Der lange Nachmittag der Erde (Brian Aldiss)

Aldiss Der lange Nachmittag

Heyne, 8.2.2021
Originaltitel: Hothouse (1962)
Übersetzt von Frank Böhmert (Romantext), Kristof Kurz (Vorwort von Neil Gaiman, Nachwort von Brian Aldiss)
Taschenbuch, 432 Seiten
€ 9,99 [D] | € 10,30 [A] | CHF 15,90
ISBN 978-3-453-32043-7

Genre: Science Fiction


Rezension

In der Zeitschrift GEO findet sich online ein Beitrag von Heike Hinrichs über die spekulativen Gedanken von Wissenschaftler*innen, wie das Leben auf der Erde in Millionen von Jahren aussehen könnte (So sehen die Kreaturen der Zukunft aus und Die Kreaturen der Zukunft). Basierend „auf natürlichen biologischen Regeln und der Evolutionstheorie“ ergeben sich dann so seltsame Formen wie ein Gärtnerwurm, der Millionen von Algen durch die Landschaft zieht, die Photosynthese betreiben, oder Fische, die wie Schmetterlinge durch die Wälder flattern. Inspiration für dieses Projekt war das Buch Geschöpfe der Zukunft (1999) des Geologen und Paläontologen Dougal Dixon. Der Folgetitel ist Die Zukunft ist wild (2002). Mit dem Thema beschäftigt sich auch die Fernsehdokumentation The Future is Wild (2003), bestehend aus 13 Episoden, die im ZDF zu sehen waren und die heute noch auf DVD erhältlich sind.

Zu den spekulativen Gedanken von Dixon u.a. passt ein Buch, in dem sich in scheinbar grenzenlosem Einfallsreichtum ein ganzer Kosmos solch phantastischer Lebensformen findet: der Jahrzehnte vor Dixon und der TV-Serie veröffentlichte Science-Fiction-Titel Der lange Nachmittag der Erde. Der Roman ist auch sehr interessant, weil der Klimawandel die treibende Kraft für die speziellen Pfade der Evolution dieser Lebensformen ist.

Das erste Kapitel beginnt mit den Worten: “Alles gehorchte einem unabdingbaren Gesetz und wuchs, wucherte zügellos und verstörend in seinem Wachstumsdrang.” Das liest sich erst einmal wie Kapitalismuskritik, wie die gute alte Wachstumsideologie, definitiv nicht kompatibel mit der als Korrektiv entwickelten Vorstellung von qualitativem Wachstum. Aber es beschreibt die logische Entwicklung der Erde an ihrem langen Nachmittag: die Ökologie der Endzeit.

Der Plot ist angelegt um den täglichen Überlebenskampf einer Gruppe von Menschen Jahrmillionen in der Zukunft. Die Erde dreht sich nicht mehr. Die der Sonne zugeneigte Hälfte ist zu einem Treibhaus geworden, überdacht von einem riesigen Banyan-Baum, einem Feigenbaum, von dem der Großteil der Fauna und Flora abhängig ist. Die meisten der heute bekannten Lebensformen sind ausgestorben. Die Pflanzen gehören zu den Spitzenpredatoren. Die Perfektionierung und Fortentwicklung der Mimikry hat dazu geführt, dass Pflanzen im Kampf ums Überleben gelernt haben, Tiere nachzuahmen. Der Querer ist eine Pflanzenkreatur und durch die Übernahme der Lebensweise früherer Spinnen an die Spitze des Nahrungsnetzes gelangt.

Es gibt Lebensformen mit Namen, die unmittelbar intuitiv sind, wie die Tigerfliegen, Mordweiden oder Sandkraken; oder, wie (im Original) termights, mächtige starke Termitenartige, die sehr gut übersetzt wurden als Termiezen. Dann gibt es Arten, die im Buch beschrieben werden, weil die Bezeichnung nicht ausreicht, wie Klappschnapper (trappersnapper) oder die semiparasitische Wasserpflanze Mampfstrumpf (crocksock).

Die Menschen sind sehr klein, nicht besonders intelligent, verfügen über kein Wissen, das nicht aus Alltagserfahrungen stammt und ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt definiert. Sie sind frei von Erinnerungen an ihre Entwicklungsgeschichte, wenngleich später in der Handlung einer anderen Spezies der Zugriff auf archiviertes altes Wissen gelingt. Sie verfügen über einen archaischen Jenseitsglauben. Was immer auch geschieht, defätistisch nehmen sie es an und sagen: so ist es eben. Sukzessive bewegen sie sich in Richtung pflanzlicher Lebensformen. Die Urbarer sind bereits eine Übergangsform vom Menschen zur Pflanze.

Die Lebenserwartung ist gering, die Menschen leben auf dem Banyan-Baum, weil es auf dem Boden zu gefährlich ist. Aber manchmal fällt ein Kind aus dem Geäst und wird sofort von Pflanzen gefressen. Manchmal kommt die Gefahr auch aus der Luft, wenn riesige vogelartige Pflanzen sich einen Menschen als Beute greifen. Die Menschen haben sich an verschiedene Lebensbedingungen angepasst, manche von ihnen wurden auch angepasst, darunter eine Gruppe von Fischern, die über eine lange Wurzel mit einem Baum verbunden sind, von diesem versorgt werden, vollkommen verdummt sind, die Bauchbaummenschen. Sie versorgen den Baum mit Nährstoffen. Er verteidigt sie, ignoriert sie aber, wenn die Verbindung gekappt ist.

Lily-Yo ist die Anführerin der matriarchal organisierten Menschengruppe, der auch der junge Gren und seine Freundin Poyly angehören. Die Gruppe fällt vorübergehend auseinander, Gren und Poyly lernen eine für sie neue Welt kennen, in der es andere Lebensformen gibt. Yattmur ist eine Hirtin und freundet sich mit Gren und Poyly an. Die vermutlich intelligenteste Spezies sind die von Meeressäugetieren abstammenden Sodal, zu denen der für einen Propheten gehaltene Sodal-Ye gehört. Da sie naturgemäß nicht gut zu Fuß sind, müssen sie Menschen finden, die sie tragen und dabei sich selbst aufgeben.

Die Erde und ihr Mond sind durch ein spinnwebartiges Gefüge miteinander verbunden, das die mit riesigen Sauerstoffblasen ausgestatteten Querer produziert haben, um sich zwischen der Erde sowie anderen Planeten und Himmelskörpern der Galaxie bewegen zu können. Eine Gruppe Menschen ist irgendwann mit ihnen zum Mond gereist und hat sich an dessen Bedingungen angepasst. Sie sind in der Lage zu schweben, heißen deshalb Flugmenschen. Sie können sich nicht fortpflanzen, weshalb sie Menschenkinder entführen, die eine Transformation durchlaufen und ebenfalls zu Flugmenschen werden.

Die Morcheln sind die Satirikerinnen der Zukunft. Sie gehören zu den intelligenten Spezies. Zur Erweiterung ihres Möglichkeitenspektrums okkupieren sie andere Spezies. Sie verhalten sich parasitär oder symbiotisch, je nachdem, was die kolonisierte Spezies hergibt. Eine Morchel blüht enorm auf, als sie die Menschen für sich entdeckt. Sie ist in der Lage auf im Gehirn verschüttetes altes Wissen zuzugreifen, indem sie sich wissens-archäologisch betätigt, etwas, wozu Menschen nicht in der Lage sind. Morchel, wie sie sich nennt und auch angesprochen werden will, ist begeistert von den Möglichkeiten, die menschliche Wirte bieten. Sie will die Welt beherrschen. Vermutlich ist sie eine Nachfahrin der heutigen gemeinen Stinkmorchel.

Der lange Nachmittag der Erde beschreibt so etwas wie eine natürliche Zukunftsarchitektur mit einem Weltenbau, der als überbordend kreativ bezeichnet werden könnte. Der Blick eines Schriftstellers in eine beunruhigende Zukunft, keine Science Fiction im literalen Sinn. Eher ein Szenario, dass uns eine Horrorvision von der Zukunft bietet. Lesen können wir den Text als Reiseroman, als Entwicklungsgeschichte, als ein Füllhorn von Ideen, die es in dieser Häufung in Literatur selten gibt, als Beschreibung eines Überlebenskampfes von matriarchal und tribalisch organisierten Menschen.

Übersetzt von Walter Ernsting, wurde Hothouse 1964 als Am Vorabend der Ewigkeit in gekürzter Fassung veröffentlicht. Der Roman erlebte fünf Auflagen, bis Heyne ihn 1986 in der ungekürzten Neuübersetzung von Reinhard Heinz unter dem Titel Der lange Nachmittag der Erde herausgab. Im Jahr 2021 dann wurde Frank Böhmerts vollständige Neuübersetzung bei Heyne in der Reihe Meisterwerke der Science Fiction veröffentlicht.

Interessant ist die Veröffentlichungsgeschichte des Originals. Als Novellen, in den USA nach Wortanzahl differenziert in drei Novelettes und zwei Novellas, veröffentlichte Aldiss 1961 fünf miteinander verbundene Geschichten in The Magazine of Fantasy and Science Fiction: Hothouse (Februar 1961), Nomansland (April 1961), Undergrowth (Juli 1961), Timberline (September 1961) und Evergreen (Dezember 1961). In Romanform und überarbeitet erschienen zwei Titel im Jahr 1962: Hothouse im United Kingdom und eine leicht gekürzte Fassung in den USA als The Long Afternoon of Earth. Im gleichen Jahr erhielten die fünf Geschichten den Hugo Award (Best Short Fiction).


Fazit

Neil Gaiman schreibt in seinem Vorwort, Brian Aldiss sei der bedeutendste Science-Fiction-Autor seiner Generation. In Der lange Nachmittag der Erde verschiebt Aldiss die Grenzen der Science Fiction beträchtlich. Mitunter entsteht der Eindruck, er würde diese Grenzen über Klippen hinausdrücken.


Pro und Kontra

+ hervorragender Weltenbau
+ die Menschheit hat ihren Platz in der Welt gefunden, im Einklang mit der Natur

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5

Tags: Evolution, Brian W. Aldiss, fantastische Lebensformen, Treibhauseffekt, Klimawandel