Neongrau - Game Over im Neurosubstrat (Aiki Mira)

Polarise (2022)
Paperback, 520 Seiten, 16,95 EUR
ISBN: 978-3949345289

Genre: Cyberpunk / Near Future / Coming-of-Age


Klappentext

Hamburg im Jahr 2112: Die Stadt wird immer wieder von Starkregen geflutet, im Binnendelta hat sich ein Slum aus schwimmenden Containern gebildet und über allem thront das gigantische Stadion. Zum »Turnier der Legenden« reisen Fans aus der ganzen Welt an, um die berühmten Glam-Gamer spielen zu sehen. Auch Go [Stuntboi] Kazumi begeistert sich für das VR-Gaming, fährt jedoch noch lieber Stunts auf dem Retro-Skateboard.

Ein Sturz scheint das Aus für Gos Karriere zu bedeuten, doch dann wird Go ein Job im Stadion angeboten – bei den Rahmani-Geschwistern, den berühmtesten Gamern Deutschlands! Von da an überschlagen sich die Ereignisse und Gos Welt wird komplett auf den Kopf gestellt: ein Bombenanschlag, illegale Flasharenen, Tech-Aktivisten, Cyberdrogen, künstliche Intelligenzen – und dann ist da auch noch dieses Mädchen ...


Rezension

"Nur Alupax glauben, alles im Griff zu haben. Ob es uns gefällt oder nicht ‒ ob wir es wissen oder nicht ‒, wir alle sind bloß Bots. Wir haben überhaupt nichts im Griff." (Seite 130)

2112: Hamburg hat sich dem Klimawandel angepasst und steckt die häufigen Flutereignisse relativ gut weg. Für junge Menschen ist das Zentrum der Stadt das schwimmende ZONE-Stadion, in dem sie den Glam-Gamern live dabei zusehen können, wie sie ins Neurosubstrat abtauchen und sich virtuelle Schlachten liefern - sofern man es sich leisten kann. Go [Stuntboi] Kazumi sollte eigentlich Lernmodule absolvieren, arbeitet jedoch lieber an einer Karriere mit krassen Skateboard-Stunts. Ein Sturz erscheint Go wie das vorzeitige Aus, zu allem Übel entdeckt der Medimat auch noch ein Aneurysma im Gehirn. Eigentlich gut behandelbar, doch die Operation birgt trotzdem ein Risiko. Go verdrängt die Gedanken daran lieber und ergreift dankbar die Gelegenheit, im Stadion für die beiden berühmtesten Glam-Gamer Deutschlands zu arbeiten. Die Rahmani-Geschwister gehören zu den besten Gamern der Welt und sind gefeierte Stars, deren schillernde Fassade bröckelt. Go wird in ihre Konflikte hineingezogen und rutscht in eine Welt illegaler Flasharenen und Cyberdrogen. Gos Identitätssuche wird von einem Bombenanschlag erschüttert und das Chaos verdeckt eine viel größere Gefahr ...

"Neongrau" ist eine vielschichtige Comig-of-Age-Story mit einem coolen Cyberpunksetting. Das zukünftige Hamburg zeichnet sich durch den genretypischen Kontrast zwischen Hightech und Lowlife aus: Auf der einen Seite gibt es das grell erleuchtete Gamer-Stadion und biolumineszierende Bäume als Straßenbeleuchtung, auf der anderen Seite gibt es schwimmende Containersiedlungen, in denen fast jeder ein Drogenproblem hat. Dazwischen feiern junge Leute illegale Parties im alten Elbtunnel oder blicken in der BlaZe Floxi, eine Droge, die in Verbindung mit den Cyberlinsen der In-Augen zu Euphorie und tränenreichen Erlebnissen führt. Die meisten Menschen sind permanent online, kommunizieren über Txt und Pxx und teilen ihre Leben über Streams. Aiki Mira schreibt aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Figuren, die verschiedenste Gamer- und Slangbegriffe, überwiegend "Arabo in revers/Pseudo-Arabo", verwenden. So fühlt es sich stets an, als wäre man selbst Teil dieser Zukunft, in die manche Leser*innen sicher erst einmal hineinfinden müssen - ein Glossar hilft beim Verstehen.

Ein wenig erinnert "Neongrau" an William Gibsons "Idoru", auch stilistisch, denn Aiki Mira schreibt extrem dicht. Es gibt keine großen Erklärungen, sondern nur intensives Erleben. Kein Satz erscheint zu viel und wer nicht aufmerksam liest, könnte schnell abgehängt werden. Gleichzeitig fesselt die Sprache mit ihren überwiegend kurzen und oft bedeutungsvollen Sätzen. Der Roman hat einen ganz eigenen Rhythmus und Aiki Mira das, was sich viele Autor*innen wünschen: Wiedererkennungswert. Stärker als bei Gibson liegt hier der Fokus auf futuristischer Jugendkultur und insbesondere auf verschiedenen (queeren) Identitäten. Während die Erwachsenen mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung hadern, scheinen die jungen Menschen in einer ganz anderen Welt zu leben und nutzen Technologie intutitv und selbstverständlich. Auch hier gibt es also Konflikte zwischen den Generationen, allerdings gehen die meisten Menschen rücksichtsvoller und offener miteinander um als heute. Sie geben einander Raum und akzeptieren, was ihnen gesagt wird, ohne zu leugnen und anderen die eigene Lebensweise aufzudrücken. Trotzdem gibt es auch toxisches Verhalten und gesellschaftliche Tabus (wie die Liebe zu Maschinen) und wer in der Öffentlichkeit steht, lebt in einer Inszenierung. Denn die Fans wollen eine gute Story, sie wollen Idole, die sie bewundern können, und interessieren sich wenig für die echten Menschen dahinter.

Die Leser*innen hingegen erleben in "Neongrau" die Figuren mit all ihren Hoffnungen, Ängsten, Träumen und Abgründen. Protagonist*in Go ist genderfluid und hat selbst noch nicht begriffen, was genau das für sie/ihn bedeutet. Entsprechend nutzen Gos Kapitel manchmal das Pronomen "Sie" und manchmal "Er", wobei Go dann Stuntboi genannt wird. Beide Identitäten fühlen sich für Go/Stuntboi richtig an, doch während trans Personen akzeptiert sind, hat Go das Gefühl, sich entscheiden zu müssen. Mitten in diesen Identitätskonflikt tritt die mysteriöse ELLL, die mit Untergrund-Hacktivisten zusammenarbeitet, und Gos Mutter kennt - die legendäre Ren Kazumi, die nach ihrer Zeit im Gefängnis zwangsweise mit der Polizei zusammenarbeitet. Go ist fasziniert von ELLL, scheut jedoch die Nähe, da sie/er unsicher ist, ob ELLL Gos genderfluide Identität akzeptieren wird oder sie/ihn wegstößt. ELLL gehört zu den wenigen Figuren, die Go als Stuntbio und entsprechend eher männlich wahrnehmen, für die meisten anderen ist Go eher weiblich.

Zu den Protagonist*innen zählen auch die Rahmani-Geschwister, die als Glam-Gamer zu den größten Influencern ihrer Zeit gehören. Sie werden von ZONE gnadenlos vermarktet und hinter ihrer schillernden Fassade bauen sich verschiedene Konflikte auf. Jazmin [Phoenix] Rahmani ist wütend, weil ihr Bruder Darian [Ash] Rahmani in den Vordergrund gestellt wird, obwohl sie die bessere Spielerin ist. Ash wiederum hat immer weniger Lust auf die Inszenierung als sexy Gamerboi und widmet sich lieber seinem Musik-Podcast. Ihm ist übrigens der Titel des Romans gewidmet, denn neongrau ist die Farbe von Ashs VR-Anzug. Beide Geschwister müssen sich nach außen anders geben, als sie eigentlich sind, und beide leiden darunter. Doch nicht nur ihre persönlichen Geheimnisse bedrohen ihre Karriere, sondern auch die Entwicklung einer neuartigen KI-Gamerin, die menschlich genug erscheinen soll, um von den Fans angenommen zu werden.

Positiv fallen in "Neongrau" auch die erwachsenen Figuren auf, sie sind überwiegend facettenreiche Charaktere mit Ecken und Kanten. Gos Vater tut alles für sein Kind, ist aber unsicher und auf ausbeuterische Aushilfsjob angewiesen. Er hat immer noch Gefühle für seine Ex-Frau, die die Familie verlassen hat. Ren Kazumi ist ein Star in der Hacktivistenszene und hat eine KI programmiert, die sich selbst weiterentwickelt und die sie ebenso als ihr Kind bezeichnet. Um Go hingegen kümmert sie sich kaum, zieht jedoch einige Fäden aus dem Hintergrund. ELLL behandelt sie oft schroff und unfair, nutzt sie regelrecht aus, doch im Verlauf der Handlung nähern sich die beiden Frauen an. Die Antagonisten dagegen sind teils klischeehaft geraten: Da hätten wir den macht- und erfolgsgeilen Polizisten, der Grenzen überschreitet, und den gefährlichen Eigenbrötler, der eine schwimmende Containersiedlung beherrscht und in seiner eigenen, kaputten Welt lebt. Was außerdem auf der Strecke bleibt, ist das VR-Game Quanta II. Da werden Turniere im Stadion ausgetragen, man sieht die Gamer im Neurosubstrat kämpfen, aber vom Spiel selbst sieht man wenig und kann so die Begeisterung dafür nicht nachfühlen.

"Was willst du hören? Eure Generation erscheint mir so fremd, dass ich nicht einmal glaube, du und ich sprechen noch die gleiche Sprache. Wir tun nur so. In Wirklichkeit gehört ihr jungen Menschen bereits zu einer anderen Spezies. Daher haben wir uns auch nichts mehr zu sagen." (Seite 367)


Fazit

"Neongrau - Game Over im Neurosubstrat" ist moderner Cyberpunk, der die Identitätssuche seiner vielschichtigen Figuren in den Fokus stellt, ein faszinierendes Porträt futuristischer Jugendkultur zeichnet und dabei Entwicklungen der Gegenwart spiegelt. Aiki Mira schreibt extrem dicht, in kurzen, bedeutungsschweren Sätzen, die einen speziellen Sog entfalten und einzigartige Bilder ins Gehirn brennen. Dieser Roman verschluckt seine Leser*innen, lässt sie in einer düster-schillernden Zukunft leben und spuckt sie süchtig nach mehr wieder aus.


Pro & Contra

+ moderner, cooler Cyberpunk im zukünftigen Hamburg
+ facettenreiche Figuren auf Identitätssuche
+ gelungene Darstellung futuritischer Jugend- und Gamerkultur
+ Go/Stuntboi als genderfluide Protagonist*in
+ vielschichtiges Beziehungs- und Handlungsgeflecht
+ dichte, dreckig-schillernde Atmosphäre
+ unterschiedliche technologische und soziale Themen
+ schickes, stimmungsvolles Cover

- Antagonisten erfüllen so manches Klischee
- eine der interessantesten Figuren, Ash, kommt zu kurz

Wertung: sterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Cyberpunk, Künstliche Intelligenz, queere Figuren, nicht-binäre Autor*innen, Coming-of-Age, deutschsprachige SF, Aiki Mira, Near Future, Hamburg