Sonnenseiten - Street-Art trifft Solarpunk (Hrsg. Tino Falke und Jule Jessenberger)

Sonnenseiten

Books on Demand (2022)
Paperback, 288 Seiten, 12,00 EUR
ISBN: 978-3756801879

Genre: Solarpunk / Science Fantasy


Klappentext

Die Zukunft wird sonnig! Im Solarpunk sind die Städte grün, die Communitys inklusiv und die Technologien nachhaltig. Die futuristische Gesellschaft ist geprägt von Zuversicht und Gemeinschaftssinn. Doch auch in Utopien gibt es Raum für Rebellion.

22 Autor*innen ergänzen optimistische Zukunftsvisionen durch verschiedenste Formen von Street-Art. Die Gründe sind so vielfältig wie die gewählten Kunstformen, doch eins verbindet sie alle: die Hoffnung, etwas zu verändern.


Rezension

Der Titel Sonnenseiten - Street-Art trifft Solarpunk beschreibt recht genau, was die Leser*innen in dieser Anthologie erwartet. Solarpunk beschreibt das Setting, während die Handlung sich verschiedenen Formen von Street-Art widmet, überwiegend in Form von Bildern / Graffitis, aber auch in anderen Formen wie Tanz, Augmented Reality oder Guerilla-Gardening. Innerhalb der SF-Szene dürften die meisten schon von Solarpunk gehört oder gelesen haben, einen tieferen Einblick in das recht junge Subgenre gibt Alessandra Reß in ihrem gelungenen Essay "Solarpunk von Republic of the Bees bis zur Sonnenseiten-Anthologie". Davor gibt es noch ein kurzes Vorwort sowie eine Seite mit Informationen zu Neopronomen, die in vielen Geschichten für die nicht-binären Figuren verwendet werden.

Vielen Animes des Studio Ghibli wird eine Solarpunkästhetik nachgesagt und in dieser Anthologie wiederum finden sich einige Geschichten, die die Ästhetik der Animes aufgreifen und bei denen der Übergang zur Fantasy fließend ist. Meist werden hier utopische Gesellschaften in einer ferneren Zukunft entworfen, in der die (dezimierte) Menschheit nach vielen Katastrophen und Kriegen in mehr oder weniger stark technisierten, grünen Paradiesen lebt. Dabei wird kaum auf die Zeit des Wandels eingegangen oder auf die Technologien, die diesen ermöglicht haben. Stattdessen sind die meisten Geschichten hier mehr oder weniger Slice of Life, erzählen von mehrheitlich jungen Künstler*innen und von zwischenmenschlichen Beziehungen. Diversität ist in der Utopie normal, die meisten Figuren sind frei in der Entfaltung ihrer Persönlichkeiten, es gibt verschiedene Beziehungs- und Familienmodelle und Figuren mit Behinderungen. 

Ganze 22 Kurzgeschichten finden sich in dieser Sammlung und wer oft zu Anthologien greift, ahnt es schon: Bei so vielen Beiträgen schwankt die Qualität stark. In dieser Rezension wird folgend nur auf einen Teil der Geschichten näher eingegangen: Dominik Windgätters "Cloudart" greift die Anime-Ästhetik auf und entwirft eine friedliche Gesellschaft über den Wolken. Junge Cloudrider zeichnen mit ihren fliegenden Boards beeindruckende Wolkenbilder - und so manchen reizt es, einen Blick auf die verseuchte Welt unter der Wolkendecke zu werfen. Cloudart ist eine der kreativsten Kunstformen in dieser Anthologie. "Fruchtbare Erde" von Teresa Steidele ist eine Guerilla-Gardening-Story in einer Solarpunkstadt mit verschiedenen Klimazonen. Die Stadt ist schon wieder zu perfekt und sauber, doch Protagonistin Naomi findet in Marza jemanden, der ihr die fruchtbarste Erde und wunderschönen Wildwuchs zeigt. 

"Blumen des Meeres" von Valerie Zatloukal tendiert wie viele Geschichten zur Fantasy und erzählt von einem mystischen Meereswesen (quasi einer Personifizierung der Natur), das aus einem Jahrhunderte währenden Schlaf erwacht. Susanoo glaubt, die Erde noch immer vermüllt und öde vorzufinden, doch die Meere sind wieder sauber. Staunend erkundet Susanoo eine solarpunkesque Menschenstadt und trifft auf einen besonderen jungen Mann mit großen Plänen. Dazu gibt es eine kleine, sanfte Lovestory. "The Thread" von Lorenzo Maxwell sticht mit seiner kreativen Erzählweise heraus, denn der Erzähler ist der Kommentator eines phantastischen Häkelwettstreits, der überraschend dramatisch wird. Eine schön skurrile DIY-Story, die gut unterhält.

Oliver Bayer erzählt in "Als wir uns treffen, lächeln die Dinos" eine Liebesgeschichte mit virtueller Street-Art. Sky ließ 20 Jahre lang Augmented-Reality-Dinos durch Düsseldorf laufen und erklärt in einem Interview, die Veränderungen, die begeisterte Fans an den Dinos vornehmen, nicht gut zu finden. Bei der Erkundung einer neuen Location sieht Sky jedoch, dass die interaktiven Dinos doch gar nicht so übel sind - und trifft mit Lilli jemanden, mit dem es sich herrlich über virtuelle Street-Art diskutieren lässt. In "Lo-fi chill hop beats to hope / keep on fighting to" von Tino Falke kämpft eine Band  gegen festgefahrene Strukturen. Um doch noch eine Chance auf den großen Auftritt zu haben, werden die jungen Leute ganz schön kreativ. Weitere Solarpunkgeschichten  von Tino Falke finden sich übrigens in seiner Kurzgeschichtensammlung Spinnenpiñata.

In "Uferlos" erzählt Lena Richter aus der Perspektive einer schwimmenden Solarpunkstadt, die bedauert, dass ihre Bewohner*innen sich zu viel mit Erinnerungen beschäftigen. Doch die Stadt beobachtet auch drei Menschen dabei, wie sie an der Zukunft arbeiten. Die Geschichte lebt vor allem von ihrer ungewöhnlichen Erzählperspektive und ist wie viele Beiträge in dieser Anthologie ein Mix aus SF und Fantasy. "Die Krähen" von Marina Wolf handelt von einem Kunstraub, der die Frage aufwirft, wer eigentlich von wem die Kunst geraubt hat. Trotz Raub ist auch diese Geschichte eher konfliktarm und hat ein schönes, hoffnungsvolles Ende.

"Kaleido und Bumerang" von Dani Aquitaine handelt von einer jungen Frau, die in einem Generationenhaus lebt und ihren wundervollen Platz unter dem Dach an den verhassten Cousin abgegeben soll. Die beiden haben sich lange nicht gesehen und Bumerang hat eine phantastische Idee, die seinen Einzug für Kaleido nicht nur erträglich, sondern richtig schön macht. Eine gelungene Geschichte über utopische Wohnformen und mit einer tollen Dynamik zwischen den Figuren. Auch "Früher waren wir noch dagegen" von Nadja Kasolowsky legt den Fokus auf eine Beziehung, die hier ihren Platz auf dem Spektrum zwischen platonisch und romantisch auslotet. Dazu gibt es Tanz als Kunstform, allerdings vermisst man hier, wie in vielen Geschichten, technologische Elemente.

Roxane Bicker beginnt "Fuchsfeuer" dystopisch und wechselt dann in eine utopischere Zukunft, in der die Menschen in kleineren Gemeinschaften zusammenleben und neue Formen des Ackerbaus erfroschen. Neval möchte die Gruppe jedoch verlassen und trifft auf Kunst aus der Vergangenheit. Hier hat sich in der Zukunft zwar vieles zum Besseren gewandelt, doch noch sind überall Spuren der umweltzerstörenden Vergangenheit sichtbar und die Menschen sind noch dabei, etwas Neues aufzubauen. Ilka Mella entwirft in "Wurzeln und Flügel" zwei verschiedene Solarpunkstädte, die eine quasi in Hochglanzgrün mit viel Glas, die andere in Felsen gehauen und der Wiederentdeckung vergangener Technologie verschrieben. Jeronym hat die Felsenstadt verlassen, um im glänzenden Ocean Bay seinen Traum als Tänzer zu leben, doch als er gezwungenermaßen zurückkehrt, erkennt er das Schöne, das er zurückgelassen hat.

In weiteren Geschichten geht es um junge Menschen, die mit einem Feuerwerk aus Biolumineszenz eine düstere Kreatur anlocken, um eine KI, die Freiheit durch Kunst erfährt oder auch um Hackerinnen, die glauben, der Weg zur Utopie führe über die Dystopie. Andere hüllen Städte in pinke Wolkenschwaden oder verzaubern die Menschen mit Seifenblasenkunst. In einer Geschichte wird ein Motorrad aus einem Museum gestohlen, in einer anderen eine Reitmaschine mit Solarfleece gebaut. Ein Künstler macht sich einen Spaß mit einem Polizisten, eine junge Frau entdeckt die Wahrheit hinter einem futuristischen Sonnenkult und eine andere findet inmitten von Sonnenblumen zu sich selbst.

Thematisch sind die Geschichten alle sehr unterschiedlich und viele sind schön zu lesen, doch nur wenige beeindrucken nachhaltig. Das liegt vor allem daran, dass die Geschichten recht kurz sind und kaum Raum haben, Setting UND Handlung aufzubauen. So bleibt vieles zu oberflächlich, viele Autor*innen verlieren sich in Beschreibungen und die Handlung bleibt auf der Strecke. Auch kommen technologische und wissenschaftliche Themen zu kurz, was aber wohl schlicht am gewählten Thema "Street Art" liegt, das schlicht zu Slice of Life über Künstler*innen tendiert. In der Utopie kommt der gesellschaftskritische und rebellische Charakter der Street Art meist zu kurz, denn was soll man kritisieren, wenn die Welt schon ziemlich perfekt ist? Gegen was rebellierien? Zu wenige Geschichten beschäftigen sich mit diesen Fragen, die meisten handeln von Konflikten auf persönlicher Ebene, die meist zu schnell gelöst werden. 

Das Taschenbuch kommt von Books on Demand. Illustrationen gibt es keine, aber bei jeder Geschichte findet sich über dem Titel eine kleine florale Grafik mit Spraydose. Die Autor*inneninfos finden sich gesammelt im Anhang, wären jeweils vor den einzelnen Stories aber wohl besser aufgehoben gewesen. Insgesamt eine einfache, aber gelungene Gestaltung.


Fazit

Man könnte Sonnenseiten als "Cosy Science Fantasy" beschreiben, denn die hier enthaltenen Kurzgeschichten sind überwiegend Slice of Life mit Kunst in Grün. In dieser Anthologie findet sich viel zwischenmenschliche Wärme, gegenseitiger Respekt und ein wenig Rebellion, weil auch in Utopien nicht alle immer rundum zufrieden sind - und weil junge Menschen noch herausfinden müssen, wer sie sind und sein wollen. 


Pro & Contra

+ viele unterschiedliche Kunstformen
+ spannende utopische Zukunftsentwürfe
+ überwiegend utopische Science Fantasy
+ viel positive zwischenmenschliche Interaktion
+ Casual Queerness
+ schöne schlichte Gestaltung

- zu wenig Technologie und Wissenschaft
- in der Kürze oft zu wenig Handlung
- stark schwankende Qualität der Geschichten

Wertungsterne3.5

Geschichten: 3/5
Auswahl: 3/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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Tags: Solarpunk, Science Fantasy, Tino Falke, progressive Phantastik, Utopie, Kurzgeschichten