Der Tod kommt auf Zahnrädern (Hrsg. Janika Rehak und Yvonne Tunnat)

 Buchcover "Der Tod kommt auf Zahnrädern" in Braun-, Rot- und Orangetönen: zu sehen ist eine Frau mit Ballonmütze und dickem Schal, die eine Schachfigur hält. Im Hintergrund sieht man stilisierte Zahnräder und Formeln.

Amrûn Verlag (Oktober 2022)
Taschenbuch, ca. 300 Seiten, 13,90 EUR
ISBN: 978-3958695009

Genre: Steampunk / Steamfantasy / Alternativwelt / historische Fantasy


Klappentext

Es knirscht, kracht und dampft im Getriebe. Nebel kriecht durch die Gassen und manchmal enthüllt er Dinge, die besser verborgen bleiben sollten.

Eine Schachpartie verändert den Lauf der Geschichte. Der Blick durch die Fotolinse zeigt Dinge, die sein könnten. Ganz leise erklingt eine Melodie, die ihrer Zeit weit voraus ist.
Hinsehen oder lieber wegschauen?

Fünfzehn Steampunk-Storys über das Leben, den Tod und den Raum dazwischen.


Rezension

Janika Rehak und Yvonne Tunnat haben mit "Der Tod kommt auf Zahnrädern" eine relativ düstere Steampunk-Anthologie herausgegeben, deren Geschichten sich um die Schattenseiten des Lebens und einen oft gewaltsamen Tod drehen. Hier wird gekämpft und gemordet, sich gegen den drohenden Tod aufgelehnt und leise gestorben. Auf Zahnrädern kommt der Tod allerdings selten, denn meist sind es Menschen, die einander benutzen, verletzten und töten oder sich selbst zerstören: 

Angelika Brox eröffnet die Anthologie mit der recht kurzen Zeitreisegeschichte "My Happiness", in der eine Berühmtheit in der Vergangenheit Zuflucht sucht. Diese wirkt jedoch kaum realistisch, sondern mehr wie eine Steampunk-Traumwelt, in der die Menschen wie Cosplayer wirken. Die Enthüllung der Identität des Protagonisten überrascht und begeistert wenig und so ist ausgerechnet die erste Geschichte eine der schwächsten. 

In "Damenopfer" von Lina Thiede liefern sich zwei Königinnen einen erbitterten Kampf im London des Jahres 1840 und führen ihre Verbündeten wie Schachfiguren. Eine davon ist die historische Königin Victoria, die andere eine vermeintliche Erbin des Throns. Eine schöne Idee mit spannenden Details, die jedoch zu knapp ausgeführt werden. Insbesondere die Schachelemente wirken wie wahllos eingestreut und ergeben kein sinnvolles Ganzes. Auch wundert man sich über eine Schwebebahn zu dieser Zeit, da die Funktionsweise nicht näher beschrieben wird und die Technologie zu modern für das ansonsten recht typisch dem 19. Jahrhundert entsprechenden Setting wirkt.

"Braunkreuz" von Michael Schmidt spielt in einer alternativen Zeitlinie 1924 und ließe sich damit dem Dieselpunk zuordnen. Die Widerstandgruppe Volt legt sich mit der Bayer AG an, die grausame Kampfstoffe herstellt. Protagonistin Alice will die Massenproduktion des Braunkreuz unbedingt verhindern und bringt große Opfer. In dieser Geschichte gibt es taffe Frauen und coole Steampunkgimmicks. Auch die düstere, industrielle Atmosphäre gefällt, allerdings verliert der Autor etwas den Faden und serviert ein zu schnelles, holpriges Ende mit Knall.

Tessa Maelle erzählt in "Tempus Fugit" von einer gut betuchten Dame mit einer besonderen Mission: Sie hilft Frauen, die Gewalt erfahren, und nutzt eine anbarische Apparatur, um die Täter zur bestrafen. Allerdings sind ihr die Spione der Anbarischen Aegide, die gegen die "ungenehmigte Anwendung anbarischer Energie" vorgeht, auf den Fersen - und ihr läuft die Zeit davon. Die Geschichte gefällt mit ihrem atmosphärisch inszenierten Setting im London des 19. Jahrhunderts sowie der Kompromisslosigkeit ihrer moralisch fragwürdigen Protagonistin, die bereitswillig den Preis für ihre Taten zahlt.

"Die Jagd nach Dampf" von Carolin Gmyrek ist ein Steampunkmärchen, das vom ersten Moment an fasziniert: In einem Wald erscheint ein Hirsch, der einen Jungen trägt - der widerum trägt ein mechanisches Puppenhaus auf seinem Rücken, das ihn am Leben erhält. Die Leser*innen erfahren, dass der Wald teils künstlich ist, dass verschiedenste Apparaturen die Pflanzen versorgen und dass sowohl der Hirsch als auch der Junge teils Automaten sind. Leider macht die Autorin wenig aus dieser spannenden Idee und inszeniert eine kurze, schwer nachvollziehbare und somit ärgerliche Jagd auf den Jungen und seinen Beschützer.

Aiki Mira bietet mit "Die Zukunft" das Glanzstück dieser Anthologie und bleibt nah an der historischen Wirklichkeit der Fotografie. Schon die erste Szene berührt und verstört, denn Protagonistin Oskar fotografiert ein totes Kind, was sie wohl regelmäßig tut. Oskar trinkt zu viel Alkohol und ist zu einem Ebenbild ihres verstorbenen Vaters geworden - und sie ist schwer verliebt in Aurelie, die widerum in die Fotografie verliebt ist und von Oskar lernen will. Der Test eines besonderen Apparats, der die Seele eines Menschen ablichten soll, verläuft höchst dramatisch. Eine relativ leise, dafür aber umso intensivere Geschichte mit gebrochenen Figuren, deren Emotionen auf die Leser*innen überspringen und die eine große technologische Entdeckung phantastisch und unheimlich inszeniert.

"Von Käfern, Schaben und anderem Ungeziefer" von Galax Acheronian ist eine steampunkige Heist-Story über den Wolken mit Crossdressing, reichlich Verwirrungen und einer mörderischen Intrige. Protagonist Johan ist ein gewiefter Dieb, der eine Apparatur, die an einen Käfer erinnert, nutzt, um sich am Luftschiff entlang zu den Kabinen reicher Passagiere zu hangeln. Er stiehlt nur Kleinigkeiten und nichts von großem Wert, um weniger aufzufallen, doch eines Tages stiehlt er etwas Unscheinbares, das für die Besitzerin unermesslich wertvoll und ein Beweismittel ist. Eine recht unterhaltsame Geschichte mit einigen Wendungen, die jedoch zu lang geraten ist und so zwischenzeitlich zu viel Spannung verliert.

Auch Janika Rehaks "Mechanical Circus" schlägt leisere, dafür umso eindringlichere Töne an und erzählt von einem jungen Mann, der als Kind ganz vernarrt in seinen mechanischen Zirkus war. Doch diese Kindheit scheint verloren. Nun soll Elliot auf ein Eliteinternat gehen und fürchtet sich davor, dort zu einem ebenso grausamen Menschen wie sein Vater erzogen zu werden. Einfühlsam beschreibt die Autorin das Erwachsenwerden Elliots in Zeitraffer mit Fokus auf die Ereignisse, die seine kindliche Seele tief erschüttert haben. Das Ende bleibt offen und lässt Raum für Interpretation.

"Hayes' Töchter und Söhne" lässt schnell die Handschrift von Thorsten Küper erkennen. Protagonist Hayes' erklärt Wupperdampf den Krieg, denn der Eisenbahnbauer hat junge Menschen seines Stammes entführt und aus ihren willenlose menschliche Automaten gemacht, die in den Fabriken ausgebeutet werden. Hayes hat einen Plan, über den man lange nur Mutmaßungen anstellen kann und der zu scheitern droht. Besonders gelungen ist die düstere, unheilvolle Atmosphäre sowie die Kritik an kapitalistischer Ausbeutung, die vor sprichwörtlicher Entmenschlichung nicht zurückschreckt. Manchen Leser*innen dürfte allerdings Hayes als "White Saviour" unangenehm auffallen, der die entführten Kinder eines indigen Stammes retten will, auch wenn er im kolonisierten Amerika seine wahre Heimat sieht und das Leid mitträgt. 

Uwe Post präsentiert in "Zero El Anarcho" Influencer-Satire als magischer Steampunk. Monsieur Quarzelt sieht sich in seinem Zeig-of-fon Aufnahmen von Zero El Anarcho an, der über Dampf und Kohle schimpft, während nebenan ein frivoler Djinn beschworen wird.  Später sieht er eine Gestalt, die an einem Zeppelin aufgehängt wurde und Zero verdammt ähnlich sieht - ein Skandal! Zu Beginn der Geschichte genehmigt sich Monsieur einen besonderen Trunk, der einen Sorgen und Verwandte vergessen lässt. Und Monsieur hat so einiges vergessen, das im Verlauf der Geschichte aufgeklärt wird. Eine interessante Idee, handwerklich gut ausgeführt, mit stark überzeichneten Figuren, die so manchen den Kopf schütteln lassen. 

"Lautes Sterben" von Frederic Barke ist ein dialoglastiger Steamfantasy-Krimi, der mit seinem Protagonistengespann gut unterhält. Georg Graf von Frankenberg und Inspector Peter Lannister haben schon so einige Mordfälle zusammen aufgeklärt, so wie auch diesen übernatürlichen Fall, bei dem ein Mensch mittels Verbrechen versucht, die Existenz der Sidhe zu enthüllen. Zwischendrin bleibt Zeit für Geplänkel, denn Vampir Lannister findet es äußerst bedauerlich, dass Frankenberg die untote Existenz ablehnt und lieber Altern und Sterben hinnimmt. Das Ende liest sich, als wäre dies nicht der letzte Fall der beiden.

"Sehnsucht" von Jol Rosenberg gehört zu den besten Beiträgen dieser Anthologie und begeistert mit Protagonist*in MIA, einem Steampunk-Cyborg auf der Flucht. MIA ist ein Militärisches Intelligentes Automaton mit Scharfschützenfunktion, doch es will nicht mehr töten und flüchtet aus der Kaserne. Es findet Unterschlupf bei armen Menschen, muss jedoch erneut flüchten, als seine wahre Identität aufzufliegen droht. Rosenberg offenbart nach und nach mehrere Geheimnisse um MIA, manche davon hat man erwartet, andere überraschen und berühren. Besonders gelungen sind MIAs unbeholfene Interaktion mit Menschen und deren unterschiedliche Reaktionen auf die merkwürdige Person, die die mechanischen Teile ihres Körpers versteckt.

Yvonne Tunnats "Morsche Haut" könnte fast eine historische Geschichte sein, wären da nicht bestimmte Merkwürdigkeiten, die in eine steampunkige Schauergeschichte münden. Es fängt harmlos an: Die Protagonistin sitzt im Zug und beobachtet die Menschen, um sie herum Kindergeschrei und ein seltsamer Junge, der löffelweise Senf isst. Auch dessen Mutter ist seltsam, von ihrem Schicksal gezeichnet - einem Schicksal, dass die Protagonistin vielleicht geteilt hätte, hätte sie sich nicht anders entschieden. Die relativ kurze Zugszene wird sehr eindrücklich beschrieben und dürfte vor allem Eltern unter die Haut gehen.

"Die Nacht des toten Gärtners" von Oliver Bayer ist eine Schauergeschichte mit Steampunkelementen, in der Protagonistin Rosina beim Pilze sammeln in düsteren Gärten ein wenig wie Alice im Schauerland wirkt. Dummerweise erschlägt sie vor Schreck einen Gärtner. Nun soll ein Doktor, der regelmäßig ihre Dienste als Zuhörerin und Bettgespielin in Anspruch nimmt, ihr helfen, die Leiche verschwinden zu lassen - doch die hat sich davongemacht. Gemeinsam mit Rosina entdecken die Leser*innen ein phantastisches Geheimnis und schmunzeln währenddessen über die seltsame Zweckbeziehung zwischen Rosina und dem Doktor, der mit dem Ergebnis seiner Forschung hadert. 

Uwe Hermann entwirft in "Wir von der kaiserlichen Reinigungskolonne" ein faszinierendes, düsteres Setting: Dampf wird aus einem mysteriösen Erz gewonnen und beschert der Kaiserstadt Reichtum, doch auch jede Menge toxischen Dreck, der nachts von Putzkolonnen in Schutzanzügen beseitigt wird. Die Männer sind rau wie ihr leben und anfangs plastische Figuren, die auf eine komplexe, gesellschaftskritische Story hoffen lassen. Als die Kolonne des Protagonisten eine Leiche findet, beschließen die Männer, diese verschwinden zu lassen, bevor ihnen noch etwas angehängt wird - ein schwerer Fehler. Ab hier ist der Protagonist auf der Flucht, stolpert regelrecht durch die immer haarsträubendere Handlung, die ihn zum unerwarteten und unglaubwürdigen Helden macht. Die Geschichte liest sich wie Fantasy mit Steampunkästhetik, die technologischen Elemente wollen nicht recht zusammenpassen, Physik geltet nichts und das auf den ersten Seiten spannende Worldbuilding verkommt zu einer überzeichneten Kulisse. 

"Der Tod kommt auf Zahnrädern" bietet viel Abwechslung mit unterschiedlichsten Subgenres: klassischer Steampunk trifft auf Ätherpunk, Dieselpunk, Steamfantasy, historische Fantasy und steampunkige Schauergeschichten. Oft lassen sich die Geschichten auch mehreren Spielarten zuordnen und hier und da finden sich Anspielungen auf bekannte historische Werke. Setting ist genretypisch oft Großbritannien und Deutschland, manche setzen aber auch auf eigene Welten und zeichnen diese auf wenigen Seiten lebendig. Begeisterung rufen vor allem die leiseren Geschichten hervor, die nah bei ihren Protagonist*innen bleiben, dabei viel über deren Lebensrealität offenbaren und so unter die Haut gehen und nachhallen. Andere setzen auf coole und kreative Steampunktechnologie, so mancher übertreibt es allerdings und wirft zu viele unterschiedliche Elemente zusammen. Steampunk harmoniert wunderbar mit Fantasy und macht so möglich, was eigentlich unmöglich ist. Trotzdem sollte alles im Kontext der entworfen Welt stimmig sein - bei einzelnen Beiträgen in dieser Anthologie passt es jedoch nicht und einige nutzen in der Kürze nicht ihr Potential. Positiv fallen die unterschiedlichen Längen der Geschichten auf, auch wenn man manche etwas hätte straffen können und anderen etwas mehr Raum geben. Insgesamt liegt die Stärke dieser Anthologie in ihrer Vielseitigkeit, was zwangsläufig bedeutet, dass hier und da der persönliche Geschmack verfehlt wird. 

Das Taschenbuch wartet mit einem stimmungsvollen Cover in steampunkigen Farben und einer gelungenen Innengestaltung auf. Die Schriftart der großen Kapitelüberschriften passt mit ihren geschwungenen Lettern perfekt zum Inhalt, eine Graphik braucht es da gar nicht. Ein Vorwort der Herausgeber*innen stimmt auf die Texte ein und im Anhang finden sich die Kurzbiographien der Autor*innen sowie Content Notes zu jeder Story. 


Fazit

"Der Tod kommt auf Zahnrädern" bietet 15 sehr unterschiedliche Kurzgeschichten, die einen großen Teil der vielseitigen Steampunk-Varianten abdecken und so einen guten Überblick über das Genre geben. Von Ätherpunk über Steamfantasy bis hin zu Dieselpunk und Schauergeschichten ist nahezu alles dabei. Einzelne Geschichten gehen unter die Haut und beeindrucken mit kreativen Ideen, viele unterhalten gut, manche gehen am persönlichen Geschmack vorbei und wenige überzeugen nicht. 


Pro & Contra

+ bedient verschiedenste Steampunk-Subgenres 
+ schön abwechslungsreich, auch durch unterschiedliche Längen der Geschichten 
+ "Die Zukunft" von Aiki Mira und "Sehnsucht" von Jol Rosenberg
+ düster, morbide und schaurig
+ gelungene, steampunkige Gestaltung

- ungenutztes Potential bei mehreren Geschichten
- teilweise wirken die Steampunkelemente nicht stimmig

Wertungsterne4

Geschichten: 3,5/5
Auswahl: 3,5/5
Gestaltung: 4,5/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Steampunk, Steamfantasy, Alternative Geschichte, historische Fantasy, Aiki Mira, Kurzgeschichten, Thorsten Küper