum kitschig, sondern eher unheimlich und vielschichtig ist. Anfangs tut man sich schwer mit der aus heutiger Sicht geschwollenen Ausdrucksweise der Figuren, deren Handlungen und Entscheidungen in ein komplexes gesellschaftliches Regelwerk eingebunden sind. Alle achten nahezu jederzeit darauf, Anstand und Grenzen zu wahren, insbesondere in der Interaktion zwischen Mann und Frau. Das Frauenbild ist entsprechend patriarchalisch geprägt, die höheren Damen gelten den meisten Männern als zerbrechliche Wesen, die Schutz benötigen und natürlich weniger intelligent sind. Da rollen Leserinnen von heute mit den Augen.

Die ersten Kapitel sind anstrengend zu lesen, auch weil die Autorin für ihre vielen Figuren mal den Vor- und mal den Nachnamen verwendet, was schnell unübersichtlich wird – da hilft ein Blick ins Personenverzeichnis. Zudem wirkt Corrisande als weibliche Hauptfigur anfangs unsympathisch, da sie sich für die Gesellschaft verbiegt, um einen möglichst wohlhabenden Gatten für sich zu gewinnen. So sieht man zunächst nur ein klischeehaftes Zerrbild von ihr. Bald zeigen sich jedoch auch andere Seiten der vermeintlich zarten Person, die in Wahrheit eine ausgefuchste Diebin ist und sich durchaus selbst verteidigen kann. Die komplexen Regeln der höheren Gesellschaft beherrscht sie perfekt und verschleiert so ihre wahre Herkunft. Eigentlich strebt sie schlicht nach einem geordneten Leben, doch das Schattenwesen macht ihr einen Strich durch die Rechnung und zwingt sie, immer mehr von ihrer Tarnung aufzugeben.

Colonel Delacroix ist ein grobschlächtiger, sehr fähiger Agent, der sich eher mit Mühe an das hält, was gesellschaftlich akzeptiert und gewünscht ist. Sein Auftrag hat für ihn höchste Priorität und anfangs kann er wenig mit der scheinbar zarten Corrisande anfangen, doch je mehr er von ihren düsteren Seiten sieht, desto mehr interessiert er sich für sie. Leutnant von Orven hingegen ist sofort hin und weg von der jungen Dame und hegt gar Heiratspläne. Er ist der Inbegriff des braven bayrischen Soldaten aus gutem Hause und sehr der Etikette verpflichtet. Leutnant von Görenczy nimmt es da weniger genau, ebenso wie Madame Denglot, der als Opernsängerin ohnehin ein freizügiger Lebensstil nachgesagt wird. Für sie interessiert sich ein äußerst charmanter, aber ebenso gefährlicher Vampir. Hinzu kommen eine Reihe spannender und teils skurriler Nebenfiguren, die das Setting mit Leben füllen. Ju Honisch erfreut die Leserschaft mit vielschichtigen und teils amüsanten Dialogen, in denen die Figuren sich bemühen, nicht viel zu verraten und gleichzeitig viel zu erfahren.

Interessant sind in „Das Obsidianherz“ vor allem die Sí, übernatürliche Wesen wie Vampire, die von den Menschen gefürchtet und verachtet werden und daher im Verborgenen leben. Leider lernen wir nur wenige dieser Wesen kennen: den genannten Vampir, die Nachfahrin einer Nereide, den Schatten, der wahrlich gruseliger Natur ist, und einen finsteren Magier, der an dem Manuskript interessiert ist. Die Sí sind jedoch nicht die einzigen, die Magie beherrschen, auch Menschen nutzen sie. Hinzu kommt eine Gruppe radikaler Mönche, die ebenfalls in den Besitz des Manuskripts kommen wollen und den Sí nach dem Leben trachten. Corrisande gerät zufällig in diesen Konflikt und muss einiges erdulden, doch sie wächst über sich hinaus und zeigt den Männern, zu was eine vermeintlich schwache und zerbrechliche Frau fähig ist.

Die Handlung von „Das Obsidianherz“ konzentriert sich auf das Hotel, das mit so vielen kleinen Details lebendig gemalt wird, das man wenig Sehnsucht nach anderen Schauplätzen verspürt. Der Roman zieht seine Spannung überwiegend aus den Sí sowie den Figuren, die sich bei ihren Nachforschungen gegenseitig behindern und täuschen, weil sie ihre Geheimnisse verteidigen oder schlicht nicht gegen die Etikette verstoßen wollen. Was sich anfangs anstrengend liest, wird immer leichter und atmosphärischer, bis man schließlich völlig im 19. Jahrhundert versunken ist. Auch spürt man immer stärker den unterschwelligen Humor, der in einem höchst amüsanten Schlusskapitel gipfelt und der die Steifigkeit der damaligen Gesellschaft auflockert.


Fazit

Auf „Das Obsidianherz“ muss man sich einlassen. Die steifen und komplexen Regeln der höheren Gesellschaft sind anstrengend, doch Ju Honisch begegnet ihnen zunehmend mit Humor, sodass das Lesen mit jeder Seite genussvoller wird – und so versinkt man bald in der atmosphärischen und unheimlichen Geschichte, in der sich die Figuren gegenseitig das Leben schwer machen, aber auch unerwartete Bündnisse eingehen.


Pro und Contra

+ atmosphärisches Setting im München des 19. Jahrhunderts
+ detailreiche Darstellung des historischen Hintergrunds
+ vielschichtige, interessante Figuren …
+ … die sich gegenseitig durch ihre vielen Geheimnisse behindern
+ Corrisandes Selbstbewusstsein und ihre düsteren Seiten
+ die Sí, insbesondere ein sehr charmanter, gefährlicher Vampir
+ unterschwelliger Humor, der die steifen gesellschaftlichen Regeln reflektiert
+ unterhaltsame und amüsante Dialoge

- Wechsel zwischen Vor- und Nachnamen verwirrt in den ersten Kapiteln
- die heiratswillige Corrisande wirkt anfangs unsympathisch

Wertungsterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Steamfantasy, Ju Honisch, 19. Jahrhundert, Vampire, historische Fantasy, Gothic Novel