Succession Game (Anika Beer)

Piper (2022)
Klappenbroschur, 496 Seiten, 17,00 EUR
ISBN 978-3-492-70588-2

Genre: Science Fiction / Near Future


Klappentext

2054: Der Klimawandel ist weit fortgeschritten, die Menschen leben auf engstem, hoch technologisierten Raum. Augmented-Reality-Programme erfreuen sich großer Beliebtheit – allen voran das Escape-Room-Spiel „Succession Game“, das in den sozialen Medien von Millionen Fans gefeiert wird. Als die Privatdetektivin Clue als Kandidatin ausgewählt wird, sieht sie ihre Chance, den zwielichtigen Megakonzern hinter dem Spiel von innen aufzumischen. Doch kurz nach Beginn des Spiels stirbt ein Teilnehmer, und Clue begreift, welche Abgründe sich hinter den Kulissen von „Succession Game“ verbergen. Plötzlich muss sie selbst um ihr Leben fürchten.


Rezension

Vier Mal hintereinander hat Théo das gehypte "Succession Game" gewonnen und ist damit die beliebteste Persona des Augmented-Reality-Spiels, in dem die sogenannten Contenders verschiedene Escape Rooms bewältigen müssen. Was die Fans nicht wissen: Théo und der Mann, der ihn spielt, sind Gefangene im Game Ship. Auch wissen sie nicht, dass Théo längst mehr ist als eine Spielpersona, die man nach dem Spiel wieder ablegt. In der neuen Staffel tritt Clue als Privatdetektivin an und kann sich an ihre wahre Identität nicht erinnern. Sie weiß auch nicht, wie sie überhaupt in das Game Ship gekommen ist, ihr fehlen mehrere Tage. Allerdings weiß sie, dass sie unbedingt an "Succession Game" teilnehmen und gewinnen wollte. Den ersten Escape Room soll sie ausgerechnet mit Successor Théo, den sie anfangs für einen arroganten Kotzbrocken hält, und einem schweigsamen Wolfsmenschen lösen. Ihre Erinnerungslücken machen Clue zu schaffen, doch sie findet bald ihre Rolle im Spiel und fasst Vertrauen zu Théo, der ihr einen Blick hinter die Kulissen ermöglicht. Stück für Stück ergibt sich ein finsteres, gefährliches Bild - und Clue weiß wieder, warum sie unbedingt am Spiel teilnehmen wollte ...

In der Zukunft von "Succession Game" leben die Menschen in Deutschland in hochtechnisierten Städten, die sich zumindest teilweise an den Klimawandel angepasst haben. Im Alltag der Romanfiguren merkt man dies vor allem bei der Ernährung und Kleidung sowie dem selbstverständlichen Schonen von Ressourcen. Wer im zukünftigen Berlin leben will, muss warten, bis er eine Wohneinheit zugeteilt bekommt, wobei für die Reichen natürlich andere Regeln gelten. "Succession Game" ist dabei ein Mix aus Utopie und Dystopie: Es hat sich einiges zum Positiven verändert, doch immer noch haben Megakonzerne zu viel Macht und nutzen diese rücksichtslos. So ist das "Succession Game" vor allem hochprofitable Unterhaltung - und nebenbei eine Arena für Menschenversuche. Bei der Entwicklung der Spielpersonas überschreitet der Konzern Grenzen, die Spieler*innen werden mit neurochemischen Substanzen vollgepumpt, um ihre Personas perfekt zu verkörpern. Das geht soweit, dass die DNA der Contenders manipuliert wird, um beispielsweise Wolfsohren hervorzubringen. Davon wissen die Zuschauer*innen nichts, sie denken, alles sei augmentiert und so feiern sie unbeschwert ihre Augmented-Reality-Stars.

Théo ist ein solcher Star, der von vielen geliebt und von vielen gehasst wird. Er ist eine Gamepersona, ein Computerprogramm, das in das Gehirn eines Menschen übertragen wurde und ein Eigenleben entwickelt hat. Théos Spieler ist ein Hacker, der sich gezwungenermaßen auf einen miesen Deal mit dem Konzernboss eingelassen, der Succession Game erfunden hat. Normalerweise überschreibt eine Gamepersona die Persönlichkeit ihres Spielers für die Dauer des Spiels vollständig, doch Théo und sein Spieler haben gelernt, miteinander zu kommunizieren und sich daran zu erinnern, was der jeweils andere getan hat. Clue dagegen weiß nicht mehr, wer sie eigentlich ist und welche ihrer Erinnerungen echt sind und welche zu ihrer Gamepersona gehören. Erst in der zweiten Romanhälfte greifen die Spieler*innen von Clue und Théo verstärkt in die Handlung ein und haben so manche Überraschung parat. Die Handlung wird durch die Vermischung von Spieler*innen und Gamepersonas recht komplex, man verliert jedoch nie den Überblick, unter anderem auch weil die sich die Schriftarten der Kapitel der Gamepersonas und der der "echten" Menschen unterscheiden. Es macht Spaß, die Persönlichkeiten hinter den Personas zu entdecken - und in Theós besonderem Fall, wie er und sein Spieler miteinander interagieren. Dabei werden auch Théos Grenzen thematisiert, immerhin ist er "nur" ein Programm, das auf der einen Seite ganz andere Möglichkeiten als sein Spieler hat, aber dadurch auch in vielem limitiert ist. 

Über die Spieler*innen der anderen Gamepersonas erfährt man nicht viel, lernt letztere aber nach und nach besser kennen. Sie alle sind Gegner, doch das Spiel zwingt sie auch zur Zusammenarbeit und es entstehen Freundschaften. Ein großer Teil des Spiels besteht aus dem Lösen von Rätseln und Überwinden schwieriger Parcours, doch auch ebenso großer Teil besteht aus dem Schmieden von Bündnissen und der Manipulation der Mitspieler*innen. Und darin ist Théo meisterhaft. In der ersten Romanhälfte konzentriert sich die Handlung überwiegend auf die Spielumgebung. Entsprechend lernen die Leser*innen zunächst vor allem Spielfiguren kennen. Daneben gibt es noch den Arzt Rafael, der ein Jobangebot von einem alten Freund erhält und sich zur Mitarbeit an Succession Game erpressen lässt, weil er eine Affäre mit dessen Freundin hat. Die benutzt Rafael, um schwanger zu werden und um mit ihm einen fähigen Ersatz zu haben, denn bisher war sie für die Gesundheit der Spieler*innen verantwortlich. Diese Rahmenhandlung ist leider recht dünn und die Antagonisten verkörpern eiskalte Konzernmenschen, die man schön hassen kann, deren Motive aber über Profitgier und Größenwahn nicht hinausgehen. Zum Figurenensemble gehören außerdem zwei Student*innen, deren Fachbereiche im Succession Game gefragt sind und die von Rafael als Helfer*innen rekrutiert werden. Leider bleiben beide genau das: Helfer*innen, die am Ende nur dazu da sind, die Spieler*innen von Théo und Clue zu supporten.  

Zu den positiven Entwicklungen der Romanzukunft gehört die Intergration nicht-binärer Menschen in die Gesellschaft. So ist es normal, nach dem Namen und nach den Pronomen zu fragen. Unter den Gamepersonas sind nicht-binäre Persönlichkeiten, wobei nur eine davon Neopronomen nutzt, und auch Student*in Yezmin ist nicht-binär. Es ist angenehm zu lesen, wie die Figuren überwiegend einen lockeren und ungezwungenen Umgang miteinander haben und gleichzeitig auf die Bedürfnisse der anderen achten und Grenzüberschreitungen ansprechen. Es gibt viele Konflikte, die oft auf gute Weise gelöst werden. Die Gesellschaft hat sich spürbar weiterentwickelt, technologische Entwicklungen kommen dagegen zu kurz beziehungsweise werden zu wenig erklärt. Vieles ist aus der Science Fiction bekannt und bedarf kaum Erklärung, doch gerade beim Zusammenspiel der neurochemischen Substanzen mit den Gamepersonas bleibt Anika Beer zu vage. Der Fokus liegt klar auf den Figuren und ihren Beziehungen zueinander und so fragt man sich bis zum Ende, warum eigentlich für ein Augmented-Reality-Spiel diese Gamepersonas verwendet werden, die so massiv in die Persönlichkeit und die Erinnerungen ihrer Spieler*innen eingreifen und diese überschreiben. Am Ende gibt es noch die eine oder andere Überraschung, die die Tür zu einer Fortsetzung weit aufstößt. Ob es eine geben wird, ist noch nicht bekannt - "Succession Game" funktioniert als Einzelroman aber sehr gut. 


Fazit

"Succession Game" bietet ein spannendes, futuristisches Escape-Room-Spiel mit facettenreichen Gamepersonas und vielseitigen Rätseln, die oft nur mit Teamwork oder auch sozialer Manipulation zu lösen sind. Die schillernde Spielwelt bekommt immer mehr Risse und dahinter verbirgt sich ein ethischer Abgrund, über dem ein größenwahnsinniger Konzernboss thront. Diesem bieten die jungen Protagonist*innen auf kreative Weise die Stirn. 


Pro & Contra

+ spannende, vielseitige Rätsel im Succession Game
+ Théo als charismatischer, gebrochener Successor
+ die Beziehung zwischen Théo als Gamepersona und seinem Spieler
+ Möglichkeiten und Grenzen der Gamepersonas werden thematisiert
+ Clues Suche nach ihren Erinnerungen
+ positive Entwicklungen in der zukünftigen Gesellschaft
+ diverse Wendungen und Überraschungen

- dünne Rahmenhandlung
- eindimensionale Antagonisten

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Künstliche Intelligenz, SF-Autorinnen, queere Figuren, progressive Phantastik, deutschsprachige SF, Near Future, Augmented Reality