Dem Blitz zu nah (Ada Palmer)

Panini Books (März 2022)
Originaltitel: To Like the Lightning
Übersetzerin: Claudia Kern
Taschenbuch
672 Seiten, 19,00 EUR
ISBN: 978-3-8332-4097-3

Genre: Science Fiction


Klappentext

Wir schreiben das Jahr 2454.

Die Menschheit befindet sich in einem hart erkämpften goldenen Zeitalter, in dem Religionen und auch Nationalstaaten keinen Platz mehr haben. Sieben Fraktionen - die sogenannten „Hives“ - regieren nun gemeinsam die Welt, deren Herrschaft durch eine wohlwollende Zensur, statistische Analysen und technologischen Reichtum gestützt wird. Aber das Fundament dieser neuen Welt ist brüchig …

Verurteilt für seine Verbrechen und gefeiert für seine Talente gilt Mycroft Canner als das bevorzugte Instrument einiger der mächtigsten Menschen der Welt. Als er damit beauftragt wird, einen bizarren Diebstahl zu untersuchen, findet er sich auf der Spur einer Verschwörung wieder, die die Weltordnung der Hives in ihren Grundfesten erschüttern könnte.


Rezension

Es gibt Science-Fiction-Romane, in denen Technologien und Setting radikal anders sind als alles, was wir kennen, aber sich soziale Strukturen sehr vertraut anfühlen. „Dem Blitz zu nah“ ist das Gegenteil davon. Zwar gibt es auch hier technologische Neuerungen – so ist es zum Beispiel weit verbreitet, Autos zu nutzen, welche die Entfernung zwischen weit entfernten Ländern trivial machen, und scheint der Klimawandel ein gelöstes Problem zu sein –, aber diese werden nur selten thematisiert. Vielmehr stehen die Gesellschaft und Weltsicht der Figuren im Zentrum. Manchmal jedoch bringen gerade die Science-Fiction-Elemente des Buches auch interessante Fragen ein, zum Beispiel die, ob es akzeptabel ist, die Gehirne von Kindern von Anfang an so zu verändern, dass sie zu übermenschlichen Leistungen in der Lage, aber von vielen Erfahrungen, die durchschnittlichen Menschen offenstehen, abgeschnitten sind.

Die sieben „Hives“, die Nationalstaaten abgelöst haben, wirken gleichzeitig futuristisch, aber je weiter man im Buch fortschreitet, desto mehr erinnert ihre Führungsriege an alte Adelsfamilien, da Charisma, Intrigen und die persönlichen und familiären Verflechtungen der wichtigsten Führungsfiguren die Stabilität des politisches Gefüges stützen oder gefährden. Auch die Einstellung zu Geschlecht und Religion hat sich stark verändert und nicht nur Erzähler Mycroft Canner ist auf die historische Epoche der Aufklärung fixiert.

Keine Figur ist besser geeignet, das Geschehen in den neuen Machtzentren der Welt zu beobachten, als Mycroft. Der verurteilte Verbrecher ist Teil eines Programms, dass ihn zur Arbeit für andere verpflichtet, und all die wichtigen Personen seiner Zeit beziehen ihn in ihre Pläne ein, damit er für sie das Geschehen analysiert. Eifrig und demütig tut Mycroft, was man von ihm erwartet, und wahrt nur ein Geheimnis: Das um das Kind Bridger, das magisch anmutende Fähigkeiten hat.

Mycroft ist ein exzentrischer Erzähler. Er schreibt bewusst im Stil des 18. Jahrhunderts und verweigert sich der geschlechtsneutralen Sprache seiner Zeit (eine allzu klare Kennzeichnung von Figuren als weiblich oder männlich wird als anstößig und sexualisierend wahrgenommen), indem er Figuren Bezeichnungen und Pronomen zuschreibt, die diese selbst nicht benutzen und die wahrscheinlich auch die meisten Lesenden spontan nicht so gewählt hätten. Das lädt zu ein paar interessanten Überlegungen dazu ein, wie die Wahrnehmung von Geschlecht und Rollenzuschreibungen Wahrnehmungen filtern.

Nach und nach erfahren Lesende mehr über das Beziehungsgeflecht der Hives und die Bedrohungen für die Stabilität des politischen Systems, aber viele Fragen, wo genau Fraktionsgrenzen verlaufen und was bestimmte Figuren aneinanderbindet, bleiben offen. In diesem Buch gibt es zahlreiche Antworten ohne Fragen, aber auch wichtig wirkende Enthüllungen, zu denen wiederum die Fragen fehlen. Eine Frage – die, weswegen Mycroft Canner verurteilt wurde und was jetzt seine Motive sind – wird zumindest zum Teil beantwortet, und es ist ein ziemlicher WTF-Moment, als enthüllt wird, was er getan hat.

Viele der Figuren sind sehr einprägsam und wirken teilweise überlebensgroß, weil sie charismatisch oder ungewöhnlich sind. Weil sie sich so klar voneinander abheben, vergisst man trotz des großen Figurenensembles selten, wer wer ist. Allerdings behalten sie auch eine Menge für sich. Einen wirklich tiefen Einblick in ihre Beweggründe gibt es nicht einmal bei Mycroft, da auch der seinem Publikum gegenüber nicht wirklich mit offenen Karten spielt. Das Buch wird nicht langweilig, weil immer irgendetwas passiert und die schrittweise enthüllte Welt an sich interessant zu erkunden ist, aber hat nicht den Sog, den Romane mit einer klareren Richtung für den Plot entwickeln.

Insgesamt ist „Dem Blitz zu nah“ ein ungewöhnlicher und interessanter Roman, der durch seinen unzuverlässigen Erzähler zusätzlichen Reiz gewinnt. Er weckt aber mindestens so viel Verwirrung darüber, was die Ereignisse des ersten Bandes nun zu bedeuten haben, wie er Neugier auf den zweiten Band weckt. Ich kann mir vorstellen, dass es die Sorte Buch ist, mit der Lesende entweder sehr viel oder gar nichts anfangen können. Dass der Roman bewusst in dem Stil eines anderen Zeitalters gehalten ist, sollte Interessierte nicht abschrecken. Er liest sich sehr flüssig und ist auch ein Beispiel dafür, wie ein Text, in dem an vielen Stellen konsequent geschlechtsneutrale Sprache verwendet wird, aussehen kann. Das Buch selbst ist mit seinen Klappen und einer Erklärung der verschiedenen Hives auf der Innenseite des Umschlags ansprechend gestaltet.


Fazit

„Dem Blitz zu nah“ ist ein Science-Fiction-Roman, der so einige kreative Risiken eingeht und ein ungewöhnliches Bild einer Gesellschaft der Zukunft zeichnet – das Setting wirkt einerseits futuristisch, zugleich mutet das Ganze ein wenig wie ein historischer Roman über Adelsframilien an. Ada Palmers „Erzählung der Ereignisse aus dem Jahr 2454“ ist ungewöhnlich und interessant, aber verwirrt und überwältigt auch oftmals durch die Fülle an Figuren und sich überkreuzenden Subplots und Konflikten, in denen die Fronten und Absichten einiger wichtiger Figuren teilweise unklar bleiben. Zumindest noch in diesem ersten Band der Terra-Ignota-Reihe werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Mit dem Protagonisten und Ich-Erzähler Mycroft Canner hat das Buch eine ungewöhnliche Hauptfigur, durch deren Bericht der Großteil des Geschehens gefiltert wird.


Pro und Contra

+ Viele spannende Fragen
+ Viel Aufmerksamkeit für die kulturelle und soziale Dimension des Settings
+ Originell
+ Einprägsame Figuren und Ereignisse

- Insgesamt relativ verwirrend

Wertung:

Handlung: 3,5/5
Figuren: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis-Leistung: 4/5

Tags: Ada Palmer