Interview mit Gabriele Albers
Literatopia: Hallo, Gabriele! Im Sommer ist Dein Near-Future-Roman „Nordland 2061 - Gleichheit“ erschienen. Wie sieht Norddeutschland in Deiner Zukunftsvision aus?
Gabriele Albers: Ziemlich trocken und heiß. Die industriellen Agrarbetriebe holen das letzte Grundwasser aus den Tiefen. Für die Kleinbauern bleibt nichts übrig. Mit den Entsalzungsanlagen der Schweden könnte genug Trinkwasser für alle produziert werden, aber die Schweden weigern sich, die letzten Teile zu liefern – weil die bisherigen Machthaber sich weigern, die neue Verfassung zu verabschieden und so Nordland den Neustart zu ermöglichen.
Literatopia: „Nordland 2061“ spielt zwei Jahre nach „Nordland 2059“ - was muss man über den Vorgängerband wissen, um den Ereignissen gut folgen zu können?
Gabriele Albers: Nordland spielt in Hamburg in rund 40 Jahren, in einer Welt, in der nach diversen Rohstoffkriegen sowohl die EU als auch Deutschland auseinandergebrochen sind. Die Skandinavischen Länder haben als einzige die Welt, wie wir sie kennen, in die Zukunft retten können – und ihre Grenzen geschlossen. Die ehemaligen norddeutschen Bundesländer haben sich zu Nordland zusammengeschlossen, einem Land, in dem die Wirtschaftselite die Macht übernommen hat. Nach außen gibt Nordland sich demokratisch (weil gut fürs Geschäft), aber im Inneren ist alles verrottet.
Lillith, die Protagonistin dieser Geschichte, hat mit ihren Verbündeten im ersten Teil für Freiheit und Demokratie gekämpft. Am Ende hat sie ihre Gegner besiegt und die übelsten Ungerechtigkeiten beseitigt. Für diesen Sieg musste sie allerdings einen hohen Preis zahlen: Ihr große Liebe Bo ist ins Gefängnis gegangen. Seit anderthalb Jahren versucht sie nun schon, ihn dort wieder herauszuholen. Bisher vergeblich.
Grundsätzlich kann man den zweiten Band gut lesen, ohne den ersten zu kennen. Alle wichtigen Informationen werden nach und nach eingestreut. Außerdem gibt es auf den ersten Seiten von „Nordland 2061“ einen kurzen historischen Abriss der Umbruchjahre 2031 bis 2036 sowie einen QR-Code, der auf eine Seite mit einer Zusammenfassung von „Nordland 2059“ führt.
Literatopia: Würdest Du uns mehr von Deiner Protagonistin Lilith erzählen? Was ist sie für ein Mensch? Und was will sie gegen die Ungerechtigkeit in Nordland ausrichten?
Gabriele Albers: Lillith ist eine absolute Ausnahmeerscheinung in Nordland. Frauen haben hier nämlich nicht mehr besonders viel zu sagen. Aber Lillith ist es im ersten Teil gelungen, sich gegen die Männerbünde durchzusetzen und zur Senatorin ernannt zu werden. Sie ist die treibende Kraft hinter den Veränderungen. Was ihr hilft: Sie ist in der Lage, die Emotionen der Menschen um sich herum zu spüren und zu deuten. Sie weiß, wenn jemand blufft oder sie belügt.
Zusammen mit ihren Verbündeten hat sie einen Verfassungsentwurf formuliert, der nur noch von der Bürgerschaft abgestimmt werden muss. Mit der neuen Verfassung bekämen Frauen endlich wieder die gleichen Rechte wie die Männer. Außerdem dürften alle Bürger*innen Nordlands wählen, unabhängig vom Einkommen. Und die öffentlichen Güter wie Wasser und Energie würden verstaatlicht werden, die Gewinne aus diesen Geschäften kämen der Allgemeinheit zugute.
Literatopia: Stellst Du uns die anderen handlungsrelevanten Figuren kurz vor?
Gabriele Albers: Da ist zum einen Bo, der Anführer des ehemaligen Widerstands aus „Nordland 2059“ – und Lilliths große Liebe. Da ist Fritjof, Lilliths ältester Freund und wichtigster Verbündeter. Dann haben wir Erik, den Antagonisten aus dem ersten Band, einen der skrupellosesten Birds, den man sich vorstellen kann. Zum Glück ist auch er am Ende von Band 1 ins Gefängnis gewandert. Neu in „Nordland 2061“ ist Nenita, eine junge Journalistin vom Land, aus deren Perspektive wir die aktuelle Situation des Volkes erleben.
Literatopia: Die Reichen in Nordland sind fast ausnahmslos alte Männer, die sich ähnlich verhalten wie viele alte Republikaner in den USA. Wie gehen die alten Nordländer Eliten gegen die Bemühungen einer neuen, gerechteren Verfassung vor?
Gabriele Albers: Ähnlich wie viele alte Republikaner in den USA: Mit gezielten Falschinformationen, mit geheimen Absprachen, mit viel Geld.
Literatopia: Schweden erlebt aktuell einen Rechtsruck, in „Nordland 2061“ hingegen ist es eines der wenigen Länder, das sich stark zum Positiven verändert hat. Wie lebt es sich im Schweden der Zukunft? Und was hat Schweden besser gemacht als andere?
Gabriele Albers: Der aktuelle Rechtsruck in Schweden hat mich ehrlich gesagt auch überrascht. Denn in Schweden gibt es vieles, was ich mir für Deutschland auch wünschen würde: ein hervorragendes Bildungssystem mit gut ausgebildeten und bezahlten Erzieher*innen und Lehrer*innen, ein Steuersystem mit deutlich weniger Ausnahmeregeln als in Deutschland – was dazu führt, dass sich die Reichen ihrer Steuerpflicht nicht so leicht entziehen können. Dazu kommt eine generelle Offenheit neuen Technologien gegenüber, die nicht ständig von der Angst vor einem Überwachungsstaat eingeschränkt wird. Und schließlich, so erlebe ich die Schweden jedenfalls, scheint dort die Einstellung weit verbreitet zu sein, dass der Staat eine sinnvolle Institution, und dass das Gemeinwohl ein wichtiges Gut ist – und alle für das Funktionieren verantwortlich sind.
Diesen Status Quo habe ich in Nordland einfach fortgeschrieben: Im Schweden der Zukunft gibt es ein bedingungsloses Grundeinkommen. Viele repetitive Arbeiten werden von Maschinen, Androiden oder Künstlicher Intelligenz erledigt. Für Pflege und Erziehung hingegen sind allein Menschen zuständig, die auch gut dafür bezahlt werden. Es gibt eine hohe Erbschaftssteuer und eine Steuer auf große Vermögen. Der Staat beteiligt sich an vielversprechenden Startups und unterstützt Kunst und Kultur. Die Grundsätze der Schweden beim Umbau während der 30er Jahre lauteten: „Der Staat bestimmt die Regeln. – Genug ist genug. – Unser Land ist kein Casino.“
Literatopia: Wie wahrscheinlich ist, dass wir auf eine ähnliche Zukunft wie Nordland zusteuern? In vielen Bereichen beobachten wir einen sogenannten „Backslash“, erkämpfte Rechte werden wieder eingeschränkt (siehe z.B. USA) und die Rückbesinnung auf „alte Werte“ bedeutet meist eine Schlechterstellung von Frauen und verstärkte Ausgrenzung von Marginalisierten ...
Gabriele Albers: Eigentlich habe ich Nordland geschrieben, damit es nicht zu dieser Zukunft kommt. Das Schlimmste denken und aufschreiben, dann wird es nicht real. Inzwischen hat mich die Wirklichkeit an manchen Stellen überholt. Ich hätte mir zum Beispiel nicht vorstellen können, dass Russland einen Krieg führt, wie wir ihn aus den Geschichtsbüchern kennen. Mit Überfall, Annexion und allem. Oder dass jemand wie Trump in der Lage ist, die USA zu spalten. Oder dass Großbritannien die EU verlässt. Oder dass es aufgrund der Energiepolitik zu Konflikten zwischen Nord- und Süddeutschland kommt …
Ob es zu einer Welt kommt, wie ich sie beschrieben habe, hängt davon ab, wie die Zivilgesellschaft reagiert. Wenn sich alle nur zurücklehnen und sagen, „mir doch egal, die ‚da oben‘ machen doch eh‘ was sie wollen“, dann halte ich eine solche Welt für durchaus realistisch.
Literatopia: Wir sehen aber nicht nur (erneute) Verschlechterung, sondern auch immer mehr Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit, für Feminismus, gegen Rassismus etc. engagieren ...
Gabriele Albers: Genau! Und das macht mir total Mut! Fridays for Future ist das beste Beispiel dafür, dass eine Generation heranwächst, die nicht alles hinnimmt. Die sich engagiert, sich einbringt, die Politik herausfordert. Die viele Selbstverständlichkeiten der Vergangenheit hinterfragt und unsere Welt damit bunter, diverser, reicher macht. Denn machen wir uns nichts vor: Wir stehen vor riesigen Aufgaben – und die kriegen wir nur gemeinsam bewältigt.
Literatopia: Deine persönliche Zeitmaschine würde Dich 500 Jahre in die Zukunft katapultieren – wie stellst Du Dir die Welt im 26. Jahrhundert vor?
Gabriele Albers: Ehrlich gesagt: Ich kann sie mir nur schwer vorstellen. Wie stellt sich jemand aus dem 15. Jahrhundert das 20. Jahrhundert vor (beliebtes Zeitreisethema, btw.)? Vieles von dem, was heute hier passiert, dürfte auf jemanden von vor 500 Jahren wie Magie wirken. Vermutlich würde es mir im Jahr 2500 ganz genau so gehen. Falls die Menschheit sich bis dahin nicht selbst vernichtet hat. Aber wie gesagt, ich kann mir diese Welt trotz all meiner Fantasie nur schwer vorstellen. Deshalb würde ich sie ja so gerne sehen!
Literatopia: Du bist großer Fan von „Star Trek“ und „Doctor Who“ - warum gerade diese beiden SF-Universen?
Gabriele Albers: Bei „Star Trek“, vor allem bei „The Next Generation“ mag ich die Gedankenexperimente, die hinter vielen Folgen stehen. Der Klassiker ist natürlich: Was passiert, wenn man bei einer Zeitreise die Vergangenheit verändert? Oder: Wie nehmen zweidimensionale Wesen ihre Welt wahr – und was heißt das für uns, wenn wir von mehr als drei Dimensionen ausgehen? Auch die Vorstellung eines von unendlich vielen verschieden Wesen bevölkerten Universums, die längst nicht alle unsere moralischen Ansichten teilen, finde ich extrem faszinierend.
Ähnliches gilt für das „Doctor-Who“-Universum und die nahezu gottgleiche Figur des Doctors. Hier finde ich außerdem den Kunstgriff genial, dem Doctor mehrere Leben in unterschiedlicher Gestalt zu geben und so dafür zu sorgen, dass die Serie auch nach fast 60 Jahren nicht langweilig wird.
Eines meiner Lieblingszitate aus Doctor Who ist übrigens folgendes: “People assume that time is a strict progression from cause to effect, but actually from a non-linear, non-subjective viewpoint, it's more like a big ball of wibbly-wobbly, timey-wimey stuff.”
Literatopia: Du gruselst Dich bei dem Gedanken, dass Computer uns bereits in vielem überlegen sind. Warum? Worin siehst Du die Gefahr von Computertechnologie?
Gabriele Albers: Ich würde das nicht nur auf Computertechnologie beziehen, sondern auf Technologie im Allgemeinen. Wir Menschen neigen dazu, mit Dingen zu experimentieren, die – oder deren Folgen – wir zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung nicht wirklich verstehen (siehe z.B. Atomkraft). Technologie entwickelt sich oft schneller als die menschliche Fähigkeit, damit verantwortungsbewusst umzugehen.
Aktuell bin ich selbst total fasziniert von dem, was Künstliche Intelligenz im Text- und Bildbereich alles leistet. Auf der anderen Seite sehe ich, was Algorithmen bei Facebook, Twitter, TikTok & Co. alles anrichten können. Will ich das? Will ich dieses, nur die niedrigsten Instinkte bedienende Geschrei? Will ich die Reduzierung des menschlichen Geistes auf 15-Sekunden-Schnipsel? Will ich die stromlinienförmigen, rückgratfreien Bewerber in meiner Firma, weil die KI alle Menschen mit Ecken und Kanten aussortiert? Ich habe keine Angst davor, dass Computer eines Tages ein Bewusstsein erlangen und die Herrschaft übernehmen könnten. Dieses Szenario halte ich aktuell für extrem unwahrscheinlich. Aber ich habe Angst davor, dass aufgrund der uns in vielen Bereichen bereits überlegenen Computertechnologie die Menschen verlernen, selbst zu denken.
Literatopia: Du hast Volkswirtschaft, Politikwissenschaft und Wirtschaftspsychologie studiert. Wie bist Du dann zum Journalismus gekommen – und zum Schreiben von Geschichten?
Gabriele Albers: Der Journalismus stand ganz am Anfang. Ich habe schon zu Schulzeiten für die Lokalzeitung geschrieben. Nach dem Abitur war ich an der Kölner Journalistenschule, wo ich das Handwerk gelernt und im Anschluss VWL studiert habe. Danach habe ich viele Jahre als Journalistin gearbeitet, und bin schließlich zum Bücherschreiben gekommen.
Literatopia: Was liest Du gerne? Hast Du vielleicht ein paar Buchtipps für unsere Leser*innen?
Gabriele Albers: Wow, schwierige Frage, wo soll ich anfangen? Ich lese viel und quer durch alle Genres und Zeiten. Margaret Atwoods „Report der Magd“ ist ein verstörend-gutes Buch. Naomi Aldermans „Die Gabe“ ist ebenfalls großartig erzählt. Ich liebe die Bücher von Fredrik Backmann (Ein Mann namens Ove / Kleine Stadt der großen Träume) und Markus Zusak (Die Bücherdiebin / Der Joker). Ich mag vieles von Stephen King (The Green Mile / Die Arena / Der Anschlag - vor allem in der von David Nathan gesprochenen Hörbuchversion), lese aber auch gerne die Klassiker von Thomas Mann, dem Meister der Symbolik und Leitmotive (Tod in Venedig / Der Zauberberg / Die Buddenbrooks). Ganz großartig sind auch die von Stefan Zweig geschriebenen Biografien. Mein Polizeichef Joseph Foth ist entstanden, nachdem ich Zweigs Buch über Joseph Fouché gelesen habe, den Polizeiminister während und nach der Französischen Revolution. Die Romane von Ursula Poznanski kann man alle kaufen, lesen, lieben und verschenken. Neil Gaimans „Der Ozean am Ende der Straße“ ist ein richtig gutes Buch. Jüngst hat mich Leigh Bardugo mit ihrer Shadow-&-Bones-Reihe sehr gefesselt. David Mitchell (Cloud Atlas) ist ein großartiger Erzähler, Und „Alles Licht, das wir nicht sehen“ von Anthony Doerr ist und bleibt eines meiner absoluten Lieblingsbücher.
Um nur mal ein paar zu nennen.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Gabriele Albers: Danke für die tollen Fragen!
Fotos: Copyright by Henning Angerer
Website: https://www.gabriele-albers.de
Rezension zu "Nordland 2061 - Gleichheit"
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.