Am Abend kamen die Schnecken (Horst Pukallus)

am abend kamen die schnecken

p.machinery (November 2022)
Paperback, 166 Seiten, 14,90 EUR
ISBN 978 3 95765 306 2
E-Book: ISBN 978 3 95765 799 2 - 4,99 EUR

Genre: Kurzgeschichten / Science Fiction / Horror


Klappentext

Horst Pukallus, 1949 in Düsseldorf geboren, gehört als Autor, Übersetzer, Kritiker und Herausgeber zu den führenden Persönlichkeiten in der deutschsprachigen Fantastik der Nachkriegszeit. Die vorliegende, seine vierte Kurzgeschichtensammlung demonstriert erneut die Bandbreite seines Schaffens.

Einige Geschichten sind beklemmende Kammerspiele, die aus Alltagssituationen erwachsen und Bigotterie und geistige Verarmung bloßlegen. Andere projizieren die Rituale der Macht in ferne Zeiten und Welten und lassen durch die Verfremdung allzu irdische Mechanismen der Manipulation und Unterdrückung umso schärfer hervortreten. Wieder andere sind Satiren von hintergründigem Witz, die Absurditäten unserer entfesselten Medienwelt aufs Korn nehmen.

Immer geht es in Pukallus‘ Geschichten um Selbstbehauptung, die Bewahrung menschlicher Würde und Werte gegen Angriffe aus Kommerz und Politik.


Rezension

Horst Pukallus ist ein echtes Urgestein der deutschsprachigen Science Fiction, dennoch ist sein Name weitgehend unbekannt, da seine Romane meist unter Pseudonym für diverse Heftreihen erschienen sind oder er als Co-Autor neben Namen wie Andreas Brandhorst unterging. Er wurde mehrfach mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet, allerdings in seiner Haupttätigkeit als Übersetzer - und die meisten schauen nun einmal nur auf den Autorennamen, nicht auf den des Übersetzers. Franz Rottersteiner fasst dieses Dilemma im Vorwort zu "Am Abend kamen die Schnecken" zusammen und hebt Pukallus' Kurzgeschichten und Novellen hevor, von denen sich in dieser Sammlung acht überwiegend neuere bzw. neu überarbeitete Texte finden:

Den Auftakt macht "Selfie mit Alien" (2016) - ein kurzer Text, der aus fünf Seiten Dialog besteht. Beteiligt sind eine Agentin, ein Agent und ein Zeuge, der das titelgebende Selfie mit einem Alien gemacht hat. Dem Zeugen war auch durchaus bewusst, dass es sich um einen echten Außerirdischen handelte, doch er ist eigentümlich gleichgültig, eher genervt von der Begegnung und macht sich vor allem Sorgen darum, dass noch mehr Aliens kommen, die auf der Erde Asyl wollen. Das Ende des Dialogs ist unangenehm überraschend und entlarvt endgültig, um was für einen Menschen es sich bei dem Zeugen handelt. Das Erschreckende daran: so wie der Zeuge sprechen viele auch über menschliche Migrant*innen - und man kann sich gut vorstellen, dass solche Leute selbst auf eine außerirdische Begegnung mit dieser Mischung aus Gleichgültigkeit, Egoismus und Ressentiments reagieren würden.

"Beweint die Nacht" (2020) beginnt als Alltagsgeschichte und mündet gemächlich in blutigen Horror: Protagonist Erasmus Wasmut betreibt einen kleinen Laden mit afrikanischen Antiquitäten und muss sich mit üblen Kunden herumschlagen, die sich kaum für den historischen Wert der Objekte interessieren, sondern eher "mit Menschenblut bespritzte" Fetische suchen. Zunächst erklärt Erasmus Wasmut noch freundlich, dass er so etwas nicht führt und es so etwas auch nicht gab, doch als sein persönlicher Alptraumkunde erscheint, reißt ihm der Geduldsfaden. Eine makabre Geschichte, die den alltäglichen Wahnsinn im Einzelhandel einfängt und auf die Spitze treibt. Mit afrikanischen Antiquitäten schneidet der Autor ein heikles Thema an, das für die Kürze nicht unbedingt geeignet ist.

Hinter dem wenig ansprechenden Titel "Los 666" (2019) verbirgt sich die längste und vielseitigste Geschichte der Sammlung. Der Ich-Erzähler, ein Mann gehobenen Alters, hält zwar nichts von Statistiken, lässt sich jedoch gerne dafür bezahlen, Daten auf dem paradiesischen Planeten Lakuna zu erheben. Entsprechend schaut er sich verschiedene Orte auf Lakuna an, unterstützt von seinem Neurosymbionten Hermes. Eine herausragende Rolle spielt dabei ein begehbares Kunstwerk. Zunächst erscheint die Geschichte eine recht wahllose Aneinanderreihung von Besichtigungen und Restaurantbesuchen zu sein, doch nach und nach laufen die einzelnen Fäden bei einem Künstler und einem seltsam teilnahmlosen Mädchen, das er als seine Tochter bezeichnet, zusammen. Lakuna ist ein ungemein spannendes Setting, über das man leider weniger erfährt, als erhofft. Pukallus beschränkt sich auf die Sicht seines Protagonisten, in dessen Blick eine gewisse Arroganz liegt, die ihn zunehmend unsympathischer macht. Auch wenn letztlich alles Sinn ergibt, ist man am Ende über die verengte Perspektive des Protagonisten enttäuscht. Gelungen dagegen ist die Entlarvung menschlicher Gier sowie ausbeuterischer und betrügerischer Strukturen. Zudem gelingt es dem Autor, trotz gemächlichem Erzähltempo zu fesseln.

"Das letzte Ei der Erde" (2020) spielt in ferner Zukunft, in der die Menschheit längst von KIs, Robotern und verschiedensten Mutanten abeglöst wurde. Die unterschiedlichsten Fraktionen der Panterranischen Administratie diskutieren über ein rundliches Objekt, das man für ein Ei hält, während der Mega-Neuromorphik-Computer Phosphoros alles protokolliert (und sich nebenbei um alles andere kümmert). Phosphoros verfolgt die durchaus amüsante Diskussion leicht genervt, man spürt mit jedem Satz deutlicher, was er von den unterschiedlichen Wesen hält - man könnte auch ihn als arrogant bezeichnen, wobei er das als Superintelligenz durchaus sein darf. Die Geschichte endet mit einer peinlichen Erkenntnis und auch wenn hier auf wenigen Seiten extrem viele unterschiedliche futuristische Kulturen inklusive unzähliger Neologismen gequetscht werden, fühlt man sich gut unterhalten und kann über das Ende schmunzeln. 

Der Marsmond Phobos ist in "Sklaven der Furcht" (2020) die erste Station für Flüchtlinge von der Erde. Hier entscheiden Mitarbeiter der MMB (Marsianischen Migerationsbehörde) über das Schicksal einer terranisch-amerikanischen Familie. Die äußere Erscheinung der Familienmitglieder irritiert die Marsianer: der Vater ist leicht bekleidet, sodass zu sehen ist, dass sein gesamter Körper von leuchtenden Tattoos bedeckt ist. Die Mutter hat einen seltsam verdrahteten Kiefer und die Kinder wirken unruhig und überreizt. Zudem gibt es Kommunikationsprobleme. Die Mitarbeiter der MMB lassen sich von ihren Vorurteilen mitreißen, stellen haltlose Annahmen über die Familie auf und treffen letztlich eine unmenschliche Entscheidung. Die Bezüge zum Umgang mit Flüchtlingen, insbesondere mit islamischem Hintergrund, in der EU und in Deutschland sind eindeutig. MMB-Inspectora Eusapiata ist die einzige, die sich um Neutralität und Offenheit bemüht, doch letztlich fügt sie sich den Ressentiments ihrer Kollegen. Dennoch ist sie eine der wenigen gelungenen Frauenfiguren in dieser Kurzgeschichtensammlung.

"Der Leguan des Mandanten" (2014 und 2017) ist ein experimenteller Text, der sich um eine Gerichtsverhandlung dreht und scheinbar wahllos Dialogfetzen aneinanderreiht. Alle Beteiligten schreien durcheinander: Angeklagter, Ankläger, Richter, Anwälte, Zeugen und Zuschauer. Es ist ein einziges Chaos voller Anfeindungen und hässlichen Beleidigungen. Pukallus erläutert im Nachwort die Anwendung der sogenannten "Cut-Up-Methode". Ein interessantes Experiment, zu dem wohl viele keinen Zugang finden, inklusive der Rezensetin.

"Der Lockentenschnitzer von Beteigeuze XIV" (1999 und 2020) liegt hier in einer überarbeiteten Version vor. Die Geschichte spielt in ferner Zukunft, die Menschheit hat die Galaxie besiedelt und ein hyperkapitalistisches System mit Energielords hervorgebracht, die ihre Energiekommisare ausschicken, um aus jedem Planeten den maximalen Profit herauszupressen. Dem ambitionierten Energiekommisar Cestodes kommt jedoch ein lockentenschnitztender Einsiedler in die Quere, hinter dem sich mehr verbirgt, als man anfangs glaubt. Der Text ist überladen mit Neologismen und Aneinanderkettungen von Fachbegriffen, hinzu kommt das pompöse Gehabe des Energiekommisars und seiner Entourage sowie eine kaum überschaubare Zahl von futuristischen Technologien, deren Nutzen nicht immer gegeben scheint. Alles ist stark überzeichnet, was sich teils amüsant liest - teils muss man sich aber auch durch diesen Text kämpfen. Ein Beispiel: "Nahezu außer sich durch das Erregende dieser heiligen Stunde führte Cestodes vor dem neutrinodirektionalisiert übermittelten Eidolon des Energielords die rituelle Verbeugung aus, die er für so seltene Anlässe viele Male pro Woche mit dem Tasuku-Hypnopädie-Verbeugungsautomaten übte." Wer sich diesem überladenen Text stellt und mit den vielen Wortschöpfungen sowie dem übertriebenen Gehabe der Figuren zurechtkommt, wird mit einer recht unterhaltsamen Geschichte inklusive Kapitalismuskritik belohnt. Leider spielen hier - wie in nahezu allen Geschichten dieser Sammlung -  weibliche Figuren kaum eine Rolle. Einzig zu nennen ist die Halbschwester und Gattin des Energiekommisars, die eine Intrige plant, wobei ihr Handlungsstrang am Ende völlig untergeht.

Die titelgebende Geschichte "Am Abend kamen die Schnecken" (2017) beginnt mit einem lebensbedrohenden Desaster, dessen Entstehung im Folgenden erzählt wird. Das Forscherteam der Exequator steckt in gewaltigen Schwierigkeiten und sieht sich einer Armee von Monsterschnecken gegenüber. Spannung entsteht vor allem aus der Frage, wie es dazu kam und ob es nicht vielleicht doch eine Überlebenschance gibt, auch wenn die Lage aussichtslos erscheint. Pukallus erzeugt kräftig Atmosphäre und man verfolgt gespannt die ersten Schritte auf dem fernen, kargen Planeten. Spannend ist auch die Perspektive des Protagonisten, der für die Sicherheit des Teams zuständig ist und seine Handlungen stets mit seiner Aufgabe abstimmt. Weniger interessant sind die anderen Figuren, vor allem die weiblichen erscheinen stereotyp. In der Zukunft dieser Kurzgeschichte gibt es deutlich weniger Männer als Frauen, sodass diese mächtiger sind - der Autor geht jedoch nicht näher darauf ein und zeichnet von den Frauen lediglich Klischees (inklusive lächerlicher sexueller Ambitionen), über die man sich beim Lesen ärgert. 

Die acht in dieser Sammlung erschienen Texte sind thematisch und stilistisch sehr unterschiedlich, sodass man einen beeindruckenden Überblick über die Bandbreite der schriftstellerischen Tätigkeit des Autors bekommt. Insbesondere die in ferner Zukunft angesiedelten Geschichten sind sehr atmosphärisch geschrieben, leiden aber unter einem Übermaß von Neologismen und Verkettungen von Fachbegriffen. Das Spiel mit der Sprache steht dabei oft über dem Inhalt, der erstaunlich leicht auf einen Punkt zu bringen ist, wenn man all das schmückende Beiwerk zur Seite räumt.

Viele der überwiegend männlichen Figuren blicken mit Geringschätzung auf andere Menschen und überhöhen sich selbst, sie geben sich Vorurteilen hin und ärgern sich über die Unfähigkeit ihrer Mitmenschen. Sympathieträger findet man hier nur wenige, die braucht es aber auch nicht unbedingt. Dennoch hätte man sich über den einen oder anderen Text, in dem die positiven Eigenschaften von Menschen hervorgehoben werden, gefreut. Pukallus konzentriert sich stattdessen lieber auf die menschlichen Abgründe und auch wenn die Geschichten auf fernen Planeten spielen, erkennt man die Bezüge zu unserer Gegenwart.


Fazit

"Am Abend kamen die Schnecken" enthält acht neuere beziehungsweise neu überarbeitete Texte des schriftstellerisch sehr aktiven und dennoch wenig bekannten SF-Autors Horst Pukallus, der sich überwiegend schädlichen Charakterzügen wie Gier, Egoismus, Geringschätzung und Vorurteilen widmet. Seine Geschichten sind stets entlarvend und nutzen oft Überzeichnung als Stilmittel. Spannend sind vor allem die Bezüge zur Gegenwart, auch wenn sie manchmal unter eine Flut von Wortschöpfungen und Fachbegriffen verborgen sind. Eine abwechslungsreiche, jedoch teils schwer zugängliche Sammlung.


Pro & Contra

+ thematisch und stilistisch sehr unterschiedliche Kurzgeschichten und Novellen
+ "Beweint die Nacht", "Los 666" und "Sklaven der Furcht"
+ entlarvt Gier, Egoismus und Ressentiments
+ ansprechende, schlichte Gestaltung

- teilweise übermäßiger Einsatz von Neologismen und Verkettung von Fachbegriffen
- weibliche Figuren sind kaum vorhanden und wenn doch, entsprechen sie Klischees

Wertung: sterne3.5

Geschichten: 3,5/5
Charaktere: 3/5
Auswahl: 4/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5

Tags: Space Opera, Novellen, deutschsprachige SF, Kurzgeschichten