Klimazukünfte 2050 - Geschichten unserer gefährdeten Welt (Hrsg. Klimahaus Bremerhaven, Respekt! – Die Stiftung, books 4 future, Writers For Future, Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Fritz Heidorn und Sylvia Mlynek)

klimazukuenfte2050

Hirnkost (April 2023)
Hardcover, 484 Seiten, 25,00 EUR
ISBN: 978-3-949452-93-2

Genre: Climate Fiction / Near Future / Kurzgeschichten / Lyrik


Klappentext

Über 400 Autorinnen und Autoren sind dem Aufruf gefolgt, sich mit dem Klima und möglichen Zukünften auseinanderzusetzen und diese literarisch vorzustellen. Jugendliche und Erwachsene, Profis und Erstveröffentlichende. In diesem Band sind 23 ausgewählte Erzählungen versammelt, allesamt Facetten einer möglichen Antwort auf die Frage:

Wie wird das Leben im Jahre 2050 aussehen?

Der Literaturwettbewerb „Klimazukünfte 2050“, wurde vom Klimahaus Bremerhaven dem Hirnkost Verlag und Fritz Heidorn ins Leben gerufen. Er wird unterstützt durch den Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS, Writers For Future, books 4 future und Respekt! – Die Stiftung.

Mit einer Einleitung von Fritz Heidorn.

Mit Wettbewerbstexten von Anne Abelein, Robin Bergauf, Lisa Brenk, Pauline Brenner, Jamie-Lee Campbell, Christian Endres, Marcus Hammerschmitt, Pia Marie Hegmann, Uwe Hermann, Lilli Hochstadt, Yasmin Huray, Michael Jahn-Awe, Meike Liang, Janika Rehak, Nelli Rieger, Antonia Ring, Margit Stein, Kaja Struwe, Emilia Theisen, Peter Thiers, Peter Turock, Burkhard Wetekam, Helen Winter.

Mit weiteren Texten der Jurymitglieder Katharina Bendixen, Inés María Jiménez, Sven j. Olsson, Simon Probst, Lisa-Marie Reuter und Anne Weiß.

Mit einer Kurzgeschichte von Fritz Heidorn und einem bisher auf Deutsch unveröffentlichten Text von Kim Stanley Robinson.


Rezension

"Science Fiction ist der Realismus unserer Zeit – sagt Kim Stanley Robinson. Daraus leite ich ab, dass Fiktionen helfen können, unsere Zeit besser zu verstehen und Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Nüchterner Realismus hilft, wenn er in Form von naturwissenschaftlichem Wissen dazu beiträgt, die Fakten für das Kommende zu bewerten. Aber erst die Fiktion kann das Kommende in seiner radikalen Dramatik und in seiner ausufernden Dramaturgie aufzeigen." (Seite 13, aus dem Vorwort von Fritz Heidorn)

Die Geschichten in "Klimazukünfte 2050 - Geschichten unserer gefährdeten Welt" stammen aus dem gleichnamigen Literaturwettbewerb und wurden unter 436 eingereichten Beiträgen ausgewählt. Sie alle handeln von unterschiedlichen Visionen, wie die Welt mitten in der sich verschärfenden Klimakrise aussehen könnte, wobei die meisten Geschichten eine düstere Zukunft voller Naturkatastrophen, Massenmigration und Verteilungskämpfe zeigen. Einige zeichnen ein recht realistisches Bild von der Welt im Jahr 2050, viele sehen die Folgen des Klimawandels für eine Zeit knapp 30 Jahre in der Zukunft dagegen zu drastisch - wobei meist lediglich die in der Anthologie vorgegebene Jahreszahl für einen unrealistischen Eindruck sorgt. Ganz real hingegen sind die Sorgen und Zukunftsängste, die sich in den Texten spiegeln.

Die Beiträge stammen von ganz unterschiedlichen Autor*innen. Einige haben schon diverse Romane und/oder Kurzgeschichten veröffentlicht, für andere ist es die erste Veröffentlichung. Zudem sind hier verschiedene Generationen vertreten. Ihre Geschichten sind überwiegend dystopisch und düster: Hier trifft man auf Müllskipper, Ruinentouristen, Wetterkäufer, Luftverkäufer und Trockenschläfer, auf verzweifelte Eltern und wütende Teenager sowie auf ältere Menschen, die verbissen an alten Gewohnheiten festhalten. KIs ersinnen skurrile Zukunftsszenarien, Menschen versuchen, aus Deutschland zu fliehen, andere versuchen, sie davon abzuhalten. Neben Märchenhaftem finden sich auch drei lyrische Werke über die Klimakrise. Hervorzuheben ist hier der Poetry Slam "Es liegt an uns" von Kaja Struwe, der die Egal-Mentalität vieler Menschen anprangert, die die Klimakrise immer weiter verschärft, aber auch ein Umdenken zeigt und letztlich hoffnungsvoll endet.

Bei 23 Texten sind einige dabei, die zu plakativ sind, handwerklich nicht gelungen oder schlicht am eigenen Geschmack vorbeigehen. Zu oft wird individuelles Fehlverhalten adressiert (was nicht bedeuten soll, dass nicht jeder individuell etwas zur Verbesserung beitragen kann), zu selten hingegen werden Lösungen aufgezeigt. Die Mehrheit der Geschichten konzentriert sich auf die Darstellung der dramatischen Auswirkungen der Klimakrise mit Trockenheit, Wasserknappheit, Artensterben und sozialer Spaltung. Und gerade in den Texten jüngerer Autor*innen steckt eine Menge (berechtigter) Wut. Was hier fehlt, sind - mit einzelnen Ausnahmen - Utopien, die zeigen, was wir besser machen können und wie wir eine Zukunft, in der wir die Klimakrise aufhalten und sozial gerechter leben, verwirklichen können.

Einige Beiträge bleiben nachhaltig im Gedächtnis und sind sehr gelungen, auf diese wird im Folgenden jeweils kurz eingegangen:

"Die Straße der Bienen" ersinnt ein Szenario, das teilweise bereits Realität ist, wenn auch nicht in der hier geschilderten Brutalität. Der Ich-Erzähler gehört zu einer militanten Truppe, die Bienen in gepanzerten Fahrzeugen zu ihren Auftraggebern bringt und mit Gewalt auf Menschen reagiert, die verzweifelt um Hilfe bitten. Als sie überfallen werden und der Protagonist mitsamt Bienen entführt, flackert eine fragile Utopie auf. Christian Endres erzählt actionreich und derb, versprüht "Mad Max"-Vibes und bietet damit eine der unterhaltsamsten Geschichten der Anthologie. Für eine Klimazukunft 2050 zu drastisch, aber schlicht gute Science Fiction.

"Zwei Grad" von Pia Marie Hegmann reiht sich ein in die vielen Dystopien und beschreibt den Alltag einer kleinen Familie - im Gegenzug zu vielen anderen Geschichten recht realistisch, wenn auch für 2050 vielleicht (oder hoffentlich) zu pessimistisch. Eine alleinerziehende Mutter arbeitet hart, um ihren beiden Töchtern ein Dach über dem Kopf und genug Essen bieten zu können. Während die Mutter noch bessere Zeiten kannte, ist für die kleine Tochter das zu warme Deutschland mit Dürren Normalität, die große Tochter dagegen ist voller Wut auf die, die nichts gegen Klimawandel getan haben und sogar 2050 noch ihr klimaschädliches Leben mit Scheuklappen weiterführen. Die Wut richtet sich vor allem gegen ihren Onkel, der weiter Fleisch isst und Auto fährt, und in diesen Anklagen invidueller Verfehlungen ist die Geschichte zu plakativ und eindimensional. Trotzdem transportiert sie eindrücklich die Wut, Hilflosigkeit und Angst der heute jungen Menschen und zeichnet ein beklemmendes Porträt der Zukunft in Deutschland.

In "Nordmeer-Delfine" von Janika Rehak sind die Nordseeinseln im Meer versunken und weite Teile der Küste wurden während der Großen Mandränke überschwemmt. Die Überlebenden trotzen den widrigen Bedingungen und leben unter anderem davon, wertvollen Müll aus der verseuchten Nordsee zu angeln. Protagonist Leif erzählt von seinem Alltag als Müllskipper und berichtet, was der Klimawandel in Norddeutschland angerichtet hat. Auch wenn es zunächst aussieht, als würden die Menschen das Beste aus der Situation machen und als gäbe es Hoffnung, endet die Geschichte tragisch. Die Beschreibungen des teilüberfluteten Norddeutschlands und der veränderten Lebensbedingungen machen den Reiz dieser Geschichte aus, dazu gibt es einprägsame Figuren.

Zu den wenigen hoffnungsvollen und zugleich besten Beiträgen dieser Anthologie zählt "Neuland" von Burkhard Wetekam: Major Mike Exter wird losgeschickt, um den Direktor eines Energieparks im Atlantik zu verhaften. Der Kontakt ist seit Jahrzehnten abgebrochen. Der Park liefert zwar weiterhin Strom, doch was sonst dort passiert, ist im von Kriegen zerrütteten Europa unbekannt. Entsprechend ist man überrascht, als der Energiepark als autonomer Staat anerkannt werden will. Schon aus der Ferne erkennt Mike seltsame Strukturen, die die Windräder umgeben: Der Energiepark hat sich zu einer schwimmenden, autarken Insel entwickelt, die mit der Natur in Einklang lebt. Burkhard Wetekam legt hier einen faszinierenden, utopischen Gesellschaftsentwurf mit DIY-Mentalität und Solarpunkflair vor. Aus dem Müll der Menschheit wurde hier ein kleines Paradies erschaffen, das zeigt, dass Menschen in Krisen auch kreative und sinnvolle Lösungen finden können.

Die letzte Geschichte in der Anthologie ist zugleich die, mit der alles begann: "Gehorche der Ordnung!" von Herausgeber Fritz Heidorn. Hier beschreibt er ein stark vom Klimawandel geprägtes 22. Jahrhundert: Im Jahr 2022 wird über eine nur drei Jahre zuvor mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Klimaaktivistin ein Todesurteil verhängt, das zu Jahrzehnten Kälteschlaf abgemildert wird. Einhundert Jahre später erwacht sie inmitten einer Gemeinde der Amischen und stellt fest, wie dramatisch sich die Welt verändert hat, wie verdammt heiß es geworden ist und wie viel Wissen verloren gegangen ist. Heidorn verbindet die Klimakrise mit der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und dem Trumpismus sowie Fragen zu Religion und Wissenschaft. Die Geschichte ist damit recht überladen und eine Kurzgeschichte eignet sich kaum für eine Coming-of-Age-Story. Dennoch ist die Zukunftsvision vor allem in Bezug auf die gesellschaftlichen Umbrüche ausgelöst durch die Klimakrise spannend.

Nach den Geschichten finden sich Gedanken der Jurymitglieder zum Schreibwettbewerb und zur Klimakrise. Den Anfang macht Inés María Jiménez, die sich bedrückt darüber zeigt, dass vor allem die Texte der jungen Teilnehmer*innen sehr dystopisch und düster sind. Auch ihre eigenen Gedanken zur Klimakrise sind nicht gerade optimistisch und sie betont insbesondere die Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation und die Tatsache, dass man mit der Natur nicht verhandeln kann - WIR müssen endlich handeln. Katharina Bendixen & Sven J. Olsson formulieren ihre Nachgedanken in einem Briefwechsel, in dem sie viele Fragen stellen, vor allem die, was sie ihren Kindern einmal erzählen sollen und wann sie ihnen sagen, wie schlimm die Klimakrise wirklich ist. Simon Probst konzentriert sich auf die (Post)Apokalypsen und und wimdet sich u.a. der Frage, welche Welten da eigentlich untergehen - und der, wie es weitergeht. Lisa-Marie Reuter gewährt den Leser*innen Einblicke in ihre Kindheit und erzählt, wie sie erkannt hat, dass man selbst an der Zukunft etwas ändern kann, und Anne Weiss beschäftigt sich damit, wie man besser über die Klimakrise schreiben kann. Die Gedanken der Jurymitglieder runden die Anthologie perfekt ab.

Zusätzlich findet sich am Ende ein Text von Kim Stanley Robinson, den er für einen Vortrags auf einer Konferenz in Peking anlässlich des 500. Jahrestag von Sir Thomas Morus’ "Utopia" verfasst hat: "Die Zukunft der Utopie". Der Autor arbeitet gut verständlich heraus, dass alles Leben auf der Erde miteinander verbunden ist und dass wir als Teil der Biosphäre davon abhängig sind, dass diese sich in einem guten Zustand befindet. Als großes Problem macht er das globale Wirtschaftssystem aus, das zwar das Potential hat, Gutes zu bewirken, aber in seinem aktuellen Zustand zur Verschlechterung beiträgt. In Kim Stanley Robinsons Text finden sich viele spannende Gedanken zur Utopie, die man in dieser Anthologie sonst meist schmerzlich vermisst hat.

"Es gibt keine technologische Lösung, die die biophysikalischen Flüsse des Planeten überwinden kann. Es gibt kein System der menschlichen Gerechtigkeit, das unabhängig von unseren vielen nichtmenschlichen Verwandten funktioniert. Die Utopie muss von nun an beschreiben, wie die Menschen mit dem Planeten und seiner Biosphäre auskommen können, ebenso wie sie beschreiben muss, wie sie miteinander auskommen." (Seite 463, Kim Stanley Robinson)


Fazit

"Klimazukünfte 2050 - Geschichten unserer gefährdeten Welt" zeichnet ein überwiegend düsteres Bild unserer Zukunft, in der wir die Klimakrise nicht in den Griff bekommen haben und die heute junge Generation unter der zunehmenden Hitze, Trockenheit, Migration und sozialer Spaltung leidet. Wenige Beiträge beschäftigen sich mit der (gelungenen) Anpassung an den Klimawandel und neuen solidarischen Gemeinschaften. Die Geschichten spiegeln sehr eindrücklich die Sorgen und Zukunftsängste vieler Menschen und machen wissenschaftliche Fakten in der Fiktion erlebbar.


Pro & Contra

+ thematisch und stilistisch sehr unterschiedliche Beiträge
+ spiegelt eindrücklick Sorgen und Zukunftsängste
+ macht die Auswirkungen der Klimakrise in der Fiktion erlebbar
+ viele Geschichten beschäftigen sich mit der Zukunft Deutschlands
+ lesenswerte Texte der Jurymitglieder im Anhang
+ der Schlusstext von Kim Stanley Robinson

- zu wenige Utopien / Lösungsansätze
- teils zu plakativ und für 2050 zu drastisch

Wertung: sterne4

Geschichten: 3,5/5
Auswahl: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Solarpunk, Dystopie, Climate Fiction, deutschsprachige SF, Near Future