Der Sturm des Jahrhunderts. Originaldrehbuch (Stephen King)

king sturm

Heyne, 1999
Originaltitel: Storm of the Century (1999)
Übersetzung von Peter Robert
Taschenbuch, 477 Seiten
ISBN 978-3-453-15793-4

Genre: Horror, Mystery


Rezension

Stephen Kings Storm of the Century wurde exklusiv als Drehbuch für das Network The American Broadcasting Company (ABC) geschrieben und von Craig R. Baxley 1999 verfilmt. Die Miniserie hatte im Jahr 2000 Premiere im deutschen Fernsehen. Aufgrund der Exklusivität durfte King die Geschichte nicht in Romanform bringen. Deshalb veröffentlichte er das Drehbuch, das in Übersetzung von Peter Robert 1999 als Der Sturm des Jahrhunderts. Originaldrehbuch bei Heyne erschien.

Die Haupthandlung bestimmt den größten Teil der Erzählung und spielt in einer abgeschiedenen kleinen Gemeinde auf einer Insel vor Maine. Erzählt wird rückblickend aus 1998 von einem großen Sturm, der 1989 über die Little Tall Island hereinbrach. Die Vorläufer des Sturms bringen eine ganz andere Bedrohung mit sich, einen mysteriösen Fremden, der scheinbar grundlos und ohne Skrupel eine alte Frau ermordet. Der Fremde, er nennt sich Andre Linoge, wird verhaftet und an den Inselbewohnern und -bewohnerinnen vorbeigeführt. Aber das ist von ihm beabsichtigt.

Seine Macht scheint grenzenlos, seine tatsächliche Identität wird im Lauf der Handlung offengelegt. Linoge kennt alle Menschen auf der Insel, er verrät ihre dunkelsten Geheimnisse. Litaneiartig fordert er: „Gebt mir was ich will und ich verschwinde“. Aber niemand weiß, was er will. Mike Anderson, Polizist und Inhaber des Lebensmittelgeschäfts, versucht dies herauszufinden. Nach und nach zeigen die Menschen ihr wahres Gesicht, wollen auch vor Mord nicht haltmachen. Little Tall Island erweist sich schon bald als Scheinidylle. Das vordergründige moralische Verhalten und die Verschwiegenheit der Menschen sind notwendig, weil davon das gesellschaftliche Überleben in der kleinen Gemeinde abhängt.

Die Geschichte misst aus, wie eine funktionierende Gemeinde mit einer existenziellen Bedrohung umgeht. Das Ergebnis ist düster. Die Entscheidung, die sie treffen, ist unerträglich. Aber sie haben die freie Wahl. Linoge zwingt sie zu nichts, holt nur das Böse aus ihnen heraus, das bereits in ihnen steckt. Die idyllische Gemeinschaft, die nur innerhalb eines engen Korridors zusammenhält, erweist sich als soziales Konstrukt, das nur funktioniert, solange der Korridor nicht verlassen wird. Sie ist ein fragiles Gebilde, das, auf die Probe gestellt, sich gegen das Individuum richtet und es aus der Gemeinschaft ausschließt.

Als der Sturm vorbei und Linoge verschwunden ist, kehren die Menschen zur Tagesordnung zurück. Es gibt menschlichen Abrieb, doch der bewegt sich im Bereich des Erwartbaren: ein Selbstmord, eine Scheidung, die Frau, die es besonders hart getroffen hat, zieht sich in eine Phantasiewelt zurück. Die meisten Menschen aber zeigen, dass sie mit den Folgen ihrer Tat gut weiterleben können. Mike verlässt die Insel und begibt sich in die Anonymität der Großstadt.

Stephen King zeichnet in Der Sturm des Jahrhunderts ein pessimistisches Bild der Menschen und der Gesellschaft, denn die meisten Inselbewohner*innen sind bereit, einen hohen moralischen Preis zu zahlen. Als Leser*in muss man schon bereit sein, sich auf die Lektüre eines Drehbuchs einzulassen. Es folgt formal den Konventionen des Horrorfilms, greift klassische Genrebilder und -motive auf, arbeitet mit standardisierten Klischees, vor allem im Finale.

Das Drehbuch enthält natürlich eine Vielzahl von Referenzen auf King und sein Werk. Am auffälligsten dürften die vielen Hinweise auf In einer kleinen Stadt sein. In diese Stadt kommt ebenfalls ein mächtiger und mysteriöser Fremder mit Programm, der die verborgenen Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste der Bürger*innen kennt. In einer kleinen Stadt und Der Sturm des Jahrhunderts verwenden beide viel Zeit darauf, den Handlungsort und die Menschen in ihrem Alltag zu zeigen.

Weiter ist ein Buch, aus dem Kindern vorgelesen wird, das Lieblingsbuch von Danny Torrance aus The Shining. Little Tall Island dient als Schauplatz von Kings Dolores, auf die es auch einen Bezug im Text gibt. Eine weitere Verbindung gibt es zum Roman Das schwarze Haus, den King mit Peter Straub schrieb. Vielleicht ist Der Sturm des Jahrhunderts nicht so sehr eine Horrorgeschichte, mehr noch ein Mystery-Thriller mit starkem Einschlag in das Religiöse und Übernatürliche.


Fazit

Stephen King erzählt in Der Sturm des Jahrhunderts die Geschichte eines Konflikts zwischen einer Inselgemeinde und einem diabolischen mysteriösen Fremden, der eine furchtbare Forderung an die Menschen stellt. King arbeitet offen mit einer Vielzahl von Selbstreferenzen. Obwohl der Text ein Drehbuch ist, lässt er sich gut lesen, weil er nicht strengen Drehbuchanforderungen folgt, sondern einiges mehr an Informationen liefert, dies aber auf eine leicht distanzierte Weise. Interessant ist, dass und wie alles in so kurzer Zeit auf engem Raum geschieht.


Pro und Kontra

+ übernatürlicher Horror mit Verwandtschaft zu In einer kleinen Stadt
+ hervorragend entworfener Antagonist
+ gute Studie über Sozialverhalten und Entscheidungsfreiheit

o arbeitet mit einigen Klischees

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Kleinstadtgeschichten, Horror, Stephen King, Mystery