Belichtungszeit (Thorsten Küper)

 belichtungszeit

p.machinery / Cutting Edge (Dezember 2022)
Paperback, 248 Seiten, 17,90 EUR
ISBN 978 3 95765 305 5
E-Book: ISBN 978 3 95765 800 5 – EUR 5,99

Genre: Science Fiction / Near Future / Cyberpunk / Atompunk / Kurzgeschichten


Klappentext

Auf den ersten Blick erscheint Thorsten Küper wie ein literarischer Verschwörungstheoretiker par excellence. In seinen Geschichten ist nie klar, wer auf welcher Seite steht, was tatsächlich geschieht, wer im Geheimen die Fäden zieht. Seine Helden wissen oft selbst nicht, wer sie sind und was sie antreibt. Küpers Geschichten sind voller Doppelbödigkeiten, überraschender Wendungen, dramatischer Enthüllungen. Hinter der effektvollen Neuinterpretation von Cyberpunk-, Thriller- und Science-Fiction-Motiven stehen aber ernsthafte Auseinandersetzungen mit den psychischen und politisch-sozialen Folgen heutiger Schlüsseltechnologien: Gen- und Neuromanipulationen, künstliche Intelligenz, Hybridisierungen von Mensch und Maschine, Virtual und Augmented Reality und insbesondere digitale Medien und Netzwerke als Instrumente der Machtausübung und Ausbeutung.

Thorsten Küper, 1969 in Herne geboren, gehört seit Ende der Neunzigerjahre zu den führenden Autoren der deutschsprachigen spekulativen Ideenliteratur. Gespeist von seinen eigenen Erfahrungen als Blogger, Journalist, Online-Moderator und Veranstalter virtueller Kulturveranstaltungen, hat er in seinen Kurzgeschichten einen unverkennbar eigenen, ebenso scharfzüngigen wie witzigen Stil entwickelt. Die vorliegende Sammlung präsentiert erstmals eine Auswahl seiner besten Erzählungen, teilweise in Neubearbeitung, und entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Autor.


Rezension

Mit dem neuen Imprint "Cutting Edge" setzt p.machinery einen Schwerpunkt auf Kurzgeschichten. Belichtungszeit gehört zu den ersten Veröffentlichungen und enthält ausgewählte Erzählungen von Thorsten Küper aus seiner Schaffenszeit zwischen 2003 und 2019. Alle Geschichten sind bereits in verschiedenen Anthologien und Magazinen erschienen, doch die wenigsten dürften tatsächlich alle davon kennen und neue Leser*innen bekommen hier einen tollen Überblick über die Werke eines innerhalb der deutschsprachigen SF-Szene umtriebigen Autors, der unter anderen alias kueperpunk für seine Lesungen im Second Life und seine Talkrunden auf Youtube bekannt ist. "Belichtungszeit" enthält neun Kurzgeschichten, die chronologisch nach Erscheinen sortiert sind und sich überwiegend Near Future und Cyberpunk zuordnen lassen:

"Projekt 38" ist das älteste Werk in dieser Sammlung und thematisch dennoch hochaktuell, auch wenn Throsten Küper die technoligischen Möglichkeiten der 2010er damals überschätzt hat. Protagonist ist ein kürzlich verstorbener Hacker, der einen letzten großen Hack vorbereitet hat und den das "Du" in der Geschichte nun zu Ende führen soll. Zuerst aber erklärt der Hacker, welche Ereignisse und Taten sein Leben geprägt und zu dieser letzten großen Entscheidung getrieben haben. Die Geschichte zieht zunächst Spannung aus der Frage, wie der Protagonist zu Tode kam, später dann vor allem aus den immer wahnsinnigeren Hacks, die die Wirklichkeit manipulieren, indem sie menschliche Schwächen ausnutzen und durch kleine Manipulationen wie veränderte Mails Konflikte mit schwerwiegenden Folgen auslösen. Sehr gelungen wird dabei auch die Rolle der Medien geschildert und man kann kaum glauben, dass "Projekt 38" aus dem Jahr 2003 stammt, werden hier doch eindrucksvoll Fake News inklusive ihrer dramatischen Folgen beschrieben.

"Der Atem Gottes" bedient das Klischee des skrupellosen Wissenschaftlers, der für seine Forschung Grenzen überschreitet und sogar zum Mörder wird. Sein Plan gelingt nicht ganz, er wird nach der von ihm herbeigeführten Explosion eines Labors aufgegriffen und versucht sich relativ geschickt aus seiner Verantwortung zu winden - nicht ahnend, welch fatale Folgen, vor allem für ihn persönlich, seine Forschung bereits hat. Grundgedanke der Geschichte: ein Virus löst religiöse Visionen aus und lässt die Menschen glauben, im Sinne Gottes zu handeln. Eine spannende Idee, die im Vergleich zu den anderen Geschichten allerdings etwas plump umgesetzt ist.

In "Warten auf Kogai" legt Thorsten Küper menschliche Abgründe auf besonders verstörende Weise offen: Künstler Kogai provoziert mit seinen Werken und erscheint zunächst wie ein Weltverbesserer und Kämpfer für Gerechtigkeit - bis er die ersten Morde für seine Kunst begeht. Einige seiner morbiden Werke werden auf einer illegalen Auktion feilgeboten und die Polizei wartet mit einem Großaufgebot auf das Erscheinen des Phantoms. Während das reiche Publikum bei der Präsentation jedes neuen Werkes in Ekstase gerät und irrsinnige Summen für "Sandwichstücke" mit menschlicher Einlage bietet, wird der Ekel bei der Leserschaft immer größer. Und man fragt sich, ob diese grausamen Taten wirklich von dem wahren Kogai ausgeführt wurden oder ob längst ein perverser Trittbrettfahrer am Werk ist. Dass diese Geschichte kein "gutes Ende" nimmt, ist schnell klar, die morbiden Details überraschen aber.

"Spiegelbild des Teufels" ist ein gelungenes Verwirrspiel, das mit der gewaltvollen Ergreifung des Protagonisten beginnt, der der gefürchtete, skurpellose Benjamin Lasar sein soll. Er sieht aus wie er, er hat die gleiche DNA - aber er ist es nicht. Das versucht er seinem Henker, einem Kopfgeldjäger, zu erklären und entrinnt nur knapp dem Tod. Doch der Jäger will Beweise für seine unglaubliche Behauptung sehen und es beginnt eine Reise in die kurze Vergangenheit des Protagonisten, der in der Obhut des echten Lasars aufgewachsen ist. Der Beweis entpuppt sich als neues Rätsel und letztlich erfährt die Geschichte eine unerwartete Wendung durch das Eingreifen einer vermeintlich alten Frau, die zugleich die einzige wirklich gelungene und interessante Frauenfigur in dieser Sammlung ist.

"Exopersona" gehört zu den Highlights in Belichtungszeit und ist eine verdammt coole Cyberpunkstory mit einem Protagonisten, der gegen Geld seinen kybernetisch verbesserten Körper verleiht. Mit der Exopersona-Technologie können User von überall auf der Welt seinen Körper übernehmen und ihre Fantasien ausleben. Wenn er Glück hat, nutzt eine Gehörlose die Chance, eine Oper mit seinen Ohren zu hören. Wenn er Pech hat, begeht jemand in seinem Körper einen Mord. In genau dieser beschissenen Situation, in der eine Leiche vor ihm und eine Waffe in seiner Hand liegt, erlangt der Protagonist die Kontrolle über seinen Körper zurück. Doch der User hat sein blutiges Werk noch nicht vollendet. Durch eine gestörte Verbindung erwacht der Protagonist immer wieder mitten in einem Amoklauf, dessen Ziel er nicht kennt. An seiner Seite eine weibliche Geisel, die sein Ziel unter allen Umständen beschützen will und der er versucht, klarzumachen, dass nicht er der Täter ist. Das ständige Verdrängen seines Bewusstseins durch den ominösen User erzeugt viel Spannung, da der Protagonist keine Erinnerung an die Ereignisse dazwischen hat und sich immer wieder in einer neuen, bedrohlichen Situation befindet. Und auch hier gibt es die unerwartete Wendung am Ende. 

Auch "Rekonstruktor" ist Cyberpunk und beginnt damit, dass der Protagonist eine junge Frau in einen Club verfolgt. Er verfolgt sie schon länger und will an diesem Abend seine Mission zu Ende bringen - und aus was genau diese Mission besteht, ist das Spannungsmoment dieser Geschichte. Ist er ein Stalker? Ein Auftragskiller? Der Titel gibt einen guten Hinweis, worum es geht, dennoch ist man letztlich überrascht und bekommt erneut eindrucksvoll die Schattenseiten futuristischer Technologie demonstriert. Das Ende ist ein wenig platt, man ahnt einfach, was da noch kommt. Vielleicht, weil die handwerklich durchweg gelungenen Geschichten von Thorsten Küper oft bestimmten Mustern folgen, die beim Lesen der Geschichten direkt nacheinander auffallen.

In "Demeters Garten" begegnen wir wieder skrupellosen Wissenschaftler*innen, die für ihre Forschung Grenzen überschreiten - hier in einem seltsamen Setting mit morbidem Humor. In der Forschungsanlage Demeters Garten wird unter anderem an Biowaffen geforscht, aber auch versucht, das zweite X-Chromosom von Frauen in ein Y-Chromosom zu verwandeln. Die Geschichte beginnt mit einer Konferenz, während derer die Beteiligten ihre Forschungsergebnisse vortragen und teils selbst zu Forschungsobjekten werden wie ein Wissenschaftler, auf dessen Schoß ein weiblicher Tintenfisch sitzt und sich festgesaugt hat. Die scheinbar "normale" Besprechung nimmt einen unerwarteten Verlauf, als eine unbeabsichtigt schwangere Versuchskuh einen riesigen Kokon gebärt. Die Wissenschaftler*innen müssen sich daraufhin ihren grausamen und moralisch verwerflichen Taten stellen und erfahren die Wahrheit über Demeters Garten. Eine Geschichte voll skurriler Ideen, die so übertrieben wie die Forschung des Umbrella-Konzerns in "Resident Evil" sind. Leider sind die Figuren überwiegend eindimensional und dazu unsympathische, sexistische Widerlinge. 

"Der Mechaniker" beginnt mit einer für einen Mann sehr peinlichen und gefährlichen Situation: Ein Adliger hat einen fatalen Patch für seinen NANBO 9.3, seinen weiblichen Haushaltsroboter und zugleich Nanny seiner Kinder, heruntergeladen. Es kam zu einem Konfliktüberlauf und nun kniet die Maschine zwischen seinen Beinen und droht ihm bei einer falschen Bewegung den Penis abzubeißen. Ein Servicetechniker soll sich um das Problem kümmern. Der erklärt dem Mann auch sehr genau, was zu seiner misslichen Lage geführt hat, hat aber ansonsten eigene Pläne und kann als Bonus für Gerechtigkeit sorgen. Denn bei dem Adligen handelt es sich um jemanden, der an der Erschaffung einer dystopischen Zukunft mit restriktiven Gesetzen zu Sexualität beteiligt war. Umso schöner ist es, diesem seine eigenen Gesetzesübertretungen vorzuhalten. Schade nur, dass auch diese Geschichte nur mit klischeehaften Frauenbildern arbeitet.

Als letzte Geschichte bekommt man den Titelgeber und das Highlight dieser Sammlung geboten: "Belichtungszeit" ist Atompunk par excellence. Die Beschreibungen der Atomic City, dem Las Vegas der 1950er, wirken zunächst wie eine alternative Zeitlinie oder Parallelwelt. Millionen Touristen strömen in die Stadt, um einen Blick auf die Atombombentests in der Wüste Nevadas zu erhaschen, es werden "Bomb Parties" gefeiert, "Atomic Cocktails" geschlürft und die "Miss Atomic Bomb" gewählt. Ein Atombomben-Glitzerparadies, das hässliche Risse bekommt, wenn man weiß, dass die Bombeneuphorie keine Erfindung des Autors ist. Die Menschen wussten es damals nicht besser und die Explosionen waren DIE Attraktion. Der Protagonist dieser Geschichte nutzt die Begeisterung junger, naiver Wissenschaftler für die Tests aus und lockt sie in seine Falle. Er verspricht ihnen, sie ganz nah an die Explosion zu führen, ihnen einen Platz mit bester Aussicht auf den irrsinnig grellen Blitz und den Atompilz zu verschaffen. Und das tut er auch. Nur was er danach mit seinen Opfern macht, überrascht und macht die Story zu Science Fiction. Thorsten Küper zeigt die naive Begeisterung der Menschen für die Atombombe, die noch nichts von den fatalen Auswirkungen der Tests ahnen. Der Protagonist spürt sie jedoch schon am eigenen Leib und so wird auch thematisiert, dass das US-Militär wusste, in welche Gefahr es die Menschen brachte. Somit wird die Geschichte zu einem perfekten Beispiel dafür, warum Menschen so leicht auf Verschwörungsmythen hereinfallen: weil in der Vergangenheit zu oft gelogen wurde und Menschenleben für Krieg und Profit geopfert.

Handwerklich sind alle Geschichten dieser Sammlung gut bis sehr gut und man erkennt überall die Handschrift Thorsten Küpers, der schonungslos menschliche Abgründe offenlegt, aber auch die letzten Funken Menschlichkeit aus moralisch fragwürdigen Charakteren herauskitzelt. Seine Protagonisten sind meist facettenreiche Figuren, bei denen man nie genau weiß, auf wessen Seite sie stehen und ob sie Gutes oder Schlechtes im Sinn haben. Letztere werden hier meist bestraft, während die mehr oder weniger Guten belohnt werden. Zumindest die, die die meisten Sympathiepunkt haben. Leider sind ausnahmslose alle Protagonisten männlich und unter den weiblichen Nebenfiguren finden sich fast nur Stereotype. Frauen sind hier meist Highheels-tragende Sexobjekte, einzig in "Spiegelbild des Teufels" erleben wir eine taffe Frau, die gewissermaßen Gerechtigkeit herstellt. Inzwischen sind vielschichtige Protagonist*innen verschiedener Geschlechter in der Science Fiction so normal, dass man sich hier an der rein männlichen Besetzung der Hauptrollen stört. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Geschichten schon älter sind, aber daran sieht man eben auch schön, warum immer lautere Forderungen nach mehr Diversität aufkamen.

Der derbe und düstere Schreibstil passt hervorragend zu den Cyberpunk- und Near-Future-Settings. Thorsten Küper hat ein gutes Auge für die entscheidenden Details und erzeugt so in fast jeder Geschichte viel Atmosphäre. Dazu sind die meisten sehr spannend, allein schon deswegen, weil sie mit einem Knall beginnen wie einem Mord, einer Flucht oder einer Festnahme. Da will man natürlich wissen, wie es dazu kommen konnte und noch ehe diese Neugier befriedigt ist, werden viele neue Fragen aufgeworfen. Garniert wird das Ganze mit meist überraschenden Wendungen, die die Geschichten nochmal in ein anderes Licht rücken. Es lohnt sich oft ein zweites und drittes Lesen und so manche Geschichte lässt einen nachdenklich und beeindruckt zurück.

Für die Gestaltung des Titelbilds wurde Künstliche Intelligenz verwendet und Tom Turtschi hat abschließend alles zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt. Im Anhang findet sich ein Nachwort von Michael K. Iwoleit, der besonders die Doppelbödigkeit und den Verschwörungscharakter betont und auch einige Geschichten erwähnt, die hier nicht enthalten sind. Da fragt man sich, wo die Sammlung (oder auch die Sammlungen) mit den restlichen Geschichten bleibt, die auch in der abschließenden (unvollständigen) Bibliografie aufgeführt sind.


Fazit

Belichtungszeit enthält neun überwiegend gute bis sehr gute Kurzgeschichten von Thorsten Küper, der seine Leserschaft immer wieder überrascht und mit vielschichtigen Protagonisten begeistert. Hier erlebt man hautnah die Schattenseiten futuristischer Technologien, blickt tief in menschliche Abgründe, entdeckt an unerwarteten Stellen Menschlichkeit und betrachtet fassungslos die aus heutiger Sicht vollkommen surreale Begeisterung für die Atombombe.


Pro & Contra

+ gelungene Auswahl guter bis sehr guter Kurzgeschichten
+ überwiegend facettenreiche Protagonisten
+ offenbart menschliche Abgründe, zeigt aber auch unerwartete Menschlichkeit
+ oft gelungene, überraschende Wendungen
+ "Projekt 38", "Exopersona" und "Belichtungszeit"
+ ansprechende Gestaltung mit Unterstützung von KI

- stereotype Frauenfiguren
- "Der Atem Gottes" und "Demeters Garten" sind im Vergleich zu plump

Wertung: sterne4

Geschichten: 4/5
Charaktere: 4/5
Auswahl: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Cyberpunk, deutschsprachige SF, Kurzgeschichten, Near Future, Atompunk, Thorsten Küper