Die Legende von Sleepy Hollow (Christina Henry)

henry sleepy hollow

Penhaligon, 2022
Originaltitel: Horseman. A Tale of Sleepy Hollow (2021)
Übersetzung von Sigrun Zühlke
Gebunden, 400 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 31,90
ISBN 978-3-7645-3275-8

Genre: Mystery


Buchrückentext

Dreißig Jahre ist es her, seit der kopflose Reiter das verschlafene Dorf Sleepy Hollow in Angst und Schrecken versetzte. Da wird in den Wäldern die Leiche eines Jungen gefunden, dessen Kopf und Hände abgetrennt wurden. Ist der Reiter wieder erwacht? Um die Lebenden vor den Toten zu beschützen, ist diesmal jedoch nicht Ichabod Crane zur Stelle, sondern ein 14-jähriges Kind: Ben Van Brunt weiß, welches Monster durch die Wälder streift. Doch außer seinem Großvater Brom schenkt ihm niemand Glauben. Bis zu dem Tag, als die Bewohner von Sleepy Hollow am eigenen Leib erfahren, dass selbst alte Legenden alles andere als vergangen sind ...


Rezension

Washington Irvings Kurzgeschichte Die Legende von Sleepy Hollow (The Legend of Sleepy Hollow, 1819) ist eine atmosphärische Beschreibung einer kleinen Gemeinschaft in der Nähe des Hudson River im Staat New York Ende des 18. Jahrhunderts. Der Lehrer Ichabod Crane, ursprünglich aus Connecticut zugezogen, um die Kinder von Sleepy Hollow zu unterrichten, und der raubeinig-ritterliche Abraham „Brom“ Van Brunt, aufgrund seines herkulischen Körperbaus Bones genannt, sind Konkurrenten um die Gunst der Farmerstochter Katrina Van Tassel. Weiter geht es um den kopflosen Reiter, der der Geist eines toten hessischen Söldners aus der Zeit der Amerikanischen Revolution sein soll. Irvings Geschichte ist gemächlich, humorvoll, aber kein Horror. Es finden sich lediglich Anklänge an die Schauergeschichte.

Im Rahmen ihrer Bearbeitung beliebter phantastischer Stoffe hat Christina Henry Lewis Carrolls Alice drei Bücher gewidmet, gefolgt von Rotkäppchen, Peter Pan und der kleinen Meerjungfrau. Nun bezieht sie sich in ihrem auf Deutsch gerade erschienenen Die Legende von Sleepy Hollow auf die Legende des kopflosen Reiters von Washington Irving. Die Handlung spielt Jahre nach den Ereignissen bei Irving. Katrina Van Tassel und Brom Bones sind verheiratet, Brom ist wohlhabender Farmer und Grundstücksbesitzer. Beide haben nach dem mysteriösen Ableben der Eltern ihrer Enkeltochter Bente das Kind bei sich aufgenommen.

Bente ist mittlerweile 14 Jahre alt und wird von Katrina behandelt wie eine junge Frau, die bald heiraten soll. Bente nennt sich allerdings Ben, identifiziert sich als Junge, spielt mit Freund Sander gerne Sleepy-Hollow-Jungs und wird von Brom wie ein Junge behandelt. Der Genderaspekt wird erstmals am Ende des ersten Kapitels angesprochen, als Ich-Erzähler Ben von Katrina Bente genannt wird: „Ich war als Mädchen zur Welt gekommen, und wenn ich ein Mädchen war, dann bedeutete das, dass ich niemals der Anführer der Sleepy-Hollow-Jungs sein konnte, niemals derjenige, zu dem das gesamte Dorf aufblickte und der von allen so respektiert wurde wie mein Großvater Abraham Van Brunt (…).“ (S. 32)

Die Geschichte beginnt damit, dass Ben und Sander beim Spielen im Wald nahe Sleepy Hollow die kopf- und händelose Leiche eines Jungen finden. Weitere grauenhafte Taten folgen. Ben sieht eine Kreatur, die das Blut eines Opfers trinkt. Er will herausfinden, was geschieht, ob es einen Zusammenhang mit dem Mythos vom kopflosen Reiter gibt. In diese Handlung werden Bestandteile einer Kleinstadtgeschichte eingebaut. Schließlich wird der Genderaspekt kontinuierlich ausgebaut, bekommt den Charakter einer Entwicklungsgeschichte, in deren Verlauf die Identitätsbildung und deren Durchsetzung im Sozialgefüge in den Vordergrund der Erzählung rücken. Während Ben versucht, den Fall zu lösen, erfahren wir gemeinsam mit ihm einige Dinge aus der Vergangenheit der Eltern und Großeltern. Dies gelingt ihm gegen den Widerstand der Großmutter Katrina.

Henry beschreibt die Welt von Sleepy Hollow in mehrfacher Weise inkohärent. Einmal verhalten sich viele Menschen im Dorf zeitgemäß, andere modern, bis hinein in die Dialoge, was in der Originalversion stärker wahrnehmbar ist, während die deutsche Fassung hier homogener und damit besser wirkt. Henry arbeitet mit einer Vielzahl von klischierten Versatzstücken, die sie in ihre Kerngeschichte der Entwicklung Bens einfügt. Die Konventionen schreiben vor, dass Ben als Bente heiraten und ans Haus des Ehemannes gebunden sein soll. Ben wehrt sich jedoch dagegen. Der Genderkontext ist asexuell, es geht allein um eine Selbstzuordnung, die eine Zeitlang nur mit repressiven gesellschaftlichen Rollenbildern erklärt wird. Es scheint keine tiefen pubertären Verwirrungen zu geben, die körperliche Entwicklung spielt keine Rolle. Sogar im Schlussteil, als Ben Mittzwanziger ist, ist der sexuelle Aspekt seines Seins bedeutungslos.

Die Legende von Sleepy Hollow liest sich sprachlich, im Wortschatz und im Umgang mit den wichtigen Themen wie ein Buch für Kinder beziehungsweise junge Jugendliche. Für Kinder sind vermutlich manche brutale Szenenbeschreibungen nichts. Der Roman weist viele Redundanzen und Wiederholungen auf. Die Legende von Sleepy Hollow ist Christina Henrys zweiter Roman aus dem Jahr 2021. Im Frühjahr 2023 erscheint die deutsche Übersetzung von The Ghost Tree, Der Geisterbaum. Eine Leseprobe ist dem Roman als Anhang beigefügt.


Fazit

Die Legende von Sleepy Hollow behandelt die Lösung des Mordfalls und die Entwicklungsgeschichte Bens. Insgesamt eine Entdeckungsreise in das Selbst und die eigene Geschichte. Weniger eine Neuerzählung der Legende als eine Fortsetzung der Story von Washington Irving.


Pro und Kontra

+ sympathische Hauptfigur
+ vielschichtige Beziehung zwischen Ben und Großeltern

o stilistisch nicht so ansprechend wie Henrys Alice-Geschichten

- viel Redundanz und Wiederholungen
- bisweilen langweilig

Wertung:sterne3

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu Die Chroniken von Alice - Finsternis im Wunderland

Tags: Legenden, Christina Henry, Identität, Familiengeschichte, Gewalt gegen Kinder, LGBTQIA+