Lena Richter (15.02.2023)

Interview mit Lena Richter

lena richter20232Literatopia: Hallo, Lena! Kürzlich ist Deine SF-Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ beim Verlag ohne ohren erschienen. Du bezeichnest die Novelle selbst als Space Portal Fantasy – was können wir uns darunter vorstellen?

Lena Richter: Portal Fantasy ist ein Überbegriff für Geschichten, in denen Personen durch Portale reisen. Das ist bei mir auch der Fall. Und naja, weil es halt in einem Science-Fiction-Setting spielt, ist es eben Space Portal Fantasy. Die Portale ermöglichen es jedenfalls, dass jedes Kapitel der Novelle in einem ganz anderen Setting spielt – auf Planeten, Raumschiffen und Asteroiden, in virtuellen Realitäten und in cyberpunkigen Metropolen.

Literatopia: Wer ist das Ich aus dem Klappentext? Und was erwartet sie/ihn/they (bitte passendes Pronomen einfügen) hinter dem Tor?

Lena Richter: Hah, leider kann ich da gar nix einfügen - dass die Lesenden nie erfahren, welche Pronomen die Hauptfigur verwendet, ist Absicht. Ich habe das nie festgelegt, genauso wenig wie Aussehen oder Alter. Das Ich aus dem Klappentext trägt den Namen Qui (ja, es ist auch Absicht, dass die Hauptfigur einfach „wer?“ heißt) und ist mein Versuch, sich von einer protagonistischen Figur so weit zu entfernen, wie es eben geht. Die Novelle hat als beschreibendes Schlagwort u. a. „Dies ist keine Heldenreise“ und zu selbiger gehört neben der Reise eben auch der Held – deshalb habe ich geschaut, wie weit man eigentlich kommen kann, wenn man die Erzählfigur so wenig wie möglich definiert. Natürlich hilft dabei, dass das Buch in der Ich-Perspektive erzählt wird und einige Dinge über Qui werden die Lesenden am Ende trotzdem erfahren haben. Aber ich fand es ein spannendes Experiment, nur das festzulegen, was unbedingt festgelegt werden muss.

Zur Frage, was hinter genau diesem besagten Tor ist, kann ich leider auch nichts sagen. Da gibt es viele Möglichkeiten.

Literatopia: In Deiner Zukunftsvision hat die Menschheit das All besiedelt. Wie leben die Menschen auf fernen Planeten? Begegnet Qui auch anderen Spezies? Und führen die Portale nur zu anderen Orten oder auch in andere Zeiten?

Lena Richter: Die Zeit verläuft in der Novelle trotz der Portalreisen linear, sodass Ereignisse aus frühen Kapiteln auch in den folgenden Bestand haben und Qui die Erinnerungen mit sich tragen kann (und muss). Da das Buch sehr episodenhaft ist, musste ich keine allgemeingültigen Aussagen über den Zustand der Galaxis treffen und die verschiedenen Schauplätze sind auch alle recht verschieden – von asteroidenumspannenden Metropolen bis zu einsamen Planeten und einem einzelnen Raumschiff auf langer Reise. Aber weil mir der kapitalismuskritische Teil der Geschichte sehr wichtig war, ist der galaxisweite Trend schon in Richtung Cyberpunk geraten. Es gibt einiges an futuristischer Technologie, die z. B. die Verständigung in anderen Sprachen erleichtert oder körperliche Einschränkungen ein Stück weit kompensieren kann, aber man muss sich das alles auch leisten können. Die Galaxis, die ich entworfen haben, wird in großen Teilen von gierigen Konzernen beherrscht, denen Menschen ziemlich egal sind. Gleichzeitig gibt es auch diejenigen, die sich dagegen auflehnen oder sich daraus ausklinken – und manche Welten, die so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie vom Rest der Galaxis gar nichts mitbekommen. Das Setting ist aber auf jeden Fall sehr viel queerfreundlicher als unsere aktuelle Realität, so viel Utopie muss dann doch sein.

Ob es auch andere Spezies in der Galaxis oder außerhalb davon gibt, wird die Menschheit erst noch entdecken müssen, zum Zeitpunkt der Novelle ist das noch nicht passiert. Auch die Portale führen nur zu Welten, die den Menschen bekannt sind. Es gibt etwas innerweltliche Spekulation im Buch darüber, ob das wohl heißen mag, dass die Portale dann menschengemacht sind, aber gesicherte Erkenntnisse fehlen. Letztendlich ist die Setzung ein kleiner Kunstgriff meinerseits, damit ich nicht erklären muss, wieso Qui auf all diesen Welten eigentlich atmen kann und nicht z. B. von der Schwerkraft zerquetscht wird.

Literatopia: Welche Rolle spielt Musik in Deiner Novelle? Und hast Du während dem Schreiben viel Musik gehört?

Lena Richter: Musik spielt in der Handlung der Novelle eine große Rolle, denn Qui kann mit Musik die besagten Portale öffnen. Naja, oder sagen wir: Manchmal, wenn Qui spielt, öffnet sich ein Portal, das wäre wohl die korrekte Formulierung. Qui macht also viel Musik, allein und vor Publikum. Auf die Idee, dass Musik der Schlüssel für die Reisen sein könnte, kam ich, als ich vor einigen Jahren an einem Straßenmusiker vorbeiging, der gerade das Ende seines Auftritts mit den Worten „This is my last song“ ankündigte. „Das wäre ein guter erster Satz für einen Text“, dachte ich mir damals, und die Idee von Portalen, die sich durch Musik öffnen lassen, gefiel mir. Ich habe dann beim Schreiben noch ein paar Musikgattungen, Instrumente und sonstige fancy Fachbegriffe nachgeschlagen, damit nicht so doll auffällt, dass ich selber nicht mal Noten lesen kann.

Gleichzeitig ist das alles natürlich irgendwo eine Metapher aufs Schreiben, gerade die Aspekte von „kann ich damit eigentlich etwas bewirken oder ist das alles sinnlos?“.

Zum Schreiben habe ich immer und immer wieder dasselbe Klavierkonzert auf YouTube gehört. Das passte von der Länge her super zu meinen 20-Minuten-Schreibslots. Eins der Lieder daraus ist auch auf der Playlist zur Novelle.

Literatopia: Warum hast Du Dich für ein SF-Setting entschieden? Was fasziniert Dich persönlich an Science Ficton?

Lena Richter: Ich habe lange eher Fantasy gelesen und mit Science-Fiction ein wenig gefremdelt, vor allem wenn sie sehr techniklastig und/oder militärisch war. Ich kenne auch viele der ganz bekannten SF-Klassiker bis heute nicht (und fühle mich immer sehr Imposter-ig, wenn ich trotzdem Artikel über Science-Fiction schreiben darf). Geändert hat sich das vor allem, als Autor*innen, deren Fantasy-Bücher ich toll fand, dann eben auch Science-Fiction veröffentlichten, wie beispielsweise "Roma Nova" von Judith Vogt. Auch meine nach "Episode 7" ziemlich hochgekochte "Star Wars"-Begeisterung hat sicherlich dazu beigetragen, ebenso wie Serien wie "Dark Matter", "Westworld" oder "The Expanse", die das Futuristisch-Technische mit interessanten, greifbaren und divers aufgestellten Charakteren verbanden. Und spätestens seit ich vermehrt das lese, was auf den Hugo- und Nebula Award-Shortlists steht (also z. B. die "Locked Tomb"-Reihe von Tamsyn Muir, die "Teixcalaan"-Dilogie von Arkady Martine, die "Unstoppable"-Trilogie von Charlie Jane Anders, ungefähr alles von Becky Chambers …), habe ich so viele und so tolle Science-Fiction-Bücher gefunden, die spannende, relevante und progressive Ideen verhandeln, dass ich das Genre inzwischen einfach in all seinen Facetten sehr mag. Vielleicht fühlt es sich im Moment auch einfach mehr nach Punk und Revolution an, trotz der Weltlage über mögliche Zukünfte nachzudenken? Ich weiß es nicht.

Bei der Novelle habe ich jedenfalls gar nicht darüber nachgedacht, ob ich das jetzt eher SF-lastig oder mehr in Richtung Fantasy angehe, obwohl die Portale als übernatürliches Phänomen für beides funktionieren würden. Aber durch das Musikthema, das ich mit der Möglichkeit eines großen Publikums und vielen futuristischen Instrumenten einfach interessanter fand, war es in meinem Kopf immer eine Science-Fiction-Geschichte. (Und immerhin muss ich mich jetzt etwas weniger Imposter-ig fühlen, wenn ich über SF rede.)

lena richter20231Literatopia: „Dies ist mein letztes Lied“ ist in geschlechtergerechter Sprache verfasst. Wie hast Du das umgesetzt?

Lena Richter: Geschlechtergerechte Sprache in Prosa umzusetzen ist für mich immer eine schöne Herausforderung. In „Dies ist mein letztes Lied“ habe ich die weniger schwierige Variante gewählt, denn in eine Science-Fiction-Welt passt es meiner Meinung nach durchaus, wenn der Genderstern verwendet wird, man also von Architekt*innen oder Pilot*innen spricht. Trotzdem habe ich, wo immer möglich, einfach neutrale Formulierungen (also z. B. Bewohnende statt Bewohner*innen) verwendet. Ich habe aber auch schon Texte geschrieben, in denen ich es passender zum Setting empfand, wenn keine Formulierungen mit Genderstern oder -unterstrich vorkommen, aber auch da kann man meist drumherum formulieren oder sich neue Begriffe überlegen. Es ist letztendlich eine Frage der Gewöhnung und Übung. Ich denke, dass es definitiv Genres und Settings gibt, in denen es gerechtfertigt ist, zum Teil und vor allem in wörtlicher Rede, weiterhin im generischen Maskulinum zu schreiben. Aber ich kann alle, die es mal in geschlechtergerechter Sprache versuchen wollen, nur dazu ermutigen – es ist gar nicht so schwer, wie man womöglich denkt.

Literatopia: Du bist eine von drei Herausgeber*innen des Magazins „Queer*Welten“, das seit 2020 erscheint. Wie hast Du die letzten drei Jahre damit erlebt?

Lena Richter: Drei Jahre Queer*Welten waren auf jeden Fall toll und aufregend! Bei der ersten Ausgabe waren wir überwältigt von dem Interesse daran – wir wurden sogar vom WDR interviewt und vom Deutschlandfunk besprochen, das war mega cool. Es war sehr erfüllend zu sehen, dass wir offenbar eine Lücke gefunden haben, die der deutschen Phantastik noch ein bisschen gefehlt hat, denn viele der ersten Texteinsendungen erreichten uns mit Anschreiben in die Richtung „ich weiß gar nicht, wer das sonst veröffentlichen würde“. Auch die Reaktionen der Lesenden freuen uns immer wieder sehr. Dass wir inzwischen auf Ausgabe 10 zusteuern, nach Schließung des Ach Je-Verlags, Wechsel zu Amrûn (unter dem Ach Je-Imprint), Umstellung des Erscheinungsrhythmus und des Umfangs und auch einem Wechsel in der Redaktion, und das alles trotz Kleinverlagskrise, Papiermangel und der generell gerade herausfordernden Weltlage – das ist manchmal schon ein kleines Wunder. Aber wir sind glaube ich ganz gut im trotzdem-immer-weitermachen.

Ein bisschen schade ist, dass die Reaktionen auf die einzelnen Hefte trotz des neuen Erscheinungsrhythmus von nur noch zweimal pro Jahr ziemlich nachgelassen haben. Wir kennen natürlich alle den großen Stapel ungelesener Bücher und Magazine im Regal, dazu der Alltag und der Stress, da bleiben Lesen und Rezensieren einfach oft auf der Strecke … trotzdem tut es mir immer ein bisschen weh, wenn es kaum Reaktionen auf den Inhalt gibt, vor allem für die Autor*innen, die teilweise ihre allererste Veröffentlichung bei uns haben. Umso mehr freuen wir uns über jede einzelne Reaktion und Rezension, auch auf Social Media oder per Mail.

Das Herausgeben von Queer*Welten ist jede Menge unbezahlte und zeitintensive Arbeit, die aber auch sehr viel Spaß macht. Wir freuen uns über jedes neue Heft und darüber, wie viele tolle Autor*innen wir selbst auch darüber kennenlernen und schon kennengelernt haben. Manche Autor*innen haben sich dadurch, dass sie alle bei uns veröffentlicht und darüber die Twitter/Instagram-Konten der anderen gefunden haben, untereinander auf Social Media vernetzt, was mich besonders freut, denn gemeinsam geht ja alles leichter. Und viele Leute, deren Geschichten wir gedruckt haben, konnten in den letzten 1-2 Jahren ihre Debüts feiern oder arbeiten gerade daran, auch das ist sehr schön zu beobachten. Womit ich nicht sagen will, dass Queer*Welten da einen großen Einfluss hätte, aber wie gesagt – viele Autor*innen habe ich selbst erst über ihre eingereichten Texte entdeckt und dann weiterverfolgt, was sie so veröffentlichen.

Literatopia: Wie teilt Ihr Euch untereinander die Arbeit als Herausgeber*innen? Hat jeder einen bestimmten Aufgabenbereich oder wird das je nach Zeit immer neu verteilt?

Lena Richter: Wir kümmern uns immer alle drei um alle Texte. Jede Einsendung wird von allen drei Herausgebenden gelesen, dann sprechen wir darüber, ob wir sie nehmen oder nicht (oder noch einmal um Überarbeitung bitten). Im Lektorat läuft es so, dass jeder Text ebenfalls von allen lektoriert und korrekturgelesen wird. Es gibt immer eine Ansprechperson, die die Kommunikation mit den Autor*innen übernimmt und den Text hauptsächlich betreut. Die macht dann den ersten Lektoratsdurchgang und die anderen beiden schließen sich mit ihren Anmerkungen und Vorschlägen dann entweder direkt oder nach der ersten Überarbeitung an.

Das Layout macht immer Judith, entsprechend lesen Heike und ich dann die Druckfahne noch einmal Korrektur. Heike kümmert sich um die Website, den Newsletter und oft auch um Organisatorisches, ich betreue die Social Media-Accounts auf Twitter und Mastodon. Andere Aufgaben, wie das Schreiben des Editorials oder des Queertalsberichts, unserer Rubrik zu Buch- und Veranstaltungstipps, teilen wir uns auf bzw. wechseln uns ab.

queer weltenLiteratopia: Bald erscheint die zehnte Ausgabe der „Queer*Welten“ – was erwartet uns in der Jubiläumsausgabe?

Lena Richter: In der erwarten euch wieder 5 tolle Kurzgeschichten, diesmal mit einem Schwerpunkt auf Science-Fiction. Dazu statt einem langen zwei kürzere Essays, die zum Jubiläum noch mal zum einen „Warum machen wir das eigentlich?“ und zum anderen „Wie machen wir das eigentlich?“ aufgreifen. Gerade läuft auch noch eine Sonderausschreibung zu handgeschriebenen Mini-Texten, davon finden sich also hoffentlich auch welche im Heft, und natürlich wird es auch wieder den Queertalsbericht mit Buchempfehlungen geben. Das Cover von Ludwig Karrel ist übrigens schon im Verlagsshop zu sehen. Ich find es sehr cool und science-fiction-esk.

Literatopia: Seit 2003 bist Du Rollenspielerin – bist Du darüber zum Schreiben gekommen? Wovon handelten Deine ersten Geschichten?

Lena Richter: Zur Frage, ob ich übers Rollenspiel zum Schreiben gekommen bin: Jein. Ich habe schon als Kind Geschichten geschrieben, während ich mit dem Rollenspiel erst anfing, als ich 18 war. Bevor ich Pen-and-Paper gespielt habe, habe ich aber schon ein paar Jahre mit Forenrollenspielen verbracht, also gemeinsam erzählten Geschichten, in denen jede Person eine oder mehrere Figuren verkörpert. Meine ersten Geschichten als Kind handelten meist von irgendwas, was ich gerade toll fand – als ich mit 11 oder 12 "Mila Superstar" geschaut hab, schrieb ich natürlich an etwas mit Volleyball-Bezug. Mit 16 dann die oben erwähnten Forenrollenspiele in der Welt von Mittelerde, nachdem mich die "Herr der Ringe"-Filme sehr begeistert hatten. Und kaum war ich zum Pen-and-Paper-Rollenspiel gekommen, schrieb ich eben Hintergrundgeschichten für meine Charaktere oder fiktive Zeitungsartikel basierend auf den erlebten Abenteuern. In meiner ersten langen Rollenspielkampagne machte ich in jeder Spielsitzung Notizen und fasste sie dann in einem ausführlichen Bericht zusammen – am Ende der 4,5 Jahre waren das ungefähr 100.000 Zeichen, also durchaus schon Romanlänge. Über meine Mitarbeit an der DSA-Newsseite Nandurion kam ich dann auch wieder zum Prosa-Schreiben, als wir dort einige Kurzgeschichtensammlungen in der Welt von DSA veröffentlichten. Rollenspiel hat mich also auf jeden Fall irgendwie immer am Schreiben gehalten.

Mein Einstieg in eigene Geschichten passierte parallel dazu. Mit Tino Falke, der hier ja auch schon interviewt wurde und den ich seit vielen Jahren kenne, habe ich 2013 einen Steampunk-Roman als Gemeinschaftsprojekt geplottet, der dann allerdings nie geschrieben wurde. 2014 habe ich einen Schreibkurs besucht, in dessen Rahmen auch eine Lesung mit eigenen Texten organisiert wurde. Dafür entstand meine Kurzgeschichte „Was einmal war“, die man auf meiner Website finden kann. Ich glaube, das war mein erster in sich geschlossener Text seit Teenie-Zeiten, der nicht in irgendeiner Weise auf bestehenden Welten basierte. Naja, und wie es mit Hobbys und Zeit so ist – ich musste erst das eine Projekt an den Nagel hängen, nämlich bei Nandurion aufhören, weil mich DSA mit dem Editionswechsel nicht mehr so interessierte, um dann wieder die Zeit zu haben, mich mehr aufs Schreiben zu konzentrieren. 2018 habe ich bei Nandurion aufgehört, 2019 hatte ich dann Glück und gleich meine erste Einreichung bei einer Ausschreibung landete in der Endauswahl und wurde veröffentlicht. Seitdem sind noch einige weitere Kurzgeschichten und jetzt die Novelle erschienen, außerdem veröffentliche ich seit ein paar Jahren auch Essays und Artikel zu allen möglichen phantastischen Themen, z. B. bei Tor-Online oder im Science-Fiction-Jahr.

Literatopia: Auf Social Media thematisieren wir oft die Probleme innerhalb der deutschsprachigen Phantastikszene, doch in den letzten Jahren ist einiges in Bewegung. Was hat sich aus Deiner Sicht zum Positiven verändert? Und woran müssen wir dringend noch arbeiten?

Lena Richter: Das ist ein sehr umfassendes Thema. Positiv finde ich, dass es überhaupt ein Bewusstsein für die Probleme und viele Versuche gibt, die deutschsprachige Phantastik zu verändern und moderner, progressiver und diverser zu machen. Es gibt durchaus ein Interesse an diesen Themen, mein Artikel auf Tor-Online vom letzten Jahr zu Queer Science-Fiction ist z. B. kein Vorschlag von mir gewesen, sondern auf Anfrage der Plattform entstanden. Einige Dinge haben sich meiner Meinung nach auch schon geändert. Als Beispiel fallen mir die Inhaltshinweise ein, die sich inzwischen in sehr vielen Büchern, darunter auch in einigen Großverlagstiteln finden. Ausschreibungen sind inzwischen sehr oft gendergerecht formuliert und viele haben inzwischen auch Passagen drin, die auf Own Voices, Outings, Namensnennung usw. eingehen. Es gibt Anthologien und gerade laufende Ausschreibungen, die sich speziell auf marginalisierte Lebenserfahrungen ausrichten. Sensitivity Reading ist für viele inzwischen selbstverständlich. Da sehe ich gerade im Indie-Bereich schon eine gute Entwicklung.

Oft wird Diversität aber leider noch als so eine Art Trendthema verstanden, das gerade angesagt ist und nächstes Jahr vielleicht wieder von Vampiren/Piratinnen/Zombies/Robotern abgelöst werden wird. Im Vergleich zur englischsprachigen Phantastik können wir noch längst nicht mithalten, was die Diversität von Autor*innen, Themen und Formaten angeht – auch wenn ich den Vergleich immer etwas schwierig finde, weil der Buchmarkt hier so viel kleiner ist und insgesamt einfach weniger Bücher erscheinen können. Trotzdem: Eine wirklich divers aufgestellte deutschsprachige Phantastik wird nicht erreicht werden, wenn wir Inhaltshinweise in Bücher drucken, ab und zu mal ein Panel zum Thema abhalten (auf dem am besten noch die Frage, ob wir denn *wirklich* mehr Diversität brauchen, verhandlungsoffen diskutiert wird), die Indie-Verlage und Self-Publisher unbeachtet und ohne Support vor sich hin wurschteln lassen – siehe dazu auch der Artikel von Sandra Thoms vom 30.01.2023 – und ansonsten einfach so weitermachen.

Letztendlich sind viele Probleme einfach in der Beschaffenheit des Buchmarkts begründet. Großverlage sind oft sehr darauf ausgerichtet, was sich am besten verkauft, Kleinverlage kämpfen ums Überleben, haben keine großen Budgets für Werbung und werden bei Preisverleihungen oft nicht ganz so sehr beachtet. Self-Publishing ist super, aber auch entweder mit Kosten für die Autor*innen oder mit „alles selber machen“ verbunden, was nun mal nicht jede*r gleichermaßen kann, aus verschiedensten Gründen. Wenn es immer noch eine Frage der eigenen Privilegien ist, ob und wie man einen Text veröffentlicht bekommt, wird es keinen großen Umsturz in der Phantastik (oder im ganzen Buchmarkt) geben. Damit will ich nicht abwerten, wie viele Leute sich bemühen und wie viel sich auch schon getan hat. Aber solange wir Kunst kapitalistischen Zwängen unterwerfen und viele Menschen in Lebensverhältnisse zwingen, die ihnen weder Zeit noch Energie für kreatives Schaffen lassen, kann sich nur im Kleinen etwas ändern. Kurz gesagt: Revolution in der Phantastik geht nicht ohne Revolution unseres ganzen Systems.

queer welten10Literatopia: Auf Deiner Website schreibst Du, dass Du zu viele Serien schaust und deswegen zu wenige Bücher liest. Welche Serien sind so gut, dass sie Dich vom Lesen abhalten?

Lena Richter: Zum Glück ist diese Passage auf der Website schon ein bisschen älter und inzwischen schaffe ich doch wieder etwas mehr zu lesen, auch wenn es kein Vergleich mit den viellesenden Leuten ist, die pro Jahr über 50 Bücher schaffen – aber immerhin 20-25 waren es bei mir in den letzten Jahren auch wieder. Aber ja, es stimmt, ich bin definitiv immer noch sehr Serien-affin. Dabei schaue ich ziemlich querbeet – phantastisches, realweltliches, Comedy, Drama, alles gut.

Zuletzt hat mich die Star Wars-Serie „Andor“ extrem begeistert, ich bin immer noch baff, dass fakking Disney eine so antifaschistische und in Teilen auch antikapitalistische Serie produziert hat. Nebenher rewatche ich gerade „Crazy Ex Girlfriend“ – Rachel Blooms Serie, hinter deren etwas abwertend klingendem Titel sich vier Staffeln verbergen, die gleichzeitig eine lustige Musicalserie und eine sehr gelungene Thematisierung von psychischen Erkrankungen sind. Als Fan von mehr oder weniger gut funktionierenden Teams mit Found-Family-Komponente liebe ich „Agents of SHIELD“, „Star Wars: Rebels“ und „Legends of Tomorrow“; letztere bedient auch meine Vorliebe für Meta-Humor. Bei ernsteren Serien stehen „Better Call Saul“ und „The Americans“ sehr weit oben.

Literatopia: Serien, Filme und Videospiele beanspruchen immer mehr Zeit und viele Menschen lesen immer weniger. Haben Bücher, vor allem Romane, aus Deiner Sicht eine Zukunft? Oder werden sich die Menschen immer weniger auf lange Texte konzentrieren können?

Lena Richter: Das ist eine spannende Frage. Ich sehe aktuell, wie meine Novelle von einigen Menschen tatsächlich sofort gelesen wird und ich habe auch z. B. von Patricia Eckermann mal gehört, dass ihre (sehr tolle!) Novelle „Elektro-Krause“ von einigen Lesenden vorgezogen wurde, weil sie so schön kurz ist. Ich kenne es auch selbst von mir, dass ich mir vom Bücherstapel im Alltag oft die Sache aussuche, die ich an einem Wochenende durchgelesen kriege und mir Längeres lieber für den Urlaub aufhebe – so sehr ich gerne die Person wäre, die abends im Bett noch eine Stunde liest, ich bin leider die Person, die abends im Bett alte Sitcoms schaut, bis sie einschlafen kann. Andererseits genieße ich es auch sehr, wenn ich im Urlaub dann in einen 500-Seiten-Roman eintauchen und ein paar Tage darin versinken kann. Zumindest für mich ist Lesen auch noch mal etwas ganz anderes als Serien/Filme schauen, irgendwie bringt es mich mehr runter und stößt viel mehr Impulse im Kopf an. Ich denke daher nicht, dass Bücher völlig aus der Mode kommen werden. Es ist aber auf jeden Fall richtig, dass sie mit sehr vielen anderen Medien konkurrieren und zumindest ich brauche fürs Lesen auch ein wenig mehr Wachheit und Konzentration, die im Alltag dann manchmal fehlt. Ehrlich gesagt hoffe ich einfach, dass wir gesellschaftlich gesehen mal ein Umdenken anstoßen, in dem nicht mehr die 40-Stunden-Woche Standard ist, sondern eine Vollzeitbeschäftigung sehr viel weniger Arbeitsstunden umfasst. Dann haben wir hoffentlich alle wieder mehr Zeit, sowohl für Serien als auch für dicke und dünne Bücher. Dazu empfehle ich jetzt einfach nochmal eine tolle Podcastfolge mit Theresa Bücker, die ein Buch namens „Alle_zeit“ über genau dieses Zeitknappheit und die Suche nach neuen Zeitmodellen geschrieben hat – ich habe es aber, oh the irony, noch nicht geschafft, es zu lesen.

Literatopia: Du hast inzwischen mehrere Kurzgeschichten und eine Novelle veröffentlicht – können wir bald auch einen Roman von Dir lesen? Verrätst Du uns, woran Du aktuell arbeitest?

Lena Richter: Bald leider nicht, fürchte ich – ich habe tatsächlich einen Roman in Arbeit, schon seit 2020. Allerdings habe ich ihn im halbfertigen Zustand erst einmal beiseitegelegt und stattdessen die Novelle geschrieben. Jetzt will ich mich da wieder reinfuchsen und das Manuskript zu Ende schreiben, aber auch wenn das klappt und der Roman einen Verlag findet, wäre die Veröffentlichung dann vermutlich nicht mehr unter „bald“ zu fassen. Aber ich hoffe, dass das Projekt – eine postapokalyptische Science-Fantasy-Geschichte mit Solarpunkanteilen und Magie – irgendwann erscheinen wird. Ansonsten arbeite ich gerade vor allem an der 10. Queer*Welten-Ausgabe und im Laufe des Jahres auch bestimmt wieder an neuen Kurzgeschichten, nachdem die letzten Wochen sehr vom Erscheinen der Novelle dominiert waren.

Apropos arbeiten: Ab April 2023 möchte ich meine freiberufliche Tätigkeit als Lektorin/Korrektorin und Übersetzerin ausbauen. Falls ihr als Projekte habt, für die ihr Lektorat oder Korrektorat oder Übersetzungen (Englisch zu Deutsch) braucht, meldet euch gerne bei mir!

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!


Autorinnenfotos: Copyright by Lena Richter

Website: http://lenarichter.com/

Rezension zu "Dies ist mein letztes Lied"


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.