Interview mit Jol Rosenberg
Literatopia: Hallo, Jol! Im Herbst erscheint Dein SF-Roman „Das Geflecht – An der Grenze“ im Verlag ohne ohren. Was erwartet die Leser*innen auf der Welt „Rusal“?
Jol Rosenberg: Lesende entdecken die Welt zusammen mit den perspektivtragenden Charakteren. Die Hauptfigur Danyla führt in den Teil Rusals ein, der im Urwald spielt, eine kritische Utopie mit Gruppen von Personen (den einheimischen Surai), die im Einklang mit der Natur leben.
Die Nebenfigur Raswin steht für die einheimischen Kalok, auch das ist eine gelebte kritische Utopie, aber eine ganz andere Form des Einklangs. Surai und Kalok spüren einander und ihren Planeten und so bemühen sie sich, mit dem Planeten zu leben, nicht gegen ihn.
Und dann gibt es die Terraner, Neuankömmlinge, für die Pako steht, ein Mann, der es gewöhnt ist, sich alles mit Hilfe von Technik fügsam zu machen. Natürlich gibt es da Konflikte und natürlich ist einiges anders, als es zunächst erscheint.
Literatopia: Erzähl uns mehr über Dein Worldbuilding – wie sieht es auf Rusal aus? Welche Spezies leben dort?
Jol Rosenberg: Im Roman kommen im Wesentlichen drei verschiedene Regionen von Rusal vor. Da gibt es die Berge, eine eher karge Hochgebirgslandschaft, die Wüste, Hinterlassenschaft eines schrecklichen Krieges, und den Urwald, eine Region voller Leben. Am Rand gibt es auch eine steppenartige Landschaft, aber die spielt nicht so eine große Rolle.
Neben den bereits benannten Spezies der Surai, Kalok und Terraner gibt es noch eine Boganerin, Kiral, die mit den Menschen zusammengekommen ist. Das Worldbuilding kann ich auf zwei große Sphären beziehen: Da gibt es Rusal und die dort lebenden Spezies mit ihrer Geschichte, den Nachwirkungen eines verheerenden Krieges und einiger Fehlentscheidungen in der Vergangenheit. Aber auch einer Menge Gutem, was daraus entstehen konnte. Und da gibt es die Terraner und Boganer, die aus einer sehr kapitalistisch strukturierten Welt kommen. Die Surai und Kalok haben gar kein Konzept von Geld, für die Terraner ist Geld zentral. Ich will nicht zu viel vom Hintergrund verraten, der Weltenbau ist umfangreich und nicht alles, was ich darüber weiß, spielt im Roman eine Rolle. Da gibt es Einiges zu entdecken.
Literatopia: Was hat es mit dem Geflecht auf sich? Die Leseprobe erinnert etwas an „Das Wort für Welt ist Wald“ und „Avatar“ …
Jol Rosenberg: Ja, „Avatar“ ist eine Assoziation, die viele dazu haben. Die Idee hatte ich, bevor der Film in die Kinos kam und ich war ziemlich geflasht davon, dass da jemandem etwas so Ähnliches eingefallen war. Es gibt eben wenig, was wirklich neu ist. Aber natürlich ist es auch nicht genauso wie im Film. Das Geflecht ist ein Sinn, den die Surai und Kalok haben. Er verbindet sie mit allen Lebewesen auf Rusal und dem Planeten an sich und er ermöglicht den Surai, andere Lebewesen zu spüren und zu beeinflussen. Die Kalok können das in noch viel stärkerem Maße – so sehr, dass sie eigene Technologien daraus entwickelt haben. Ich habe mich damit beschäftigt, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn wir einander und unsere Umwelt viel intensiver spüren könnten. Welche Verbindungen entstehen, welche Werte – und da ist es dann auch sehr anders als in „Avatar“, wo es ja viele Fantasy-Anteile gibt. Die gibt es bei mir viel weniger.
Literatopia: Welche Rolle spielt die Botanik auf Rusal? Sind die Surai und Kalok auch mit Pflanzen verbunden?
Jol Rosenberg: Ja, sie sind auch mit Pflanzen verbunden. Sie erleben sie als Wesen mit eigenem Willen. Das sorgt natürlich für einen anderen Umgang mit Pflanzen.
Literatopia: Würdest Du uns Deine Protagonistin Danyla kurz vorstellen? Was zeichnet ihren Charakter aus? Und welche Stellung hat sie innerhalb ihrer Gemeinschaft?
Jol Rosenberg: Danyla ist eine junge Frau, die gerade als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft eingetreten ist. Sie ist stolz darauf, eine gute Jägerin zu sein, aber sie hadert auch mit den Leuten aus ihrem Dorf und den Ansprüchen an sie. Dadurch hadert sie auch mit sich. Denn die Verbindung zum Geflecht ist nichts, was einfach da ist. Die Surai müssen sich darum bemühen und Danyla ist – wie viele Jugendliche – genervt von dieser anstrengenden Tradition, die ihre Umgebung ihr aufdrückt. Im Laufe des Textes wird sie in die Situation kommen, all die Werte, mit denen sie aufgewachsen ist, zu hinterfragen – aber auch, sie sich neu aneignen zu können. Plötzlich ist sie wichtig, hat eine Verantwortung, die eigentlich zu groß für sie ist. Wie sie damit umgeht und worum genau es geht, will ich natürlich nicht verraten.
Literatopia: Als zweiten Protagonisten lernen wir den Terraner Pako kennen, der in der Steinwüste von Beta3 unterwegs ist. Was hat ihn dorthin verschlagen? Und welche Rolle spielt er in der Story?
Jol Rosenberg: Pako ist als Experte nach Rusal gekommen, dem Planeten, dem die Terraner den technischen Namen Beta3 verpasst haben. In dem Moment, in dem Beta3 für ihn Rusal wird, hat sich sein Verhältnis zu diesem Planeten verändert. Aber natürlich dauert es, bis es so weit ist. Zunächst sieht sich Pako als tollen Ingenieur, der ungerechterweise seinen Job verloren hat, womit er nicht gut umgehen kann. Er muss sich als Kurierfahrer verdingen und genau das verschlägt ihn in die Wüste.
Seine Rolle in der Story ist die eines Gegenspielers – aber eben auch Kumpans von Danyla. Der Text ist auch eine Geschichte über ein ungleiches Team, beide reiben sich aneinander, hassen einander fast, aber sie müssen miteinander klarkommen, wenn sie etwas erreichen wollen. Für mich stehen Pako und Danyla für verschiedene Weltsichten und verschiedene Arten, Probleme zu lösen. Schaue ich vorrangig auf die Beziehungen und langfristigen Folgen, wie Danyla, oder auf technische Lösungen und kurzfristigen Erfolg, wie Pako? Worin sehe ich meine Stärke?
Literatopia: Wie sieht es eigentlich auf der Erde in Deiner Zukunft aus? Ist die Menschheit gerade dabei, das All und andere Planeten zu entdecken oder bewohnen sie bereits viele andere Welten?
Jol Rosenberg: Ich wage es ja kaum zu sagen, aber: Die Erde kommt in „Das Geflecht“ nicht vor. Es bleibt völlig offen, was damit ist. Dass Menschen viele Planeten bewohnen, ist allerdings klar.
Literatopia: Was fasziniert Dich an Science Fiction? Wann und wie hast Du Deine Liebe zum Genre entdeckt?
Jol Rosenberg: Ich liebe Science Fiction und Fantastik, weil sie mir ermöglichen, in andere Welten abzutauchen. Ich liebe es, Themen, die mich im Hier und Jetzt bewegen, verfremdet und aus neuem Blickwinkel zu betrachten und ich liebe guten Weltenbau - sowohl beim Schreiben, als auch beim Lesen. All die scheinbar nebensächlichen Kleinigkeiten, die ein Buch so lebendig machen, eigenwillige Charaktere und spannende Handlungen - die Möglichkeit, einerseits dem Alltag zu entfliehen und mich andererseits genau diesem Alltag anders und mit neuem Blick anzunähern - das beides in einem bekommt man nur in der Fantastik.
Meine Liebe zur SF habe ich schon sehr früh entdeckt. Mein Großvater hatte eine recht umfangreiche Sammlung ostdeutscher und osteuropäischer Science Fiction und manchmal hat mein Vater etwas davon für mich ausgeliehen. Es ist absurd, dass ich diese Bücher nie direkt hätte leihen können – und dass sie, als mein Großvater starb und wenig später die politische Wende kam und die einst wertvollen Bücher weitgehend wertlos machte, in meinen Besitz übergingen. Ich las sie alle und ich liebte viele davon. Später habe ich mich dann geärgert, dass nur (cis) Männer vorkamen und die Geschlechterbeziehungen oft schrecklich altmodisch waren. Ich habe begonnen, es anders zu machen und schon mit 12 meine erste Geschichte geschrieben, in der ein Mädchen Außerirdischen begegnet. Lustigerweise hört der Text da auf, wo für mich heute die Geschichte beginnen würde.
Literatopia: Da Du viel ostdeutsche und osteuropäische Science Fiction verschlungen hast: Inwiefern gibt es Unterschiede zur damaligen westlichen Science Fiction? Und welche ostdeutschen SF-Romane sind auch heute noch einen Blick wert?
Jol Rosenberg: Letztlich spiegelt sich natürlich die Weltsicht in den Romanen wider. Osteuropäische Science Fiction hat meist kommunistische oder sozialistische Zukunftsbilder, die gab es in linker westeuropäischer SF auch, aber nicht in dem Maße. Science Fiction sagt ja immer etwas über die Gegenwart aus und die war in Osteuropa eben eine andere als in Westeuropa. Ich muss zugeben, dass ich es nach einigen enttäuschenden Erfahrungen vermeide, alte Lieblingsbücher noch einmal zu lesen. So gut wie sie damals waren, können sie heute nicht mehr sein. Da entdecke ich lieber Neues. Mich haben damals die Strugatzkis und Stanislaw Lem begeistert. Karsten Kruschel und Karl-Heinz Steinmüller habe ich in der DDR entdeckt. Beide schreiben heute noch und da gibt es auch Neues zu entdecken. Es fällt auf jeden Fall auf, dass es in der ererbten Sammlung von damals nur männliche Autoren gab. Ob das nur an den Vorlieben meines Opas oder auch an der Verfügbarkeit lag, weiß ich nicht.
Literatopia: Du bist aktiv in der deutschsprachigen SF-Szene unterwegs, diskutierst auf Social Media und in Foren mit. Inwiefern hat sich die Szene aus Deiner Sicht in den letzten Jahren verändert?
Jol Rosenberg: Ganz ehrlich? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich habe mich vor ca. 15 Jahren von der SF-Szene abgewendet, weil ich so genervt davon war. Von all dem Technikblabla, davon, dass ich mich als weiblich gelesene Person oft nicht ernst genommen fühlte, von all dem Rumgeballer und den ganzen Kriegen. Der Kreis, in dem ich damals verkehrte, passte nicht wirklich für mich. Ich habe mich anderen Lebensthemen zugewendet, ein Kind bekommen und um dessen Gesundheit gerungen, mich beruflich etabliert und einiges mehr. Und dann wurde alles privat stabiler und ich schrieb wieder und hatte einen Text, den niemand wollte. Ich habe dann beschlossen, mich der Szene nochmal anders anzunähern und die progressive Fantastik gefunden – meine Nische, die mir auch schon einige schlaflose Nächte bereitet hat, die mir aber auch ganz viel Freude und Heimatgefühl vermittelt. Ich bin jetzt fast zwei Jahre in den Sozialen Medien unterwegs – zu kurz, um wirklich fundiert etwas über Veränderungen sagen zu können. Für mich war es, wie nach 15 Jahren Pause wieder einzutauchen und zu merken: Ich bin nicht allein.
So oder so denke ich aber, dass der Trend aus den USA auch zu uns schwappt: Science Fiction wird diverser und bunter, es muss nicht immer ein einsamer weißer Mann sein, der die Welt rettet. Ich denke, da wird es viele gute Geschichten geben! Es gibt sie ja jetzt schon.
Literatopia: Wann war für Dich klar, dass Lesen Dir nicht reicht und Du selbst Geschichten schreiben willst? Und wie sahen Deine ersten Schreibversuche aus?
Jol Rosenberg: Ich habe Gedichte geschrieben, da konnte ich gerade schreiben. Das war mit sechs oder so. Wenig später schrieb ich Geschichten. Ich bin mit Lyrik und Prosa in meiner Jugend über Lesebühnen getingelt und habe auch einige kleine Preise gewonnen – mich dann aber anderen Dingen zugewendet. Ich habe mehrere Romane begonnen (den ersten mit 12) und nie einen abgeschlossen. Damals las kaum jemand Kurzgeschichten und Gedichte liest auch heute noch niemand.
Dann hat mich, da war ich 27 oder so, ein Romanstoff gefesselt und ich habe den fieberhaft in drei Monaten aufgeschrieben. Danach habe ich wieder angefangen zu schreiben und nicht mehr aufgehört.
Literatopia: Was liest Du aktuell gerne? Welche Bücher haben Dich zuletzt richtig gefesselt?
Jol Rosenberg: Mein Problem ist: Ich lese total gern, aber ich bin enorm kritisch und habe einen eigenwilligen Geschmack. Dadurch finde ich nicht so viel, was mich wirklich begeistert. Meine letzten Begeisterungsstürme betrafen die Wayfarer-Reihe von Becky Chambers. Davor waren es Martha Wells „Murderbots-Diaries“, die mich gefesselt haben und davor Karsten Kruschels „Galdäa“. Die Liste meiner Lieblingskurzgeschichten findet sich auf meiner Webseite, auch da gab es 2021 einige, die mich sehr beeindruckt haben. 2022 habe ich gerade eine in der achten QueerWelten-Ausgabe gefunden: „Sonnenaufgang. Sonnenaufgang. Sonnenaufgang.“ von Lauren Ring. Ein genialer Text, finde ich.
Literatopia: Auf Deiner Website finden sich auch einige „Flanierstücke“ – Fotos von Dingen, die Dir im Alltag auffallen. Wo findest Du Deine Flanierstücke? Woher weißt Du für Dich „das muss ich fotografieren“?
Jol Rosenberg: Auf der Webseite sind die ersten Fundstücke, die nächsten 100 oder so sind auf Instagram. Ich finde die auf meinen alltäglichen Gängen, im Urlaub – eigentlich überall. Manchmal drehe ich beim Radeln um, weil mir etwas aufgefallen ist. Ich war schon immer so, dass ich auf Kleinigkeiten geachtet habe. Und mein Kind hat mich da nochmal mehr gelehrt, was es alles zu entdecken gibt. Dass ich etwas fotografieren muss, ist einfach so ein Gefühl. Oft hängen sich an diesen Dingen Geschichten auf, Ideen, warum etwas so oder so entstanden ist. Und oft sind es ja auch Spuren anderer Menschen, rätselhafte Spuren bevorzugterweise, in die ich dann alles Mögliche hineindichten kann.
Literatopia: Auf Deiner Website findet sich auch eine Vorschau zum Zweiteiler „Etomi“, der ab Herbst nächsten Jahres erscheinen soll - würdest Du uns einen kleinen Ausblick darauf geben?
Jol Rosenberg: Tja, also erstmal hoffe ich wirklich sehr, dass das mit den Erscheinungsplänen so klappt wie geplant. Für die Buchbranche sieht es ja gerade nicht wirklich gut aus, daher hoffe ich, dass Leute wieder mehr Bücher und vor allem mehr bei Kleinverlagen kaufen und diese Kleinverlage sichtbar machen. Denn wir brauchen diese Verlage, auch kulturell. Davon bin ich überzeugt (und könnte jetzt noch über andere betroffene Branchen sprechen, aber hier soll es ja um Bücher gehen).
„Etomi“ spielt auf der Erde im 24. Jahrhundert. Die Klimakatastrophe ist vorbei und die Menschen leben unter der Erde oder in Kuppelstädten – weil der Rest nicht mehr bewohnbar ist. Wie „Das Geflecht“ auch erzählt „Etomi“ die Geschichte von mehreren Einzelpersonen, die wider Erwarten ein Team werden. Und was für ein Team! Grob zusammengefasst könnte man sagen, dass es auch in Etomi um die Rettung der Welt geht, um die Frage, wie wir leben wollen, welche Werte wir haben. Aber auch was einen Menschen von einer Maschine unterscheidet, ist ein wichtiges Thema. Das Ganze wird in eine spannende Geschichte gepackt, eine Geschichte rund um Identität und Freundschaft und Sehnsucht. Und wie im Geflecht auch, gibt es Bedrückendes, aber auch viel Hoffnung. Etomi würde ich als Hope-Punk bezeichnen. Manche der Charaktere aus „Etomi“ kann man schon in Kurzgeschichten kennenlernen: Der Klon Nori, ein Perspektivträger, kam in „Rechter Haken“ in Queer*Welten Nummer 5 vor, Lea, die Protagonistin, in einer slice of day-Geschichte im Ferrars and Fields Magazin. Die Links dazu finden sich auf meiner Webseite.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Foto: Copyright by Steffi Rose
Website: https://www.jol-rosenberg.de
Rezension zu "Das Geflecht - An der Grenze"
Rezension zu "Etomi - Erwachen"
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.