Wie die Saat, so die Ernte (Donna Leon)

Leon Wie die Saat

Diogenes, 24.05.2023
Originaltitel: So Shall You Reap (2023)
Übersetzung von Werner Schmitz
Gebunden (Leinen), 314 Seiten
€ 26,00 [D] | € 26,80 [A] | CHF 34,90
ISBN 978-3-257-07227-3

Genre: Kriminalroman


Rezension

In einer kalten Novembernacht bekommt Commissario Guido Brunetti einen Anruf seines Kollegen Ispettore Vianello. Ein Mann hat eine Leiche im Kanal am Ponte Panada im Viertel Cannaregio gesehen. Der Tote ist bald geborgen. Der Mann mittleren Alters ist ertrunken, nachdem der Täter mehrmals auf ihn eingestochen und ihn dann in den Kanal geworfen hat. Er hat keine Papiere bei sich, doch Brunetti kennt ihn von einer kurzen Begegnung am Vortag: Sein Schwiegervater, Conte Falier, hatte ihn gebeten herauszufinden, ob der Palazzo Zaffo dei Leoni in Cannaregio zum Verkauf stünde. Der Mann, Inesh Kavinda, hatte auf sein Klingeln geöffnet und ihm seine Frage beantwortet.

Kavinda war ein illegaler Einwanderer aus Sri Lanka und lebte seit acht Jahren im Gartenhaus des Palazzo, der Professor Renato Molin gehört und von ihm gemeinsam mit seiner zweiten Frau Gloria Forcolin bewohnt wird. Gloria war es, die Kavinda bei sich aufgenommen hatte, nachdem er vor ihrem Palazzo Opfer eines Raubüberfalls geworden war. Brunetti fallen die vielen Bücher auf, die das Interesse des Opfers an Buddhismus, den revolutionären Tamil Tigers, italienischen Krimis und dem Terrorismus im Italien der 1980er Jahre verraten.

Kavinda arbeitete für wenig Geld als Handwerker und Begleiter älterer oder kranker Menschen wie Molin, der nach einem leichten Schlaganfall vor zwei Jahren Probleme beim Gehen hat. Er sparte sein Geld und schickte es an seine Familie nach Sri Lanka. Er verstand sich gut mit Gloria, den Nonnen im benachbarten Benediktinerkloster, seinem Buchhändler. Ab und zu traf er sich im Gartenhaus mit anderen Buddhisten zum Gebet. Brunettis Untersuchung in Kavindas Leben in Venedig führt zu nichts: Anscheinend hatte der Mann keine Feinde, keine Schulden, keine Liebschaften. Da die üblichen Motive fehlen, muss Brunetti nach unüblichen suchen. Warum das Interesse eines Buddhisten an Gewalt, an den Tamil Tigers und den neuen Roten Brigaden in der 1980ern? Und was hat es mit dem Fingerknochen auf sich, den er in seiner Uhrtasche bei sich trug?

Donna Leons 32. Mystery-Krimi um Commissario Guido Brunetti spielt nach der Pandemie. Die Masken sind gefallen, aber Brunetti hat das social distancing noch nicht ganz ablegen können. Die berüchtigten Baby Gangs plündern nicht mehr wie zu Covid-Zeiten geschlossene Läden, sondern berauben Frauen und Kinder, viele Geschäfte sind pleite oder laufen wie der Kunstdiebstahl wegen Liquiditätsengpässen schlecht, die alten Kunstdiebe mit Sachverstand werden verdrängt von gefährlichen Barbaren, die keine Rücksicht auf die Unversehrtheit der Kunstobjekte und deren Besitzer nehmen, Handwerksbetriebe verschwinden, Palazzi wechseln die Besitzer, werden renoviert, zu Hotels umgebaut oder in Wohnungen aufgeteilt, die Privatsphäre schwindet durch eine zunehmende Videoüberwachung. Brunetti registriert mit der gleichen Klarheit den Wandel der Stadt wie die Unvergänglichkeit ihrer Schönheit.

Donna Leon erzählt eine typisch venezianische Geschichte, typisch venezianisch deshalb, weil es um ein dichtes Geflecht von Beziehungen geht: Der Sohn eines Freundes von Brunettis Schwiegervater möchte den Palazzo Zaffo dei Leoni kaufen, Molin ist ein Kollege Paolas, Gloria eine alte Bekannte Brunettis, Brunetti und Kavinda kaufen beim gleichen Buchhändler. Es geht um alte Freunde und Bekannte aus Schulzeit und Studium. Das erleichtert und erschwert Brunettis Ermittlungen, weil es persönlich wird, manchmal persönlicher, als ihm lieb ist.

Während seiner Ermittlungen stolpert Brunetti über das Sammelalbum des verstorbenen Bankdirektors Nesi. Die vierzig Jahre alten linksextremistischen Pamphlete, Zeitungsartikel und Manifeste katapultieren ihn in seine Zeit als Jurastudent in den 1980ern, als die neuen Roten Brigaden das Land mit einer gewaltigen Terrorwelle überzogen, Bombenattentate wie das auf den Bahnhof von Bologna verübten, Menschen ermordeten, entführten, verschwinden ließen. In den ersten Semestern fand er die Rhetorik der linken Studentenschaft, das Anprangern des Kapitalismus, das Versprechen auf eine bessere Zukunft für Italien, ja, für die ganze Welt, auf die Befreiung der Arbeiter von Ausbeutung und Unterdrückung, überzeugend, bis er nach einigen Semestern ernüchtert den politischen Enthusiasmus durch die gesunde Einstellung eintauschte, allen Politikern zu misstrauen.

Leon schlägt einen Bogen von den Linken der 1980er zur politischen Gegenwart des Landes, dem Abdriften nach rechts, der leidenschaftlichen Verehrung für Mussolini und Hitler. Eine deren Ausformungen ist die Homophobie, mit der Brunetti in der Questura konfrontiert wird, als sich ein langjähriger Kollege outet. Die Reflexion über die Geschichte bringt Brunetti zu der wichtigen Erkenntnis: Junge Menschen sehnen sich danach, die Welt zu verändern, egal zu welchen Kosten für sich selbst und die anderen. Ältere Menschen sehnen sich danach, dass sich die Welt nicht verändert, damit es für sie keine Kosten gibt.


Fazit

In Wie die Saat, so die Ernte erforscht Donna Leon erneut die Windungen und Verflechtungen der menschlichen Conditio, diesmal vor dem Hintergrund der terroristischen Vergangenheit Italiens. Stilistisch elegant und scheinbar mühelos verknüpft sie die verschiedenen Handlungsstränge, unscheinbare Details, zufällige Beobachtungen, späte Geständnisse, zu einer komplexen Geschichte über die Irrtümer der Jugend, politisches Erwachsenwerden und den Zufall, der längst begrabene Geheimnisse ans Tageslicht fördert.


Pro und Kontra

+ erzähltechnisch brillant
+ komplex gezeichnete, lebensnahe Figuren und Dialoge
+ intelligente gesellschaftspolitische Gegenwarts- und Vergangenheitsdiagnose
+ kritischer Blick auf Dogmatiker, Ideologen, Weltverbesserer, Menschenverbesserer

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Mystery, italienischer Kriminalroman, Donna Leon, Rote Brigaden, Terrorismus, Homophobie