Unwesen (John Ajvide Lindqvist)

lindqvist unwesen

dtv, 2023
Originaltitel: Vänligheten (2020)
Übersetzung von Thorsten Alms
Gebunden, 768 Seiten
€ 26,00 [D] | € 26,80 [A] | CHF 35,90
ISBN 978-3-423-28338-0

Genre: Horror


Rezension

Norrtälje ist eine friedliche Kleinstadt in Nordschweden, die pittoreske Hauptstadt der Schärenregion Roslagen. Durch den Ort fließt ein ruhiges Gewässer, in der Innenstadt gibt es viele kleine Holzhäuser, die Menschen sind liebenswert und freundlich. Eines Tages steht am Hafen plötzlich ein Container.  Als er nach einiger Zeit auf behördliche Anordnung aufgebrochen wird, findet man darin Leichen und eine grauenhaft stinkende zähe Flüssigkeit, die sich schnell im Umfeld ausbreitet. Der Hund eines Mannes suhlt sich darin, der Mann begeht bald darauf Suizid. Menschen, bislang freundlich und hilfsbereit, verändern sich negativ. Soziale Finsternis breitet sich aus, Tiere werden gequält, eine junge Frau wird vergewaltigt, weitere Gewalt bis hin zu Mord folgt. So zäh, wie die Flüssigkeit aus dem Container ist, so langsam überzieht das Grauen Norrtälje.

Die beiden Freundinnen seit Kindertagen, Anna und Siw, sowie die drei miteinander befreundeten Max, Johan und Marko, schließlich Marcos Schwester Maria sind die Hauptfiguren der Geschichte. Siw hört Ereignisse und Bilder aus der Zukunft, Max sieht künftige Unglücksfälle. Siw und Max haben eine Art zweites Gesicht in unterschiedlicher Ausprägung. Eine frühe Verbindung zwischen beiden wird hergestellt, als sie als Jugendliche im Jahr 2002 einen Beinahe-Unfall unabhängig voneinander und aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen. In der Gegenwart sind die Figuren etwa in ihren dreißiger Jahren und leben in sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnissen.

Lindqvist wird als der Stephen King Schwedens bezeichnet. Der Aufbau seines Romans, die zwei Zeitebenen, in denen wir die Hauptfigurem als Jugendliche und als Erwachsene erleben, die Heranführung an den Horror, das erinnert ebenso an King wie die übernatürlichen Fähigkeiten, die Siw und Max nicht verstehen und die eher Fluch als Gabe sind. Der schwedische Titel markiert den Ausgangspunkt: Freundlichkeit. Es dauert sehr lange, bis Unwesen als Horrorgeschichte erkennbar wird. Die Story weist allerdings Momente der Gothic Fiction auf, ist zunehmend unheimlich und erweitert die Trope des Horrorhauses auf einen Container und, darin zeitgenössischer Gothic Fiction nicht unähnlich, den kleinstädtischen Raum.

Ein weiteres wichtiges Element der Story ist die Frage der Identität in Krisenzeiten. Individuen verändern sich ins Negative, ihr bislang solidarisches Verhalten wird nach Öffnung des Containers feindselig. Zugleich aber versuchen Menschen, die diese Veränderung bewusst wahrnehmen, gegenzusteuern. Max und Siw retten einem verzweifelten Mann nicht nur das Leben, als der sich an einem Baum aufhängen will. Sie halten auch Kontakt zu ihm, was sich stabilisierend auf ihn auswirkt.

Der Container ist nicht Wegbereiter für das Böse. Er ist Ort eines bösen Verbrechens mit 28 Toten. In Norrtälje waren viele Menschen schon vorher so, das meiste und übelste Böse ist vor Eintreffen des Containers geschehen. Aber die verlogene Oberfläche einiger Menschen, die wird geöffnet. Dagegen kommt bei anderen Menschen das Gute stärker zum Vorschein. Das erinnert ein wenig an Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame. Und so sind in Unwesen auch Fragen nach Gerechtigkeit und Schuld, weniger hingegen Rache, von Bedeutung.

Das angebliche Vorzeigemodell eines Sozialstaats wird von Lindqvist einer Demontage unterzogen, im Großen wie auch in Details. Als die Schule, in der Anna Förderunterricht bekommt, eine Stelle streichen will, nicht einmal muss, soll es eben die für den Förderunterricht sein. Aber Annas Mutter, die auf keinen Fall Mama genannt werden will, regelt dies unter indirekter Bezugnahme auf einen bekannten Hashtag. Johan muss sich schon als Kind um seine schwerkranke Mutter kümmern, womit er naturgemäß überfordert ist. Im Lauf der Zeit staut sich in ihm viel Wut und Zorn an, weniger auf seine Mutter als auf diejenigen, die ihn mit allem allein lassen, obwohl er wiederholt um Hilfe bittet. Er scheitert letztlich am Desinteresse und der organisierten Nichtverantwortlichkeit von Bürokratie. Es erscheint folgerichtig, dass er ein ungesundes Interesse an anderen Dingen entwickelt. Entscheidend ist, ob er sich als entwicklungsfähig erweist, Einsichten zugänglich ist. 

Lindqvist lässt das Grauen sich entwickeln, während die Bürokratie versucht, den Besitzer des Containers ausfindig zu machen, während in dem Container Menschen sterben. Der Autor arbeitet mit einer Reihe von negativen Kommentaren auf die aus Sicht mindestens einer Figur “Scheißbürokratie”. Es gibt eine Auseinandersetzung darüber, ob Menschen im Container hätten gerettet werden können.

Die Ankunft des Containers in Norrtälje wird zum Auslöser einer bewusstseinsverändernden Erfahrung bei vielen Menschen. Bald zeigt sich der Zusammenhang mit Flüchtlingen aus Krisengebieten und Verbrechen in Schweden. Hieraus entwickeln sich das Grauen und die Grenzüberschreitungen in vielen alltäglichen Bereichen, die Fragilität, bis hin zur Verlogenheit, sozialer und moralischer Codes. Aber wie bei Stephen King stellen sich Menschen auch dem Bösen entgegen. Vornean sind es Max und Siw mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten, die einander ergänzen und die beiden einander näherbringen, wo dies unter anderen Bedingungen wohl nicht geschehen wäre.

Das Expertentum hat keine Antworten, stellt nicht einmal sinnvolle Fragen. Niemand mit Verantwortung löst das Problem, nicht die Politik, nicht die Institutionen der Stadt (Bürokratie, Polizei), nicht die Medien. Wie bei Stephen King bleiben dann nur die Hauptfiguren, ihr Weg von der angeblich behüteten Existenz hin zur Handlungsfähigkeit in einem Feld, in dem in westlichen Demokratien beispielsweise das Gewaltmonopol abgetreten wurde an staatliche Institutionen, die nunmehr aber ausschließlich mit sich selbst beschäftigt scheinen und versagen.

Unwesen ist eine Mischung aus brutalem sozialem Realismus und übernatürlichem Horror. Wer schwedische Kriminalromane liest, erkennt manches wieder, was beispielsweise bei Maj Sjöwall und Per Wahlöö und Henning Mankell zu finden ist. In Unwesen gibt es so seltsame Kapitelüberschriften wie: „Ich bin ein Sturm aus dem Nirgendwo“, „Die Tyrannei der guten Absichten“, „Der Junge, der die Kommunalverwaltung hasst“, „Armut und Überfluss“, „Bring mich weg von allem Morgen“, oder auch, was klingt wie ein Buchtitel von Antunes, „Denn ein Feuer ist entbrannt von meinem Zorn“.


Fazit

Unwesen umfasst rund drei Jahrzehnte einer sich verändernden Welt, die zu jeder Zeit Anforderungen an die Menschen stellt, denen sie sich gewachsen zeigen oder eben nicht. Der über mehr als 700 Seiten hervorragend strukturierte und trotz seiner düsteren Themen unterhaltsame Roman vermag durchgehend das Interesse zu halten. Der Horror entwickelt sich in und aus der Mitte der Gesellschaft.


Pro und Kontra

+ gute Charaktergestaltung
+ gesellschaftspolitisch relevant
+ greift aktuelle Diskurse differenziert auf
+ geschickte dramaturgische Steigerungen durch Siws Tochter und Annas Bruder

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5


Rezension zu Refugium

Tags: Schweden, Schuld, zweites Gesicht, sozialer Realismus