Anika Beer (29.09.2022)

Interview mit Anika Beer

anika beer2022Literatopia: Hallo, Anika! Ende September erscheint Dein neuer SF-Roman „Succession Game“ bei Piper. Was erwartet die Leser*innen im Jahr 2054?

Anika Beer: Hallo Judith, und erstmal vielen Dank für die Einladung zum Interview! Was Euch in meinem Roman erwartet …? In Kurzform: Vegane Pfannkuchen! Ja, wirklich. Oder, etwas ausführlicher gefasst: Vordergründig eine coole, actionreiche, manchmal witzige aber oft auch recht traurige und dann wieder hoffnungsvolle Geschichte über außergewöhnliche Menschen, die die Welt alle auf ihre Weise ein bisschen besser machen wollen. Und natürlich eine bombastische Gameshow, die nur von außen shiny und flashy, in Wahrheit aber alles andere als ein harmloser Spaß ist. Hintergründig habe ich allerdings auch über viele aktuelle gesellschaftliche Probleme nachgedacht, wie die sich wohl in näherer Zukunft entwickeln werden, und wo wir in knapp 30 Jahren stehen könnten, und daraus mein Setting für diese Menschen – und das GAME – gebaut.

Literatopia: Wie sieht die Welt in Deiner Zukunftsvision aus? Wie hat der Klimawandel sie verändert? Und inwiefern haben sich die Menschen angepasst – oder auch nicht?

Anika Beer: Wenn man sich die klimatisch bedingten Veränderungen der letzten Jahre so anschaut, braucht es gar nicht so viel Fantasie, um sich vorzustellen, wohin sich das alles weiter entwickeln könnte – und wahrscheinlich auch wird, wenn wir ehrlich sind. Daher war klar, dass die Auswirkungen des Klimawandels einen festen Platz in meinem Setting brauchen, selbst wenn es in der eigentlichen Handlung des Romans darum gar nicht geht. 2054 ist der Klimawandel auch in Europa schon sehr viel deutlicher zu spüren als jetzt. Durch Unwetter, Dürren und Überschwemmungen sind etliche Regionen nur noch schlecht bis gar nicht mehr bewohnbar, weshalb die verbleibenden habitablen Zonen viel dichter besiedelt werden müssen als zuvor. Und das bestenfalls natürlich auch noch möglichst emissionsarm!

Aus diesem Grund wurden etliche einstige Metropolen wie Berlin, Paris oder Helsinki sozusagen neu konzipiert und nach sogenannten NeoEco-Architekturrichtlinien umgestaltet – was bedeutet, es wurden ganze Stadtviertel neu gebaut, und zwar aus geupcyceltem Schrott, mit vertikaler Fassadenbegrünung und weitestgehend energie- und wasserselbstversorgend. Auf der anderen Seite wurde die Produktion materieller Luxusgüter streng reglementiert, weshalb die Menschen nun also auf engstem Raum in weitgehend nackten Kompartments hausen, die ihnen von der Zentralverwaltung der Ballungsräume zugewiesen werden. Das hört sich erstmal recht trist und deprimierend an, aber zum Glück gibt es ja Augmented Reality Programme, die es leicht machen, sich diese reizarme bis trostlose Umwelt etwas aufzupeppen.

Literatopia: Augmented Reality ist in Deiner Zukunft Alltag. Wie können wir uns das konkret vorstellen? Und gibt es auch Menschen, die sich der Technologie entziehen?

Anika Beer: Eigentlich ist das gar nicht so viel anders als heute: Die digitalen Kommunikationsmittel begleiten die Menschen inzwischen einfach überall hin. Nur, da Augmentationen, also digitale Ergänzungen und Filter für das reale Umfeld, so allgegenwärtig und zum Teil auch sehr wichtig für das subjektive Wohlbefinden geworden sind, reichen Smartphones nicht mehr aus. Sie sind ergänzt worden durch Cyberbrillen, die inzwischen so gut wie alle jederzeit tragen, sodass man nicht nur seine Augmentationen, sondern auch sein Display quasi ununterbrochen vor Augen hat. Ergänzt mit einem Audiomodul für Telefonate und Sprachnachrichten, sowie leicht zu koppelnden externen Displays jeder Art, sind sowohl die Augmentationen als auch die ebenfalls noch immer sehr mächtigen sozialen Netzwerke und das inzwischen größtenteils privatisierte Internet jederzeit erreichbar. Es ist einfach das neue Normal in den 2050ern.

Trotzdem gibt es selbstverständlich Abstufungen, wie intensiv diese Technologie genutzt wird. Gerade in den älteren Generationen (aber natürlich nicht nur da) gibt es etliche, die eben nicht sozusagen mit der Cyberbrille auf der Nase und dem Tablet in der Hand geboren wurden, und denen es einfach zu viel ist, jederzeit mit allen möglichen Profilinformationen über ihre Mitmenschen zugeschmissen zu werden. Und die Probleme mit der Digitalisierung sind ja auch immer noch dieselben wie heute: Je komfortabler das Nutzungserlebnis, desto mehr Daten muss man über sich preisgeben. Und die gesundheitlichen Bedenken sind – gelinde gesagt auch noch nicht so ganz vom Tisch. Sicher gibt es also auch komplette Verweigerer und Aussteiger. Von denen treffen wir in „Succession Game“ allerdings keine, obwohl es definitiv interessant wäre, über sie zu schreiben. Eines Tages vielleicht. ;)

Literatopia: Würdest Du uns etwas mehr über die Spielmechanik des Succession Game verraten? Was macht das Spiel so erfolgreich – und gefährlich?

Anika Beer: Das Succession Game an sich ist im Grunde ein eher klassisches Konzept: Escape Room trifft Elimination Game. Es findet im sogenannten GAME SHIP statt – ein gewaltiger mehrstöckiger Escape Cube, bestehend aus mehreren Stages, die jeweils verschiedene Aufgaben, Minigames und Escape Rooms beinhalten. Auf jede Stage folgt eine Elimination, bei der ein_e oder mehrere Teilnehmende ausscheiden, bis am Ende nur eine Persona übrigbleibt und den Titel „Successor“, das Preisgeld sowie die Option auf die Teilnahme an einer weiteren Staffel gewinnt.

Was das Spiel aber so besonders und spannend macht, ist für die Teilnehmenden die Chance, sich selbst für ein paar Tage in die coolestmögliche Version ihrer selbst zu verwandeln. Du willst ein Donnergott sein und Elektrizität beherrschen? Kein Problem. Eine Spinne, die senkrechte Wände ohne Kletterhilfen besteigen kann? Nichts leichter als das. Oder ein Magical Girl, das Mondsteine wirft, um Feinde zu besiegen? Warum nicht, wir müssen nur aufpassen mit dem Copyright! Es bleibt natürlich ein Betriebsgeheimnis, wie genau die kreativen Köpfe hinter dem Game all diese Effekte so realistisch umgesetzt bekommen – Fakt ist, es funktioniert, und so ist die Teilnahme am Succession Game auch abseits des fetten Geldpreises ein Traum für viele.

Jede Staffel hat außerdem durch die sich jährlich verändernden Setting-Themes einen ganz neuen, eigenen Charme und Reiz. Und das nicht nur für die Teilnehmenden, sondern auch für die Millionen Fans, die das Game online verfolgen. Succession Game ist ein zur Kernzeit von 10-17 Uhr täglich live streambares Spiel, die restlichen Stunden werden in Best-of-Videos zusammengefasst und im dEEp.net Streamingdienst zur Verfügung gestellt. Im Livestream ist es außerdem möglich, zwischen den 1st Person Cams der Teilnehmenden zu wechseln und sozusagen durch die Augen der eigenen Favorit_innen das Spiel zu verfolgen. Das bindet die Fans, und vor allem ist es natürlich perfekt in den digitalen Alltag integrierbar. So hat das Game in den mittlerweile 12 Jahren seit seiner Erstausstrahlung immer nur noch an Popularität gewonnen.

Was an der ganzen Sache allerdings gern verschwiegen oder verdrängt wird: Um die gewählte Game-Persona anzunehmen, werden den Teilnehmenden unter anderem stark neuroaffektive, also die Hirnchemie beeinflussende Substanzen injiziert, die keinesfalls ganz unbedenklich sind. Kritiker_innen gehen sogar so weit zu sagen, das GAME und die dahinter stehenden Konzerne würden die Teilnehmenden für höchstens halblegale Menschenexperimente missbrauchen. Natürlich dementieren die Verantwortlichen diese Anschuldigungen konsequent, und es ist auch noch kein Fall bekannt, in dem tatsächlich jemand bleibenden Schaden erlitten hätte …

anika beer20222Literatopia: Erzähl uns etwas mehr über Deine Protagonistin Clue. Auf Instagram schreibst Du, sie hätte Probleme mit dem „neurochemischen Personality Forming“ – würdest Du uns das näher erläutern? Und was macht sie so „super badass“?

Anika Beer: Da muss ich etwas ausholen und erstmal die Personality Former selbst erklären: Um den Teilnehmenden ein möglichst ganzheitliches, authentisches Spielerlebnis als ihre selbstgewählte Persona zu bieten, werden an ihnen nicht nur Äußerlichkeiten per Augmentation verändert. Der Pharmariese Asgard Pharmaceutics hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich die Teilnehmenden eine neue Persönlichkeit mit Hilfe der oben erwähnten neuroaffektiven Substanzen – den sogenannten Neuroforming Transmitters (NfT) sozusagen per Knopfdruck injizieren können (und für den Spielfortschritt auch regelmäßig müssen, denn die Wirkung hält nur ca. 24h an). Die Spielpersona ist also eine Kombination aus einem hochkomplexen Computerprogramm, abgestimmt auf die spielrelevante Hardware wie Cyberbrille, Sensorhandschuhe etc. – und einem neurochemischen Cocktail, der in den Hirnen der Teilnehmenden vorübergehend falsche Erinnerungen und gemäßigte Persönlichkeitsveränderungen bewirkt.

Grundsätzlich sind diese NfT gesundheitsrechtlich geprüft und zugelassen, und ein kompetentes medizinisches Team ist für durchgehendes Gesundheitsmonitoring der Teilnehmenden vor Ort. Dennoch vertragen nicht alle die Injektionen gleich gut, und bei Clue scheint es besonders deutliche Schwierigkeiten zu geben. Sie hat schwere Gedächtnisprobleme, vor allem wenn es darum geht, auf Informationen zuzugreifen, die nicht Teil der Spielpersona sind. Kurzum: Sie weiß nicht, welche Erinnerungen ihre eigenen sind – und wer sie außerhalb des Spiels eigentlich ist. Innerhalb des Spiels allerdings mausert sie sich trotzdem schon bald zu einer der Top-Favoritinnen, und das obwohl sie im Vergleich zu den anderen eigentlich eine eher unauffällige Erscheinung darstellt. Als Privatdetektivin ist sie aber exzellent im Kombinieren und Rätseln und durchschaut andere Menschen sehr schnell – nur mit sich selbst hat sie eben Probleme.

Literatopia: Stellst uns die anderen handlungsrelevanten Figuren kurz vor? Und mit welcher Figur hattest Du persönlich am meisten Spaß beim Schreiben?

Anika Beer: Dadurch, dass die Geschichte sowohl innerhalb als auch außerhalb des Spiels erzählt wird, hat „Succession Game“ einen sehr großen Cast, von denen tatsächlich beinahe alle handlungsrelevant sind. Daher beschränke ich mich hier auf die wichtigsten.

Im Spiel ist das neben Clue natürlich vor allem Théo – der amtierende viermalige Champion Successor, seines Zeichens notorischer Gefahrensucher und viel zu liebenswerter Troublemaker mit gehässigem Mundwerk. Seine Erfolgsstrategie ist es, sich mit den Top-Favorit_innen der Staffel zu verbünden und darauf zu pokern, dass sie ihn am Ende gewinnen lassen. Bisher hat das immer ganz gut geklappt – die Frage ist, ob es ihm bei Clue auch gelingen kann, wenn sie ihn doch sofort durchschaut …? Aber auch Quentin, der grimmige Wolfsmensch, oder Piri „the Unpredictable“ nehmen unverzichtbare Schlüsselrollen im Verlauf des GAMEs ein.

Auf der „draußen“-Seite wären als wichtige Figuren vor allem Arc und Lucille zu nennen, zwei Hacker_innen des legendären Syndikats CORE, die sich vorgenommen haben, das GAME mit einem Virus zu infizieren, um es zu crashen. Und dann ist da noch Dr. Rafael Álvarez, der in dieser Staffel zum ersten Mal die Leitung des medizinischen Teams übernimmt, das im GAME den Gesundheitszustand der Teilnehmenden überwacht. Rafael steht durch dramatische emotionale Verwicklungen in der Vergangenheit moralisch in der Schuld des Succession Game Erfinders Eduard Engel, und seine Affäre mit der bisherigen medizinischen Leiterin Lynn hilft ihm dabei nicht gerade weiter. Doch er merkt schon bald, dass er manipuliert werden soll und Eduard und Lynn ihm wichtige Details über die wahre Natur des GAMEs verschweigen. Rafael aber will eigenständige, menschenwürdige Entscheidungen treffen, und dafür holt er sich Hilfe – und zwar von Leuten, die nicht für Eduard und Lynn arbeiten.

Mit wem ich beim Schreiben am meisten Spaß hatte, ist gar nicht so leicht zu sagen. Der Spaß entsteht ja meist aus der Interaktion zwischen den Figuren, und in „Succession Game“ hatte ich das große Glück, sehr viele sehr unterhaltsame Figurenkonstellationen zu haben. Eigentlich hat fast jede Szene Passagen, die ich besonders mag. Wenn ich mich aber entscheiden müsste, würde ich Arc nehmen, weil ich seinen trockenen, bissigen Humor einfach unglaublich mag. Er funktioniert einfach mit allen anderen Figuren gut, auf seine Weise.

Literatopia: Was fasziniert Dich persönlich an Science Fiction? Und was war Deine Einstiegsdroge ins Genre?

Anika Beer: Es gibt vieles, das ich an Science Fiction mag – vor allem ist es aber die besondere Plausibilität des Fiktiven, glaube ich. Natürlich trifft das in gewissem Rahmen auf eigentlich alle Genres zu. Aber in der SF, insbesondere in der Near Future SF, empfinde ich es besonders stark, dass sich aktuelle, reale Themen und Sachverhalte so akribisch durchrecherchieren lassen, dass sich daraus sehr plausibel klingende, naheliegende Fiktion konstruieren lässt. Es macht mir großen Spaß, mir beispielsweise einen bislang unbekannten Endosymbionten auszudenken, der sich in menschlichen Gewebezellen einnistet, dort sozusagen als Untermieter lebt und im Gegenzug für unseren Organismus nützliche Proteine synthetisiert. Es gibt ihn nicht, aber wenn es ihn gäbe, dann könnte das durchaus so funktionieren.

Oder eben Szenarien wie den Klimawandel mit echten Modellen in die Zukunft zu denken und dann zu überlegen „Wie könnte es in 30 Jahren gemäß dieser Prognosen hier aussehen?“ Eine ganze Welt zu erfinden, die zugleich aber auch Realität sein oder werden könnte unter den richtigen Voraussetzungen, hat für mich einen ganz besonderen Reiz. Deswegen sage ich auch lieber, dass ich Biopunk schreibe als Science Fiction, weil sich die meisten unter SF einfach etwas anderes vorstellen als das, was ich mache. Ich muss auch zugeben, dass ich selbst gar nicht so viel Science Fiction lese. Was mich dazu gebracht hat, diese Art Geschichten erzählen zu wollen, war tatsächlich mein neurobiologisches Studium. Die naturwissenschaftliche Art zu denken liegt mir einfach sehr und passt auch zu der Art, wie ich erzählen und zugleich hoffentlich auch erklären und zum Nachdenken anregen möchte.

Literatopia: Wie viel Recherche steckt in Deinen Büchern? Wie gehst Du vor? Und hast Du bei der Recherche für einen Roman auch schon mal Ideen für ganz neue Bücher gehabt?

Anika Beer: Ich recherchiere immer sehr viel, wahrscheinlich viel mehr als ich müsste, deshalb brauche ich für meine Bücher auch immer so lange. Ein Beispiel aus dem Projekt, an dem ich gerade schreibe: Es ist vermutlich nicht unbedingt nötig, sich zweistündige Dokumentationen über die Geschichte der Harmonika in Indien und deren Einfluss auf traditionelle indische Musik anzusehen, weil in einer einzelnen Szene eine der Nebenfiguren ein Instrumentenbauer sein soll, der in einer größeren Gesprächsrunde etwa zwei bis fünf Sätze mit der Hauptfigur wechselt. Aber so sind meine Ansprüche an mich selbst, ich will dass sich alles authentisch anfühlt, und deshalb muss ich zumindest eine Ahnung davon haben, wie es ist, sich mit jemandem zu unterhalten, der wirklich genau über dieses Thema Bescheid weiß. Wie viel dieser Recherche dann auch tatsächlich im Buch steckt – das ist der Kniff bei der Sache. Ich denke, die größte Herausforderung für Recherchepedant_innen wie mich ist es, auszuwählen, welche Details ins Buch gehören und welche es überladen. Zum Glück gibt es Lektor_innen, die dabei helfen!

Ob ich bei der Recherche für ein Buch schon mal für ein ganz anderes Projekt inspiriert worden bin, kann ich jetzt gar nicht so genau sagen. Vermutlich schon, aber Ideen sind bei mir eigentlich nie so ganz plötzlich da. Sie springen mich nicht an, sie kommen mehr so leise und schleichend, meistens zuerst mit den Figuren, die in diese Geschichte gehören. Und wenn die erst da sind, fange ich an zu überlegen, in was für ein Setting sie passen könnten, und mir fallen verschiedene Sachen aus meinen Recherchen wieder ein. Aber so einen richtigen Flash of Inspiration hatte ich beim Recherchieren noch nicht so wirklich.

Literatopia: Wie organisierst Du Dich beim Schreiben? Plottest Du vor dem Schreiben den kompletten Roman Kapitel für Kapitel durch oder machst Du nur einen groben Entwurf und schreibst drauf los?

Anika Beer: Weder noch. Oder auch beides. Meist weiß ich ziemlich genau, wie die Geschichte losgeht und kann auch ziemlich genau die Szenen für die ersten ca. 100 Seiten planen. Die schreibe ich dann, und gleichzeitig „erschreibe“ ich mir damit auch mehr Details, mehr Hintergründe und wichtige Nebenfiguren. Wenn ich dann bei S. 100 angekommen bin, ist das meist so viel, dass ich zwar wieder weiß wie es weitergehen soll – aber dass die Seiten, die ich bis dorthin geschrieben habe, gar nicht mehr wirklich dazu passen. Also schreibe ich erstmal die ersten hundert nochmal gründlich um, damit ich dann die dazu passenden nächsten hundert Seiten schreiben kann. Und dann dasselbe Spiel nochmal. So arbeite ich mich Stück für Stück durch den Roman, plane und schmeiße wieder um, und irgendwann fällt mir dann meistens auch ein, wie es endet.

Literatopia: Du bist auch als Lektorin tätig. Würdest Du sagen, dass Du durch die Arbeit an Texten anderer auch etwas für Deine Bücher lernst?

euphoriacityAnika Beer: Absolut. Vor allem, weil ich meist in einem Genre lektoriere, das von meiner eigenen Erzählweise denkbar weit weg ist: New Adult Romance. Das lese ich privat überhaupt nicht, was aber nicht heißt, dass ich es nicht mag und die Skills dieser Autor_innen nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil! Die Entwicklung einer so intensiven Nähe zwischen Figuren zu beschreiben ist etwas, woran es bei meinen eigenen Texten manchmal durchaus hapert, und ich habe durch meine Arbeit an den Romance-Büchern viel Handwerkliches dazugewonnen, was das angeht. Aber auch davon abgesehen schult es natürlich den Blick auf die eigenen Texte, wenn man sich viel mit der Analyse von Erzählstruktur, Tempo, Sprachmelodie und -rhythmus oder auch dem Erkennen schädlicher Tropes oder diskriminierender Sprache beschäftigt.

Literatopia: Du engagierst Dich für den sensiblen, gewalt- und diskriminierungsfreien Gebrauch von Sprache – in den Social Media erlebt man leider oft das Gegenteil davon. Wie geht am besten mit Menschen um, die im Netz Hass verbreiten?

Anika Beer: Dafür gibt es wohl kein Patentrezept, es spielt ja auch eine Rolle, ob ich nun selbst betroffen bin oder mich für andere einsetzen möchte, die für etwas diskriminiert werden, das mich selbst nicht betrifft. Zivilcourage ist wichtig. Solidarität, damit die Betroffenen ihre Kämpfe nicht allein kämpfen müssen. Aber man darf auch nicht vergessen, dass echte Hater sich von konträren Positionen nicht umstimmen lassen werden. Man sollte also nicht mit dem Anspruch antreten, Einsicht der direkten Gegenseite erzwingen zu wollen, denn das wird sehr wahrscheinlich bestenfalls in Frust enden. Wichtig ist Einspruch aber trotzdem, denn: Es lesen ja viele unsichtbare Personen mit. Die, die vielleicht noch irgendwo dazwischen stehen oder sich noch nicht viel mit dem Thema beschäftigt haben. Oder die, die ebenfalls betroffen sind, und für die es wichtig ist zu sehen: Da steht jemand auf unserer Seite. Nie verkehrt: Blocken, was mir schadet. Ich lese im Netz vieles, das ich nicht unkommentiert stehenlassen kann – das kommentiere ich dann auch und blocke im Anschluss, wenn ich merke, da ist kein Konsens zu erzielen.

Literatopia: Was können wir alle tun, um sensibler und diskriminierungsfrei miteinander umzugehen?

Anika Beer: Es gibt vieles, was wir tun können. Auf allen möglichen Ebenen. Es ist natürlich in der Hinsicht immer wichtig anzuerkennen, dass nicht alle dieselben Ressourcen haben, um sich zu informieren, zu lernen und sich zu engagieren. Ich persönlich sehe es einfach als meine Verantwortung, als Mensch, der mit Sprache arbeitet – mit Texten zumal, die oft ein breites Publikum ungefiltert erreichen – mich da bestmöglich weiterzubilden. Nicht nur, was den Sprachgebrauch an sich angeht, sondern auch über die Hintergründe. Wie sind marginalisierende Strukturen entstanden, und was davon ist noch in unserem Alltag vorhanden, selbst wenn wir es nicht bewusst wahrnehmen (Spoiler: viel!) Das ist Teil meines Jobs, aber ich erwarte das nicht in dem Umfang von anderen.

Grundsätzlich denke ich, ein offenes Ohr und die Bereitschaft, uns selbst zu reflektieren und anzuerkennen, dass wir in einem Umfeld voller diskriminierender Machtstrukturen aufgewachsen sind, ist eine gute Basis für alles Weitere, weil wir uns nur dann davon lösen können, Kritik an unseren Worten oder Taten als persönlichen Angriff aufzunehmen. Ich behaupte mal: Die wenigsten wollen diskriminieren (und mit denen, die es wollen, ist ohnehin schwer eine konstruktive Diskussion zu führen). Aber gerade weil es so unterbewusst passiert, ist es wichtig, dass wir darauf hingewiesen werden. Das müssen wir uns klarmachen. Wir können nicht weniger diskriminierend werden, ohne Kritik. Das ist natürlich nicht angenehm, aber nur wenn wir das aushalten, haben wir eine Basis, auf der wir uns fragen können: Was bedeutet es eigentlich, was ich da gerade sage oder tue? Möchte ich das wirklich? Oder möchte ich mein Gegenüber wie den wertgeschätzten, gleichwertig respektierten Menschen behandeln, als den ich ihn doch eigentlich sehe?

Es ist ein bisschen ein Balanceakt, und er gelingt nicht immer gleich gut. Aber ich denke, der Schlüssel ist das grundsätzliche Mindset. Und immer wieder die Bereitschaft, zuzuhören und sich selbst zu reflektieren.

Literatopia: Hast Du abschließend ein paar Lesetipps für uns? Welche Bücher haben Dich zuletzt richtig begeistert?

Anika Beer: Zwei Bücher, die mich dieses Jahr richtig abgeholt haben und die ich wirklich allen ans Herz legen möchte sind „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ von C Pam Zhang und „Iron Widow“ von Xiran Jay Zhao. Beides sehr starke, progressive Geschichten mit sehr beeindruckenden Figuren, auch wenn die Bücher in ihrer Art sehr unterschiedlich sind.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!


Fotos: Copyright by Anika Beer

Website der Autorin: https://anikabeer.de/


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.