Die Geschichte von Romana (Sofia Andruchowytsch)

andruchowytsch geschichte amadoka 1

Residenz Verlag, 2022
Originaltitel: Амадока (2020)
Übersetzung von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck
Gebunden, 304 Seiten
€ 25,00 [D] | € 25,00 [A] | CHF 37,90
ISBN 978-3-7017-1763-7

Genre: Belletristik, historischer Roman


Rezension

In antiken Quellen (Herodot, Ptolemäus) existieren Hinweise auf den See Amadoka, ferner Karten aus dem Mittelalter. Ob es diesen größten europäischen See tatsächlich einmal gegeben hat, ist unklar. Wenn, dann lag er in der heutigen Westukraine. Der Roman Amadoka von Sofia Andruchowytsch, erschienen im Jahr 2020, erzählt drei schmerzhafte Episoden aus der ukrainischen Geschichte, jeweils am Beispiel menschlicher Schicksale, die sich entfalten vor dem Hintergrund der Annahme, dass der See Amadoka tatsächlich existierte. Wie kann ein solch großer See spurlos verschwinden? Eine ganze Kultur, menschliches Wissen, Gedächtnis und Bewusstsein?

Im ersten Band des in deutscher Übersetzung als Trilogie erscheinenden Romans, Die Geschichte von Romana, hat ein Soldat im seit 2014 andauernden Krieg im Donbass schwere Verletzungen und eine retrograde Amnesie erlitten. Er wird in einem Krankenhaus in Kyjiw behandelt. Niemand scheint ihn zu kennen, niemand kann ihn wiedererkennen: „Er war noch immer das entstellte Monster mit den zertrümmerten Backenknochen und der gebrochenen Nase, mit dem schiefen Schädel und einer ganzen Sammlung von Schmerzen im Körper.“ (Es gibt einige solche Beschreibungen in dem Roman.)

Die Psychiaterin Emilia Slonowa versucht ihm zu helfen. Zu Beginn der Erzählung findet sie heraus, dass er sich mit Aquariumsfischen auskennt, viel über sie weiß, auch die lateinischen Namen. Nach einiger Zeit taucht die Archivarin Romana im Krankenhaus auf und sagt, er sei ihr Mann Bohdan. Romana ist vielleicht seine Ehefrau und will ihm helfen, seine Erinnerungen zurückzugewinnen. Während sie dies versucht, rekonstruiert sie sein Gedächtnis mit neuen Erinnerungen. Sie konstituiert für ihn eine neue Wirklichkeit und familiäre Zusammenhänge. Sehr langsam steigt er aus der Asche seiner Vergangenheit auf, jedoch widerwillig. Er will vielleicht gar nicht in sein altes Leben zurück.

Erzählt wird in der dritten Person Singular. Während der Lektüre stellt sich das Gefühl ein, die Erzählinstanz sei die Autorin Sofia Andruchowytsch/Romana. Die Erzählerin ist unzuverlässig. Da sie mit beruflicher Professionalität ihrer Arbeit nachgeht, ist dies nicht sofort klar. Während wir darüber lesen, muss sie immer mitgedacht werden. Irgendwie gerät sie, auch wenn sie darauf achtet, dies zu vermeiden, immer wieder in das sich entwickelnde Narrativ, welches nicht objektiv sein kann. Ihre persönlichen Vorstellungen, Befindlichkeiten und Wahrnehmungen beeinflussen ihre Arbeit mit Bohdan wie auch ihr Verständnis dessen, was sie dabei erfährt.

Ist erst einmal klar, dass sie unzuverlässig ist, stellt sich als nächste Frage die nach der Qualität dieser Unzuverlässigkeit. Oder anders: Wie zuverlässig ist sie als Erzählerin? Einerseits ist sie Archivarin, sammelt, erschließt und bewahrt Informationen; andererseits heißt sie Romana, verweist mit ihrem Namen auf die Fiktion, aber auch auf die Antike und stellt so eine Verbindung zur Archivarin her. Bei Bohdan versucht sie nicht zum ersten Mal, ein Leben aus Daten und Artefakten zu konstruieren. An ihrem Arbeitsplatz sah sie aus dem Fenster und rekonstruierte das Leben der Personen, die sie sah, „dachte sich die kleinsten Details aus, ihren Charakter, emotionale Besonderheiten, zugleich aber stellte sie sich im Archiv Stück für Stück das Leben einer berühmten Persönlichkeit zusammen (…)“.

Romana lernt Bohdan kennen, als der vier Koffer mit Dokumenten an ihren Arbeitsplatz bringt. Sie treffen einander, verlieben sich und sind in der Gegenwartshandlung Jahre verheiratet. Bohdan geht als Soldat in den Donbass und ist irgendwann verschollen. Romana sucht Kontakt zu seinem Vater, einem Professor für plastische Chirurgie. Im umfangreichsten Teil des Romans, „Der Professor“, entwickelt sich eine intensive Nähe zwischen den beiden Menschen. Der Professor erzählt Romana sein Leben, das zur individuellen Geschichte wird, zur Geschichte der Familie und des Landes. Romana sucht gegen den Willen des Professors seine krebskranke Frau im Krankenhaus auf. Der Professor und Romana trennen sich im Streit. Am Abend der Versöhnung erfahren sie in einem Telefonat mit der Kommandantur, dass Bohdan noch am Leben ist.

Andruchowytsch verwendet keine unzuverlässige Erzählinstanz, um die Leser*innen in die Irre zu führen oder zu erhöhter Aufmerksamkeit zu veranlassen. Sie ist unzuverlässig, weil sie sich auf einem Suchweg befindet und ein Narrativ entwickelt, von dem sie allenfalls ungenaue Vorstellungen hat. Hier wird die Verbindung zum See Amadoka als Metapher besonders deutlich. Romana verbringt viel Zeit in den Bruchstücken eines anderen Lebens, versucht Erinnerungen zu einer Biografie zu fügen.

Erinnerungen, Perspektiven auf Gewesenes, werden archäologisch freigelegt, miteinander verknüpft, hinterfragt, neu verknüpft. All dies führt auf die Frage nach der Funktionsweise von Erinnerungen und deren internem Sinn. Heute wird ständig gefragt, was irgendetwas mit Menschen macht. Also: Was macht ein Mensch mit Erinnerungen, was machen Erinnerungen mit einem Menschen. Ein spannendes Thema, bei dem es nicht nur um Sprache geht, sondern auch um sensorische Phänomene. Gerade in der Zeit, in der Bohdan nicht bis kaum sprechen kann, mit Worten nichts anzufangen weiß, aber in seinem Umfeld sehr viel wahrnimmt, was ihn irritiert.

Verschiedene Dinge lassen vielleicht an Romana zweifeln. So die leicht argwöhnische Beobachtung der Psychiaterin, Bohdan würde nicht wie Romana sprechen, und im Schlaf spreche er sogar russisch. Die Verbindung von Bohdan und Amadoka, wobei Amadoka metaphorische Bedeutung erlangt, stellt auf die Frage ab, ob der Zusammenhang von Erinnerung und Verlust, einer natürlichen oder zufälligen Logik folgt.

Bis zum Schluss ist unklar, ob Bohdan sich (nicht) an Romana und sein Leben erinnert. Romana selbst ist bis ans Ende eine enigmatische Figur. Bei aller Unzuverlässigkeit und allen Zweifeln sei aber die Frage gestattet, warum eine Frau einen kriegsversehrten Mann, der sich selbst als Monster bezeichnet, als ihren Mann ausgeben sollte. Erklären lässt sich dies aus meiner Sicht sinnvoll nur mit der Annahme, dass sie überzeugt ist, ihren Mann vor sich zu haben. Sie kann dies vielleicht nicht endgültig wissen, aber sie erkennt ihn ja schon früh an körperlichen Details. Ist das Liebe? Den Anderen zu erkennen, der sich nicht einmal selbst erkennt?

Auf einer anderen Ebene ist es eine Geschichte darüber, dass Menschen durch das Leben deformiert werden, wie Bohdan und seine Kameraden im Krankenhaus; wie Romana, die auf dem Rücken eine Narbe hat, Erinnerung an Schreckliches; einige Deformationen bietet die Lebensgeschichte des Professors. Eine Geschichte der Tragödien, kleiner wie großer, wobei klein nicht mit relativ unbedeutend zu verwechseln ist. Persönliche Tragödien, familiäre, bis hin zu nationalen. Als am Ende Romana auf Facebook Posts über sich und Bohdan einstellt, hat sie die Kontrolle über ihre Geschichte im öffentlichen Raum verloren. In einer Vielzahl von Reaktionen kommt es über Likes hinaus zu Aneignungen, Umdeutungen, Verzerrungen und ideologischem Missbrauch.


Fazit

Die Geschichte von Romana ist eine Verbindung aus zeitgenössischem und historischem Roman über die Möglichkeiten und Beschränkungen des Erinnerns. Ein Text über das Verschwinden von Welten und Kulturen, was von ihnen übrigbleibt oder an ihre Stelle tritt, zugleich eine nicht alltägliche Liebesgeschichte.


Wertung:sterne4

Handlung: 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5

Tags: Kriegsdrama, Liebesgeschichte, unzuverlässige Erzählinstanz, Sofia Andruchowytsch, Ukraine, Erinnerung und Gedächtnis