Mary Shelleys Zimmer – Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte (Timo Feldhaus)

Rowohlt (April 2022)
Hardcover
320 Seiten, 26,00 EUR
ISBN: 978-3-498-00236-7

Genre: Historischer Roman


Klappentext

Der Tambora explodiert. Der Vulkanausbruch auf einer indonesischen Insel ist der heftigste der Neuzeit und bewirkt enorme Klimaveränderungen. Kalt und dunkel wird es, auch in Europa kommt es 1816 zu einem Jahr ohne Sommer.

Timo Feldhaus folgt der riesigen Schwefelwolke, die die Welt verdüstert, und beobachtet, was unter ihr geschieht: Goethe entdeckt die Wolkenwissenschaft, Caspar David Friedrich malt die giftgelben und rot eingetrübten Sonnenuntergänge, Napoleon sitzt einsam auf der Insel St. Helena und hat alles verloren. Ein Mädchen sieht ihre Familie verhungern und irrt durch ein Deutschland, in dem die nationale Idee aufkeimt. In Genf kommt es zu einer künstlerischen Eruption: Die achtzehnjährige Mary Shelley, gerade mit ihrer Liebe aus London geflohen, versteckt sich vor dem Frost und den Unwettern bei Lord Byron, dem ersten Rockstardichter. Hier kommt der stillen, hochtalentierten Frau mit den verrückten Freunden und berühmten Eltern die Idee für ihren ersten Roman: die Geschichte von Frankenstein und seinem Monster, die erste Science-Fiction.

Timo Feldhaus beschreibt einen Himmel und eine Welt im Umbruch – die der heutigen überraschend ähnlich ist. Es ist eine abenteuerliche Liebesgeschichte inmitten einer Klimakatastrophe.


Rezension

„Mary Shelleys Zimmer“ ist an vielen Stellen eher Panoramabild als Erzählung. Timo Feldhaus schildert Szenen rund um das Jahr 1816 aus einer Vielzahl von Perspektiven. Dabei kehrt er jedoch besonders häufig zu Mary Shelley und ihrem Umfeld zurück, sodass wir hier, anders als bei der schlaglichtartigen Darstellung anderer Figuren, eine deutliche Entwicklung von Situation und Figuren beobachten. Mary verliebt sich in den radikalen Percy Shelley und die beiden werden ein Paar. Ihre Beziehung ist unter anderem überschattet dem Unglück ihrer anderen Familienmitglieder und Marys Sorge, durch eine Hochzeit das Erbe ihrer feministischen Mutter zu verraten.

Andere Figuren, die direkt oder indirekt zu Wort kommen, sind unter anderem der skandalumwitterte Dichter Lord Byron, Napoleon in seinem Exil, Marys Schwester Claire, der nationalistische Sportler Friedrich Jahn, der zurückgezogene Maler Caspar David Friedrich, der alternde Goethe, sowie einige Figuren aus niedrigeren Gesellschaftsschichten.

Und gerade durch die Perspektive letzterer bekommen die Lesenden mit, welche Katastrophe der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1816 für viele Menschen war. Asche verfärbt den Himmel – was sich übrigens auch in der Kunst der Zeit widerspiegelt – und verdirbt Ernten. Die Beziehungsdramen und künstlerischen oder politischen Ambitionen privilegierterer Figuren existieren Seite an Seite mit Figuren, die wortwörtlich am Verhungern sind. Aber nicht nur, wenn es um das Leid der Landbevölkerung geht, drängen Trauma, Verlust und Verzweiflung in die Handlung hinein.

Thematisch scheint es darum zu gehen, wie sich bereits in dieser Zeit die Fragen abzeichnen, welche die jüngere Vergangenheit und Gegenwart prägen werden. Feldhaus schildert die Popularisierung von Naturwissenschaften, das Aufkommen des deutschen Nationalismus und nicht zuletzt das Konzept des Klimas, dass allmählich seinen Weg ins Bewusstsein der Menschen findet. Auch Kunst inklusive Mary Shelleys Schreibens spielt eine große Rolle.

Wie aus dem Nachwort hervorgeht, basiert viel von dem, was die historischen Figuren sagen und denken, auf tatsächlich überlieferten Zitaten. Wo Feldhaus sich nicht an überlieferte Äußerungen hält, erzählt er hier und da mit einer sehr anachronistischen Wortwahl. Diese irritiert, passt aber irgendwie auch, denn der Erzähler sieht sich nicht an den Wissenshorizont der Figuren gebunden, sondern erwähnt beispielsweise auch, was spätere Forschungen über die Zeit des Romans ergeben haben.

Teilweise sind die Schilderungen der Figuren, ihrer Interaktionen und ihres Innenlebens einfühl- und einprägsam und auch einige Dialoge schreiben sich ins Gedächtnis. Auch die Themen, die das Buch berührt, sind sehr spannend. Insgesamt bleibt jedoch das Gefühl eines merkwürdigen, mosaikartigen Leseerlebnisses, eine Vielzahl von Schlaglichtern auf Figuren und Themen. Es gibt viele Verbindungen zwischen den geschilderten Szenen, aber so ganz zu einem Ganzen fügen sie sich dennoch nicht.


Fazit

„Mary Shelleys Zimmer“ erzählt aus einer Vielzahl von Perspektiven von einem spannenden Geschichtsabschnitt und den oft unsympathischen, aber charismatischen Figuren, die diesen erleben. Die Struktur des Buches und auch stilistische Entscheidungen führen dazu, dass sich das Buch nicht wirklich wie ein zusammenhängendes Ganzes anfühlt. Timo Feldhaus hat keinen traditionellen Roman geschrieben. Stattdessen liefert er ein merkwürdiges, unbehagliches, aber doch sehr interessantes Panorama des frühen 19. Jahrhunderts und seiner Verbindungen zur Gegenwart.


Pro und Contra

+ interessante historische Epoche und Figuren im Zentrum
+ Fokus auf spannenden Themen (z.B. Entdeckung des Klimas) und Verbindungslinien zur Gegenwart
+ Nachwort mit Literaturhinweisen

o ungewöhnliche, sehr offene Struktur

-bleibt hier und da an der Oberfläche; vielleicht hätte es dem Buch gutgetan, bei den betrachteten Figuren und Themen mehr in die Tiefe als in die Breite zu gehen

Wertung

Figuren: 4/5
Handlung: 3/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis-Leistung: 3/5

Tags: 19. Jahrhundert, Timo Feldhaus