Die Botschaft der verborgenen Bilder. Commissario Montalbano entdeckt eine neue Welt (Andrea Camilleri)

camilleri botschaft

Bastei Lübbe, 2023
Originaltitel: La rete di protezione (2017)
Übersetzung von Rita Seuß und Walter Kögler
Gebunden, 301 Seiten
€ 23,00
ISBN 978-3-7857-8477-8

Genre: Kriminalroman


Rezension

Commissario Montalbano ist wahnsinnig genervt. Eine schwedische Produktionsfirma ist in „sein“ Vigàta eingefallen, um einen Film mit Fünfzigerjahre-Flair zu drehen. Crew und Darsteller sorgen für Aufregung und Unruhe in der sizilianischen Hafenstadt, verstopfen die Straßen und nehmen seine Lieblingstrattoria in Beschlag. Alle Bewohner wollen bei dem Ereignis dabei sein, auch als sie zur Vorbereitung der Kulissen gebeten werden, alte Fotos und Filme beizusteuern. Der Ingenieur Ernesto Sabatello findet auf seinem Dachboden eine Kiste mit 8-mm-Filmen seines verstorbenen Vaters, des Bauingenieurs Francesco Sabatello, darunter einige, auf die er sich keinen Reim machen kann – sechs kurze Filme, einer pro Jahr, zwischen 1958 und 1963, jeweils am gleichen Tag und zur gleichen Uhrzeit gedreht. Sie zeigen minutenlang den gleichen Ausschnitt einer Mauer. Kurz nach der letzten Aufnahme starb Francesco Sabatello. 

Da das Verbrechen in Vigàta gerade pausiert und um seine Neugierde zu stillen, will Montalbano der Sache nachgehen. Er findet heraus, dass die Mauer zu einem kleinen Schuppen auf der Rückseite der inzwischen halbverfallenen Sabatello-Villa gehört, die einsam und abgelegen in der Contrada Granata steht. Die Villa war Schauplatz einer Familientragödie. Ein Jahr vor der ersten Aufnahme erschoss sich Francescos Zwillingsbruder Emanuele auf dem Anwesen. Montalbano ist überzeugt, den Sinn der Filme nur zu verstehen, wenn er den tatsächlichen Hergang von Emanueles Selbstmord kennt. Doch wie soll man Licht in das Dunkel von Ereignissen bringen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen?

Ein echter Fall kommt Montalbano dazwischen. Drei maskierte Männer überfallen eine Schule und fliehen nach einem Schusswechsel mit Mimì Augello. Montalbanos Vice Commissario war dort wegen seines Sohns Salvuzzo, der Ärger mit zwei Mitschülern hat. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei den Angreifern um Mitglieder von Anonymous handelt. Die Anti-Terror-Einheit schaltet sich ein, ist aber ziemlich ratlos. Auch Montalbano hat Zweifel. Um dem Geschehen auf den Grund zu gehen, begibt er sich auf unbekanntes Terrain und sucht das Gespräch mit den Schülern. Montalbano steckt fest. In beiden Fällen gelingt es ihm nicht, das Motiv zu finden. Er weiß weder, warum Francesco Sabatello die Mauer gefilmt hat, noch warum es zu dem Überfall auf Salvuzzos Klasse kam.

Irren ist menschlich. Das gilt auch für einen erfahrenen Commissario wie Montalbano, weshalb Camilleri ihn in der Selbstmordgeschichte zu einer falschen These gelangen lässt. Der Irrtum liegt nicht in den unorthodoxen Methoden Montalbanos begründet. Schwung, Intuition, Menschenkenntnis und Instinkt haben ihn nicht verlassen. Doch das Motiv ist so ungewöhnlich, die Geschichte hinter der Tat so traurig, dass es ihn fassungslos zurücklässt. Auch bei der Untersuchung des Schulüberfalls gerät er auf eine falsche Spur und begeht einen schweren Fehler. Beide Fälle entwickeln eine Eigendynamik, so dass er nicht das Gefühl hat, wirklich zu ermitteln.

In seinem 25. Roman um Commissario Salvo Montalbano aus dem sizilianischen Vigàta nimmt Camilleri keine großen Themen ins Visier wie die Mafia, Korruption in Politik und Verwaltung oder Kriegsflüchtlinge, auch keine dunklen Abgründe wie Gier, Neid oder Hass. Es geht um ein eher ungewöhnliches Motiv, das er bis in die grausamste Konsequenz variiert und das auch für Montalbano selbst eine wichtige Rolle spielt. Tragik und Komik bilden ein spannendes Wechselspiel bei Camilleri, wie bei seinem großen Vorbild, dem sizilianischen Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello, auf den er explizit verweist, indem er die Schule des Überfalls nach ihm benennt.

Sein erfinderischer Held Montalbano inszeniert diesmal eine ausgefeilte Komödie in zwei Akten, um seinen Vorteil zu ergattern und die nach sizilianischer Art notwendige Rache durchzuführen. Opfer ist Mimì Augello. Der notorische Fremdgänger fängt eine Affäre mit der Hauptdarstellerin und Geliebten des Regisseurs an. Der lässt sie in seiner Eifersucht jede Szene mehrmals wiederholen, wodurch sich die Dreharbeiten verzögern. Montalbano, der die Filmcrew schnellstens loswerden will, hat eine „brillante Idee“, um Regisseur und Geliebte miteinander zu versöhnen. Im zweiten Akt rächt er sich auf gewitzte Weise für eine Lüge Mimìs. Er selbst wird auch zur Zielscheibe eines Streichs.

Intertextuelle Verbindungen und geistreiche Anspielungen sind dezent eingesetzt wie der Hinweis auf eine französische Komödie, in der Odysseus im Gespräch mit Hektor versucht, den Trojanischen Krieg abzuwenden. Er dient als Erklärung für eine Entscheidung, die Montalbano gegen seine eigenen Interessen trifft. Camilleri macht ein kleines Geheimnis daraus und verrät uns den Titel nicht. Eingestreut sind parodistische Elemente, vor allem die Sprachspiele, wenn Montalbano mit dem Polizisten und Computerexperten Catarella über „Bloks“, „Tuisterer“ und „Fessbock“ spricht. Montalbano hat von digitalen Medien kaum Ahnung, beobachtet aber ein paradoxes Phänomen: Die Schüler kommunizieren miteinander global und ohne Barrieren übers Handy, wirken dabei aber immer einsam. Das und die unverständliche Jugendsprache machen ihn traurig, bis er doch noch Zugang zu ihnen findet.


Fazit

Commissario Montalbano steht vor einem großen Rätsel, als er es mit einem mörderischen Familiengeheimnis und einem seltsamen Überfall auf eine Schule zu tun bekommt. Anspruchsvolle Krimiunterhaltung zwischen Komödie und Tragödie mit einem Protagonisten, der das Herz am rechten Fleck hat und versucht, in die Menschen hineinzuschauen und sie zu verstehen, statt zu verurteilen.


Pro und Kontra

+ typischer Montalbano mit sizilianischem Lebensgefühl
+ inspiriert, intensiv und sensibel erzählt
+ scharfsinnig und unterhaltsam
+ ein Commissario von großer Menschlichkeit

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Andrea Camilleri, Commissario Montalbano, italienischer Kriminalroman, Sizilien, Familiengeheimnis, Filmarbeiten