Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden (Kate Beaton)

beaton ducks

Zwerchfell, in Zusammenarbeit mit Reprodukt, Juni 2023
Originaltitel: Ducks. Two Years in the Oil Sands (2022)
Übersetzung von Jan Dinter
Gebunden, 444 Seiten
€ 39,00 [D] | € 40,90 [A] | CHF 63,90
ISBN 978-3-95640-383-5

Genre: Comic


Rezension

Im Jahr 2005 beendet die Kanadierin Kate Beaton ihr Studium mit einem Bachelor of Arts. In Nova Scotia gibt es kaum Arbeit, viele Menschen verlassen die Region und versuchen sich andernorts eine Existenz aufzubauen. Kate muss ihren Studienkredit zurückzahlen, weshalb sie von Cape Breton nach Alberta geht, um in den Ölsanden für Syncrude Canada Ltd. zu arbeiten. Ihre Eltern hätten es lieber gesehen, sie hätte kein geisteswissenschaftliches Studium absolviert und würde bei ihnen bleiben. Kate, die sich im Comic Katie nennt, beschreibt ihre Ausgangslage in einem Prolog, der gegen Ende die Schlagzeile „The smell of money“ aus einer Zeitung enthält.

In der Syncrude Base Mine wird sie gut bezahlt. Sie beginnt als „Werkzeugbutzenangestellte“, bei der sich Arbeiter Werkzeuge und Ersatzteile beschaffen. Im Lauf der zwei Jahre wechselt sie zweimal als „Werkzeugbutzenangestellte“, nach Syncrude Aurora und nach Long Lake. Ihr letzter Wechsel führt sie als Büroangestellte zu Shell Albian Sands. Bei jedem Arbeitsplatzwechsel wird auf einer Überblicksseite das Personal mit Porträt und Berufsbezeichnung vorgestellt, mit dem Katie es zu tun bekommt.

Im Unternehmen arbeiten nahezu ausschließlich Männer. Die wenigen Frauen sind zumeist in den Büros beschäftigt oder in der Kantine. Die Handlung zeichnet den beruflichen Weg Katies nach, ihre Ankunft, ihre schwierige Integration in die Beschäftigtengruppe, die vielfältigen sexistischen Übergriffe, denen sie ausgesetzt ist. Die meisten Menschen, die in den Ölsanden arbeiten, kommen aus anderen Regionen, in denen es aufgrund der De-Industrialisierung kaum Arbeit gibt. Sehr viele Männer waren vorher Fischer, andere haben in der Stahlindustrie oder im Bergbau gearbeitet. Nun haben sie es in den Ölsanden mit Bitumen zu tun, einer sehr zähflüssigen Substanz, deren Gewinnung anstrengend und umweltschädlich ist.

Katie landet später in einer Unterkunft, in der eins von den 48 Zimmern von ihr und einer anderen Frau bewohnt wird. Katie fühlt sich weder wohl noch sicher. Immer wieder geht die Tür auf, ein Mann schaut herein, ob es was zu sehen gibt, verabschiedet sich mit dem Hinweis, er habe sich in der Tür geirrt. Wiederholt fragen Männer, auch Familienväter, sie nach ihrer Bereitschaft, schnellen unverbindlichen Sex zu haben, bis hin zu Gruppensex.

Die bei Syncrude beschäftigten Männer nehmen Katie nicht als selbstbestimmte Frau und Individuum wahr. Abgesehen von maximal einer handvoll Kollegen ist sie für die Männer ein potenzielles Objekt zur Triebabfuhr. Und da sie sich verweigert, wird sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Manche ihrer Kolleginnen haben gelernt, mit toxischer Männlichkeit umzugehen, wenige Frauen sehen es mit der Triebabfuhr so ähnlich wie die Männer. Ein Soziotop, in dem das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf ähnliche Weise bestimmt wird wie das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Umwelt. Es wird deutlich und eindringlich gezeigt, dass in der kruden Arbeitswelt der Ölsande Katie ihre Selbstachtung bestenfalls suspendieren muss, will sie die Zeit dort überleben. Die Menschen, die in den Ölsanden arbeiten, müssen sich irgendwie in der Vorläufigkeit einrichten.

Die monochromatischen Zeichnungen mit ihren Schattierungen und der Präferenz für extreme Nahaufnahmen zeigen Männer, die sich bis auf wenige Ausnahmen sehr ähneln. Bedingt durch die Arbeit und das Leben in den Ölsanden ist die Mimik reduziert. Selten gibt es mal ein freundliches Wort, einen freundlichen Blick. In Momenten zeigt Beaton uns panoramische Bilder, in denen mal eine Landschaft oder ein Naturereignis sichtbar wird, mal die riesigen Maschinen und Fahrzeuge. Die Anlagen sind als einfache Geometrien gezeichnet. Die Landschaft hingegen ist formenreicher.

Und was hat all dies mit den titelgebenden Enten zu tun? Beaton verwendet Nachrichten und Zeitungsausschnitte in ihrem Comic, der so etwas wie eine Graphic Novel ist, die einen Abschnitt aus dem Leben der Autorin zum Inhalt hat. Die Ölsande von Alberta gehören zu den größten auf der Erde und zu denen mit der stärksten Umweltschädigung. In einem Artikel von CBC geht es um eine Greenpeace-Aktion und einen Prozess. Ein Artikel aus der New York Times vom 1. Mai 2008 berichtet über eine Katastrophe, bei der ungefähr 500 Enten in den Ölsanden gestorben sind. Im Zusammenhang dieser Tragödie wurden die Umweltkosten menschlichen Handels thematisiert und die Reaktion des Unternehmens, das Vogelscheuchen zur Abschreckung aufstellte.


Fazit

Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden ist ein hervorragender autobiographischer Comic, der eine Vielzahl von Themen aufgreift, Identität und Heimat, den nicht gelösten Widerspruch von Ökonomie und Ökologie im Rahmen wachstumsorientierten Denkens über die Welt und ökonomische Opportunitäten, die Missachtung der Rechte und des Lebensraums indigener Menschen, sexuelle Belästigung und Gewalt, institutionelle Mängel im Bildungswesen, Vergiftung von Lebensgrundlagen. Beaton gelingt es auf intelligente Weise, diese Themen miteinander zu verbinden.


Pro und Kontra

+ ein kompliziertes Soziotop
+ eindrückliche Beschreibung der Lebensbedingungen in den Ölsanden

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5

Tags: Rassismus, Sexismus, Kate Beaton, Autobiographie, Kanada, De-Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Ölindustrie, Ausbeutung