Der Halbmörder. Die Chronik des Adalbert Hanzon in Gegenwart und Vergangenheit, von ihm selbst verfasst (Håkan Nesser)

Nesser Halbmoerder

btb, 09.11.2022
Originaltitel: Halvmördaren. Krönika över Adalbert Hanzon i nutid och dåtid författad av honom själv (2019)
Übersetzung von Paul Berf
Gebunden, 284 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 28,90
ISBN 978-3-442-75872-2

Genre: Krimi, Belletristik


Rezension

Adalbert Hanzon, dreiundsiebzig Jahre alt, leidet unter Rückenproblemen und einem nachlassenden Gedächtnis, vielleicht sogar beginnender Demenz. Genau weiß er es nicht. Mit Kreuzworträtseln und Erinnerungslisten versucht er Letzterem entgegenzuwirken. Bei einem Apothekenbesuch glaubt er Andrea Altman wiederzuerkennen, die große Liebe seines Lebens. Halbohnmächtig verlässt er die Apotheke. Die Begegnung lässt ihm keine Ruhe. In detektivischer Erinnerungsarbeit beginnt er die Chronik seines Lebens aufzuschreiben, in der Hoffnung, das Rätsel um Andrea Altman zu lösen, dessen Entstehung, wie auch seine letzte Begegnung mit ihr, fünfundvierzig Jahre zurückliegt.

Sein Start ins Leben war nicht schön. Seine Mutter starb drei Monate nach seiner Geburt. Der Vater, ein Maler, unglücklich und dem Alkohol zugetan, gab seinem Sohn die Worte mit auf den Weg, dass sie beide keine Rolle auf der Welt spielten, bevor er sich erschoss. Aufgezogen wurde er von seiner patenten, fürsorglichen Tante Gunhild. Nach Abitur und Wehrdienst nahm er einen Posten als Schulhausmeister in M an. Eines Tages kam sein neuer bester Freund, Studienrat Henning Ringman, ein Mann mit vielen Interessen und Hobbys, auf die Idee, den dreizehn Jahre alten Mordfall Herman Klinger zu bearbeiten.

Damals geriet das Hausmädchen Edit Bloch für kurze Zeit unter Verdacht. Edit lebt nicht mehr in M, wohl aber ihre Adoptivmutter und ihre jüngere Adoptivschwester Andrea Altman. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Andrea ist in einem absurden Arrangement bereits ihrem Cousin Harry Mutti versprochen. Neben der Arbeit an seiner Chronik muss Adalbert herausfinden, ob die Frau in der Apotheke wirklich Andrea war, weil er sie liebt und sie den letzten Stein seines Lebenspuzzles in Händen hält. Die einzigen Menschen, die ihm dabei helfen können, sind seine geschwätzige, neugierige Halbcousine Ingvor Stridh und sein nerviger Nachbar und Kumpel Henry Ullberg, der wie er wegen Mordes im Knast einsaß.

Der Protagonist und (möglicherweise unzuverlässige) Ich-Erzähler Adalbert Hanzon, ist ein vorzeitig gealterter und geplagter Mann, der ein existentiell abgesichertes, aber freudloses Dasein in Gleichförmigkeit führt. Er selbst spricht von einem zähen und inhaltslosen Älterwerden und würde den Notausgang wählen, wäre der Tod nicht so unattraktiv und endgültig. Aber vor langer Zeit ist etwas passiert, das sein Leben aus der Bahn geworfen und ihn in Ungewissheit und Zweifel zurückgelassen hat. Erst nach einem Schlüsselerlebnis beginnt er in seiner chaotischen Welt nach Mustern zu suchen, nach Ordnung, Sinn und Wahrheit, nach einer Geschichte, die ihm sein entgleistes Leben begreifbarer macht.

Der Titel deutet an, dass es um Mord geht, aber der Neologismus Halbmörder ist einigermaßen mysteriös. Früh im Roman wird angedeutet, dass Adalbert ein Mörder sein könnte. Aber was ein Halbmörder ist und ob damit er gemeint ist, bleibt lange unklar. Als Vorbereitung für das Finale erzählt Nesser die Geschichte einer großen Liebe und einer engen Freundschaft, die eine gefährliche Eigendynamik entwickelt und nicht nur Adalberts Leben verändert. Die Geschichten werden chronologisch erzählt, doch wechselt Nesser immer wieder geschickt zwischen den Zeitebenen, hält mit dem Arrangement des Stoffs die Spannung aufrecht. Die Leser*innen beginnen unweigerlich mitzurätseln. Was ist damals wirklich geschehen, was hat es mit Andrea und ihrem Verschwinden auf sich?

Bisweilen bemerkt man eine gefährliche Unterströmung und es keimt der leise Verdacht auf, Adalbert könne Opfer eines Komplotts gewesen sein. Zumindest platziert Nesser einige Hinweise in der Richtung. Das Motto des Vaters, er spiele keine Rolle, hängt wie eine Gewitterwolke über Adalbert Hanzon. Andere Menschen setzen seinem Leben einen Kurs, zuerst der Vater und die Tante, später der beste Freund, der je nach Lebensabschnitt ein anderer ist, vor allem aber der Zufall in seiner absurdesten und unwahrscheinlichsten Form. Adalbert würde wie Andrea gerne an ein sinnstiftendes Schicksal im Sinne einer göttlichen Fügung glauben.

Der Halbmörder ist auch ein Buch über das Schreiben einer Autobiographie als Fiktionalisierung des eigenen Lebens. Adalbert erwähnt, dass er zwar viel gelesen hat, ihn aber der ungewohnte Schreibprozess vor Probleme stellt. Davon ist nichts zu spüren. Auch schreibt er angeblich nur, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, spricht aber gleichzeitig indirekt eine nicht näher bezeichnete Leserschaft an. Die Autobiographie als höhere Form der Lüge? Wie glaubwürdig ist der Erzähler? Nach eigenen Worten ist sein Gedächtnis nicht mehr das beste. Und wie steht es mit seiner Ehrlichkeit? Håkan Nesser treibt ein über den Roman hinausweisendes cleveres Spiel mit Wahrheit und Lüge, Schein und Sein, das ich schon seit Kim Novak badete nie im See von Genezareth von ihm kenne und an ihm schätze.


Fazit

Spannender und unterhaltsamer Kriminalroman über einen Mann, der sich im Alter auf die Suche nach seiner großen Liebe und seiner verlorenen Vergangenheit begibt, nach der sogenannten Wahrheit und einem Narrativ, das er seinem Leben geben kann. Raffiniert bohrt sich Nesser in die Gedanken und Gefühle seiner Figur hinein, legt ihre tiefsten Ängste, Wünsche und Schwächen bloß, ohne sie zu verraten. Darüber hinaus ist Der Halbmörder eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz, den Unwägbarkeiten des Lebens und dem Narrativ, das wir ihm geben.


Pro und Kontra

+ brillant und stilsicher erzählt
+ intelligent und anspruchsvoll, menschlich und philosophisch
+ eine psychologisch stimmige, lebendige Hauptfigur
+ vielschichtig und über sich hinausweisend

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Håkan Nesser, schwedischer Kriminalroman, philosophischer Roman, Liebesgeschichte, unzuverlässige Erzählinstanz, Fiktionalisierung des eigenen Lebens