Piper (September 2022)
Hardcover mit Schutzumschlag
192 Seiten, 18,00 EUR
ISBN 978-3-492-70606-3
Genre: Science Fiction / Zeitreisen / Briefroman
Klappentext
Jeder Brief ist eine Art Zeitreise … oder?
Ein Brief, auf dem steht: Vor dem Lesen verbrennen. Zwei Feindinnen in einer Zeit des Krieges. Verbotene Nachrichten, heimlich ausgetauscht auf den verlassenen Schlachtfeldern. Und eine ganz große Liebe, die Raum und Zeit überwindet.
Amal El-Mohtar und Max Gladstone verbinden in wunderbar poetischer Sprache eine weltumspannende Zeitreisegeschichte mit einem Liebesroman in Briefform.
Rezension
„Briefe als Zeitreisen, zeitreisende Briefe. Versteckte Bedeutungen.“ (Seite 55)
Mit blutigem Haar schreitet Rot über das Schlachtfeld. Im Auftrag der Agentur hat sie dafür gesorgt, dass niemand überlebt – und somit niemand all die Zukünfte, in denen die Agentur herrscht, verhindern kann. Während sie die Zerstörung betrachtet, entdeckt sie in einem Sprengkrater einen Brief, ein cremefarbenes Stück Papier, auf dem steht: „Vor dem Lesen verbrennen“. Rot ist sofort klar, dass der Feind ihre Pläne durchkreuzt hat, doch ihre Neugier ist geweckt. Der Brief ist eine Herausforderung ihrer größten Gegnerin, die ihr Respekt zollt und sie verhöhnt. Rot schreibt zurück und beginnt einen verbotenen Briefwechsel mit Blau, ihrer Feindin, die ihr immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Die beiden jagen sich durch die Zeiten, durchkreuzen einander die Pläne und verstecken ihre Briefe in Vogelfedern, Störbildern, Pflanzensamen und kochendem Wasser, sie ritzen ihre Spuren in verschiedenste Zeitalter und Welten und streben unaufhaltsam aufeinander zu …
„Verlorene der Zeiten“ ist ein ungewöhnlicher SF-Roman über einen surrealen Zeitkrieg, in dem sich die Agentur und Garden gegenüberstehen und eine scheinbar unendliche Zahl von Zeitsträngen manipulieren, um die Zukunft zu ihren Gunsten umzuschreiben. Die Parteien kämpfen auf unterschiedliche Weise: Die Agentur manipuliert gezielt einzelne Ereignisse für schnelle Ergebnisse, während Garden Samen pflanzt, sie wachsen lässt und so den Manipulationen viel Zeit gibt, um ihre mitunter verheerende Wirkung zu entfalten. Beide Seiten entfesseln Kriege, zerstören Städte, ermorden Menschen und verhelfen anderen zu großen Taten. Rot und Blau sind Meisterinnen ihres Fachs, sie bewegen sich entlang der Zeitfäden spielerisch rauf und runter, kämpfen in gigantischen Raumschlachten, reiten an der Seite der Mongolen, streiten im alten Rom, lassen da sagenumwobene Atlantis untergehen, pflegen Freund- und Liebschaften und suchen bei all dem stets nach einem Zeichen der anderen, einer winzigen Spur, die sie tief in sich verbergen, denn weder die Agentur noch Garden dürfen von ihrem Briefwechsel wissen. Aufzufliegen bedeutet für beide den Tod.
Blau und Rot sind schwer greifbare Figuren, hochentwickelte Wesen aus weit entfernter Zukunft, die sich als Menschen tarnen, aber kaum mehr Menschen sind. Ihre Körper, so sie welche nutzen, sind technologisch und genetisch verbessert – und das auf so vielfältige Weise, dass es schwer fällt, sich ein Bild von ihnen zu machen. Ihre Erscheinungen wandeln sich mit den Zeiten, die sie durchqueren, doch mit jedem Brief erfahren wir mehr über die beiden, die sich bereits unvorstellbar lange bekriegen und doch so wenig voneinander wissen. Und so fragen sie einander ganz alltägliche Dinge wie „Esst ihr überhaupt noch? (…) Schlaft ihr, Rot, oder träumt ihr?“ (Seite 39). Mit jedem Brief kommen Rot und Blau sich näher, aus Feindschaft wird Neugier und Faszination und schließlich Liebe. Eine Liebe, die sie verbergen müssen, tief in sich verstecken. Eine Liebe, so tief und mitreißend, dass sie eigentlich nur einer Katastrophe enden kann.
„Worte tun weh, aber Metaphern gehen dazwischen wie Brücken und Worte sind wie Steine, um Brücken zu bauen, unter Qualen aus der Erde gehauen, aber etwas Neues erschaffend, etwas Gemeinsames, etwas, das mehr als eine Schicht ist.“ (Seite 118)
Amal El-Mohtar und Max Gladstone haben für ihre ungewöhnliche Geschichte eine ungewöhnliche Form gewählt, die man in der SF selten liest: Auf kurze Kapitel, in denen Rot und Blau ihre Zeitmanipulationen durchführen, folgen die Briefe, die mit zunehmender Seitenzahl länger, intensiver und poetischer werden. „Verlorene der Zeiten“ ist ein zutiefst romantisches Buch, in dem es jedoch auch sehr brutal zugeht, in dem viel Blut fließt und in dem die Protagonistinnen morden und zerstören. Sie sind so weit entfernt von einem „normalen“ Leben, dass sie über Menschen und Schicksale distanziert hinweg steigen und sogar Spaß daran haben, sie zu vernichten, während sie den gleichen Menschen in anderen Zeitsträngen fasziniert zusehen, wie sie die Welt verändern. Ihre Existenz ist surreal, erstreckt sich über Jahrmillionen und abertausende Welten, wobei wir uns meist auf der Erde befinden und ihre unterschiedlichen Zeitalter erkunden. Orte und Zeiten wechseln so schnell, dass einem beim Lesen schwindlig wird, doch die Fernbeziehung von Blau und Rot ist die Konstante, die diese phantastische Geschichte zusammenhält.
Der Originaltitel „This is how you lose the time war“ ist wesentlich passender und spannender als „Verlorene der Zeiten“, was eine SF-Romance vermuten lässt. Auch wenn es sich hier um einen Liebesroman handelt, ist „Verlorene der Zeiten“ keine Romance, sondern ein vielschichtiger und origineller Zeitreiseroman, der sie Sinnlosigkeit des Krieges darstellt, dabei auf verschiedenste literarische Werke und historische Ereignisse anspielt und letztlich von der Überwindung von Gegensätzen, dem Entdecken von Gemeinsamkeiten und der Macht von Emotionen handelt. Die Liebe scheint Rot und Blau schwach zu machen, doch eigentlich macht sie sie stärker und lässt sie Taten vollbringen, die sie beiden für unmöglich gehalten hätten. Übrigens hat der Roman einige SF-Preise abgestaubt, unter anderem dem Hugo, den Nebula und den Locus Award.
„Ganz sicher wird man mich aussenden, um die Schäden wieder zu beheben, die du angerichtet hast. Und dann laufen wir wieder, wir beide, den Faden hinauf und hinunter, Feuerwehrleute und Brandstiftende, zwei Raubtiere, deren Hunger nur durch die Worte des anderen gestillt werden.“ (Seite 122)
Fazit
„Verlorene der Zeiten“ ist eine außergewöhnliche Zeitreisegeschichte und ein Liebesroman in Briefform – surreal, phantastisch, schmerzhaft und wunderschön. Hier bekommt „Enemies to Lovers“ eine ganz neue Dimension. Der Kurzroman von Amal El-Mohtar und Max Gladstone ist originell und anspruchsvoll und lädt zum mehrmaligen Lesen und Dahinschmelzen ein.
Pro und Contra
+ ungewöhnlicher Zeitreiseroman in Briefform
+ „Enemies to Lovers“ in einem surrealen SF-Setting
+ Blau und Rot stammen aus komplett unterschiedlichen, zukünftigen Gesellschaften
+ ineinander verflochtene, unterschiedliche Zeitstränge
+ viele originelle Ideen
+ viele Anspielungen auf literarische Werke und historische Ereignisse
+ Amal El-Mohtar und Max Gladstone harmonieren wunderbar
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5