Interview mit Roxane Bicker
Literatopia: Hallo, Roxane! Kürzlich ist mit „Windgejammer“ der zweite Band Deiner „Gezeitenwechsel“-Trilogie erschienen. Was erwartet die Leser*innen auf der (fiktiven) Nordseeinsel Medderoog?
Roxane Bicker: In Band 1 "Wellenbrecher" haben wir gesehen, dass auf der Insel nicht alles so ist, wie es scheint – Phil kommt einem lang zurückliegenden Geheimnis auf die Spur. Vor Jahrzehnten hatten einige Männer der Insel eine Gruppe Sirenen ("Meerjungfrauen") gefangengenommen und sich zu eigen gemacht. Eine der Sirenen konnte damals entkommen und ist nun zurückgekehrt, um ihre Schwestern wiederzufinden und sich zu rächen.
In Band 2 wird Phil von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt – sie wurde auf die Insel zwangsversetzt, weil sie in der Großstadt Korruption in den eigenen Reihen auf die Spur gekommen ist. Nun hat sie ein ehemaliger Kollege aufgespürt, doch auch hinter ihm steckt mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Zudem geschieht ein Mord auf der Insel und unter 5.000 Festivalbesuchern, die sich auf Medderoog aufhalten, Verdächtige zu finden, ist nicht einfach …
Literatopia: Bei der „Gezeitenwechsel“-Trilogie handelt es sich um Nordseekrimis mit phantastischen Elementen – was macht für Dich denn einen richtig guten Krimi aus?
Roxane Bicker: Ich gebe es ja zu, ich lese gar keine Krimis und eigentlich kann ich auch gar keine richtigen Krimis schreiben. Ja, meine Bücher haben irgendwie immer einen kriminellen Anteil, aber der Phantastik-Anteil überwiegt definitiv. Aber gerade dieser wilde Genremix macht für mich den Reiz am Schreiben aus, ich lasse mich nicht gerne in eine Schublade pressen, auch wenn ich es meinem Verlag und den Buchhandlungen damit nicht einfach mache, mich einzusortieren.
Literatopia: Warum hast Du die raue Nordsee als Setting gewählt? Und wie fügen sich die phantastischen Elemente ein?
Roxane Bicker: Die Insel Medderoog hat ein reales Vorbild – die westfriesische Insel Vlieland, die zu den Niederlanden gehört und auf der wir fast jedes Jahr den Urlaub verbringen, es ist schon eine sehr lange Familientradition. Ich kenne die Insel inzwischen wie meine Westentasche und da lag es nahe, sie als Setting umzumodeln. Als phantastisches Element habe ich die Sirenen, die man landläufig als Meerjungfrauen kennt, eingebracht, die in der Nähe der Insel lebten. Deren Geschichte wird übrigens in der exklusiven Kurzgeschichte "Parthenopes Töchter" erzählt, ein ziemlich wilder Ritt durch die griechische Mythologie.
In Band 2 "Windgejammer" kommen noch andere übernatürliche Wesen hinzu, die versteckt unter uns normalen Menschen leben und in Band 3, den ich gerade während des NaNos geschrieben habe, geht es noch eine Stufe weiter, aber das soll hier noch nicht verraten werden.
Literatopia: Deine Protagonistin, die Großstadtpolizistin Phillipa Berger, wurde nach Medderoog zwangsversetzt. Wie kommt sie auf der kleinen Insel zurecht? Und worin liegen ihre Stärken – und Schwächen?
Roxane Bicker: Phil hasst die Insel, es ist ihr alles viel zu klein, viel zu provinziell und sie würde am liebsten sofort wieder zurück, aber dieser Weg ist ihr versperrt. Sie hat ziemliche Schwierigkeiten, sich zu integrieren und eckt mit ihrer direkten Art ziemlich an. Andererseits hat Phil ein ziemlich hohes Gerechtigkeitsempfinden und wenn sie einmal einem Verbrechen auf die Spur gekommen ist, dann will sie es auch lösen, egal was es sie kostet.
Literatopia: Würdest Du uns etwas mehr über Harpo, die Phillipa den Kopf verdreht, erzählen? Und welche Figuren sind außerdem wichtig für die Handlung?
Roxane Bicker: Harpo ist eine Gestaltwandlerin, im Meer hat sie die klassische Sirenengestalt – menschlicher Oberkörper und ab dem Bauch ein Fischschwanz. An Land hingegen erscheint sie wie ein normaler Mensch – abgesehen von ihren blau-weiß schimmernden Haaren, die sie aus diesem Grund auch unter einem Tuch verbirgt. Sie ist auf der Suche nach ihren Schwestern, die vor langer Zeit auf die Insel verschleppt wurden und kürzlich erst hat sie deren Spur gefunden. Phil und Harpo lernen sich besser kennen, als Harpo sie aus einer kritischen Situation rettet. Phil fühlt sich von ihr angezogen und merkt, dass da noch mehr hinter Harpo steckt, als auf den ersten Blick erscheint.
Weiter wichtig ist Alex, einer von Phils Kollegen, zu dem sie eine lockere Freundschaft aufbaut und die Gerichtsmedizinerin Ruth, die sie noch aus ihrer Zeit in der Großstadt kennt und die ihr hilfreich zur Seite steht. In Band 2 kommt dann noch Phils Ex-Kollege Tom dazu und auch die Inselwirtin Lola und ihre Tochter Elli spielen eine entscheidende Rolle.
Literatopia: In Deiner Trilogie „Die Herren des Schakals“ konntest Du Deine Expertise als Ägyptologin einbringen. Wie viel ägyptische Mythologie steckt darin? Und hast Du auch manches dazu erfunden?
Roxane Bicker: In den "Herren des Schakals" steckt sehr, sehr viel Mythologie drin, nicht nur ägyptische, sondern auch griechisch-römische! Und ehrlich, diese alten Geschichten sind so reichhaltig und vielfältig, da muss man gar nichts hinzuerfinden, nur vielleicht zwischen dem einen und dem anderen eine Verbindung herstellen und dann ergibt sich vieles ganz von selbst! Natürlich habe ich erfunden, dass es die altägyptischen Gottheiten nach wie vor gibt und dass sie durch die Menschen sprechen können, leider gibt es die Schakalsmaske aus Band 1 auch nicht und nach dem Herz des Osiris aus Band 3 wird man wohl ebenfalls vergeblich suchen (aber wer weiß …)
Literatopia: Haben Deine Museumskolleg*innen „Die Herren des Schakals“ gelesen? Und waren sie vielleicht an der Entstehung der Trilogie beteiligt?
Roxane Bicker: In der Tat erfreuen sich meine Bücher auf der Arbeit großer Beliebtheit. Mein Kollege Jan musste als Testleser herhalten und für fachliche Diskussionen, manchmal haben mich Kolleg*innen in der Mittagspause auf einen kurzen Spaziergang begleitet, wenn ich noch ein paar Vor-Ort-Recherchen durchführen musste, denn dankbarer Weise liegen die Örtlichkeiten ja direkt vor meiner Arbeitstür.
Höchste Ehre für mich ist es, dass Prof. Dr. Dietrich Wildung, seines Zeichens ehemaliger Direktor der Ägyptischen Museen in München und Berlin sich zu einem Super-Fan gemausert und mir die Bücher förmlich aus der Hand gerissen hat. Das ist ja auch eine gewisse Anerkennung, dass es fachlich schon ganz gut ist ;-)
Literatopia: In einem Interview mit dem Hybrid-Verlag meintest Du, dass viele Dinge, die wir heute für selbstverständlich halten, im alten Ägypten entdeckt wurden, wie zum Beispiel das Bier. Hast Du weitere Beispiele für uns? Und was ist im Gegenzug verloren gegangen, was früher alltäglich war?
Roxane Bicker: Viele Dinge hat man damals "erfunden", Mathematik, die Schrift und so weiter, auch einige Worte sind uns bis heute aus dem alten Ägypten geblieben – Papier zum Beispiel geht zurück auf das altägyptische "pa-per-aa" ("das, was dem Pharao gehört"), woraus die Griechen "Papyros" gemacht haben.
Uns heute fehlt ein wenig die Offenheit und Toleranz, die der altägyptischen Weltsicht zu eigen war – wir wollen heute für alles EINE rationale Erklärung haben. Im alten Ägypten war es gang und gäbe, dass es verschiedene gleichberechtigte Erklärungen für ein und dasselbe Phänomen gab: die Sonne am Himmel war der Sonnengott in seiner Barke, aber die Sonne wurde auch wie eine Kugel von einem göttlichen Mistkäfer den Himmel emporgerollt. Und es gab verschiedene Schöpfungsmythen, wie die Welt entstanden ist. Das hieß nicht, dass einer richtig und der andere falsch war. Es waren halt unterschiedliche Erklärungen.
Literatopia: Du erwähnst in dem Interview auch, dass Du bei „Die Herren des Schakals“ zwei Figuren verkuppeln wolltest, die sich geweigert haben. Wie oft durchkreuzen Deine Figuren Deine Pläne?
Roxane Bicker: Ja, das waren Daisy und Franz – war im Endeffekt ganz gut, dass es nicht so kam, wie ich zuerst vorhatte! Ja, leider tun die Figuren das oft, aber das ist ja auch das tolle am Schreiben, dass sie so eine ganz eigene Persönlichkeit entwickeln und meist besser wissen, was sie wollen, als ich! Tragisch ist es, wenn sie dann abtreten müssen, auch das kommt vor – zwei Figuren aus "Usir" trauere ich sehr hinterher und denselben Effekt hatte ich jetzt beim Schreiben des 3. Bandes von "Gezeitenwechsel", wenn einen plötzlich die Erkenntnis trifft, dass eine Person jetzt sterben muss. Tragisch, aber manchmal fordert es das Schicksal.
Literatopia: Du stammst aus einem bibliophilen Haushalt, insofern lag Dir das geschriebene Wort schon immer nah. Wovon handelte Dein erstes Buch, das Du mit gerade einmal sieben Jahren geschrieben – und illustriert! – hast?
Roxane Bicker: Es hieß "Die blaue Schlange" und handelte von den Abenteuern eines Indianerjungen, soviel weiß noch. Ich hatte mehrere A6-Blätter beschrieben und zusammengeheftet, eine Illustration war nämliche blaue Schlange, die sich um einen Totempfahl wickelte, aber was es mit ihr auf sich hatte? Das wird wohl ewig im Dunkel der Geschichte bleiben …
Literatopia: Wie viele Deiner Werke sind ungesehen in der Schublade verschwunden, ehe Du bereit für eine Veröffentlichung warst? Und was hat den Ausschlag gegeben?
Roxane Bicker: Im Schrank stehen zwei handschriftlich vollgekritzelte Notizbücher einer Fantasy-Geschichte, die auch schon zwei Überarbeitungen erfahren hat, aber nie vollendet wurde. Dann diverse Fragmente, die in derselben Fantasy-Welt spielen. Vielleicht kehre ich irgendwann mal dahin zurück – aber nicht zu jener ersten Geschichte. Das Problem war, dass ich eine Protagonistin namens "Sandor" hatte, und dieser Name ist durch GRRM und "Game of Thrones" nun leider, ähm, verbrannt? Allerdings kann ich zugutehalten, dass meine Geschichte schon 1992 entstanden ist, hilft aber trotzdem nichts.
Dann habe ich viele, viele Texte in E-Mail-Rollenspielen, vornehmlich im Star-Trek-Universum geschrieben, die zwar nicht zur Veröffentlichung als Buch gedacht waren, die mir aber einfach Praxiserfahrung gebracht haben.
Nach langer, langer Schreibflaute sind dann Rosa und Daisy zu mir gekommen – und seitdem habe ich nicht mehr mit dem Schreiben aufgehört. Die Rohfassung von "Inepu" war 70 Seiten lang und in 10 Tagen runtergeschrieben. Von vorne bis hinten, mit Anfang und Ende. In diversen Überarbeitungsrunden habe ich natürlich noch ganz viel geändert und ausgebaut, aber das Rohgerüst stand sehr schnell.
Literatopia: Du schreibst auch gerne Kurzgeschichten und hast diese bereits in diversen Anthologien veröffentlicht. Was fällt Dir leichter zu schreiben: Eine Kurzgeschichte oder ein Roman? Und was zeichnet für Dich eine wirklich gelungene Kurzgeschichte aus?
Roxane Bicker: Beides hat seinen Reiz – in Romanen kann man natürlich mehr in die Tiefe gehen, dafür kann man in Kurzgeschichten auch mal ganz andere Genres ausprobieren. Ich musste für mich feststellen, dass ich mit Romance gar nicht kann, mit Horror erstaunlicherweise schon. Das Reizvolle an der Kurgeschichte ist halt, dass man nur begrenzten Platz zur Verfügung hat. Man muss sich kurzfassen, präzise sein, aber auch Mut zur Lücke und zu unerzählten Dingen habe. Und natürlich muss es trotzdem spannend sein. Große Kurzgeschichtenliebe und Anthologien werden hierzulande ja bisher auch viel zu wenig gewürdigt!
Literatopia: Findest Du neben Deiner Arbeit im Museum und neben dem Schreiben noch Zeit zum Lesen? Welche Bücher haben einen ganz besonderen Platz in Deinem Regal?
Roxane Bicker: Mein Problem ist, ich kann entweder lesen oder schreiben, beides zusammen funktioniert nicht wirklich gut. Allerdings höre ich auf dem Arbeitsweg immer Hörbücher, so kommt im Laufe es Jahres trotzdem was zusammen, auch wenn mein Stapel ungelesener Bücher inzwischen ein ganzes Regalbrett einnimmt.
Einen besonderen Platz in meinem Herzen haben die Bücher von Jacqueline Carey, insbesondere die Kushiel's-Chosen-Reihe und die Bücher von Tamora Pierce und noch viele, viele mehr!
Literatopia: Würdest Du uns abschließend noch etwas über Deinen geplanten Science-Fiction-Roman „Projekt Pyrrha“ verraten? Wann können wir mit der Veröffentlichung rechnen?
Roxane Bicker: Hachja, "Projekt Pyrrha" ist so großartig und liegt schon viel zu lange auf meinem Rechner. Es ist ein wildes Crossover aus Science-Fiction und altägyptischer Mythologie und indirekt ein Sequel von "Inepu", denn eine gewisse Schakalsmaske hat inzwischen ihren Platz im Museum der Erdkulturen auf dem Generationenraumschiff "Pyrrha" gefunden und ist auf dem Weg zu den Sternen. Durch einen unglücklichen Zwischenfall wird die Maske aktiviert und die Seele eines Jungen in das altägyptische Jenseits gerissen. Die Technikerin Thyia muss sich auf den Weg machen und den Jungen retten. Die Rohfassung umfasst stolze 550 Normseiten und steht hoffentlich für nächstes Jahr zur Überarbeitung und Finalisierung auf dem Plan. Wenn ich Band 3 von Gezeitenwechsel fertig gestellt habe … die Daumen dürfen also gedrückt bleiben!
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Autor*innenfotos: Copyright by Roxane Bicker
Website: https://roxanebicker.com/
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.