Jenseits der Hoffnung (Ivan Ertlov)

jenseits der hoffnung

p. machinery (August 2023)
Taschenbuch, 196 Seiten, 15,90 EUR
ISBN 978 3 95765 317 8

Genre: Steampunk / Alternative Geschichte / Horror


Klappentext

London, 1854: Der Krieg tobt, aber der Adel tanzt!

Während Tausende Luftschiffe verfeindeter Nationen verbissen um die Vorherrschaft am Himmel über Europa ringen, vergnügt sich die feine Gesellschaft Londons am Tanzparkett rauschender Ballnächte. Gin, Champagner und Cognac fließen in Strömen; es wird getanzt und gebalzt, sei es für den Heiratsmarkt oder die widerwillig gebilligten Begierden französischer Gäste. Junge Damen taktieren auf der Jagd nach einer standesgemäßen Verlobung und je höher ihr gesellschaftliches Ansehen, desto besser ihre Karten.

Eine denkbar ungünstige Ausgangssituation für Shiara Kirwashi. Nicht nur ist sie als uneheliche Tochter von Lord Lockerby, als Bastardin des Flaggenoffiziers, kaum mehr wert als eine Kammerdienerin, nein, das indische Blut ihrer Mutter verleiht ihr jenen exotischen Reiz, der sie in den Augen britischer Männer zwar begehrenswert, aber nicht heiratswürdig macht. All dies kümmert sie herzlich wenig – denn sie hat sich in den Kopf gesetzt, die erste Luftoffizierin Ihrer Majestät zu werden. Aber selbst als der Feind über die Hauptstadt hereinbricht und Pulverdampf den Himmel über London verfinstert, ahnt die junge Kadettin nicht, welches Grauen noch auf sie wartet …


Rezension

Das Britische Empire liegt im Krieg mit dem Deutschen Bund, die Soldaten sterben wie die Fliegen und der Adel vergnügt sich weiterhin auf opulenten Bällen, wo sich junge Damen heiratswilligen Herren präsentieren. Shiara Kirwashi ist all dies zuwider, sie will keine gute Partie, ist ohnehin als uneheliches Kind, noch dazu mit brauner Haut, eine Ausgestoßene ohne Wert. Ihrem Vater und seiner Frau, die Shiara wie eine eigene Tochter liebt, ist dies herzlich egal. Sie unterstützen Shiara in ihrem Wunsch, Luftoffizierin zu werden und für das Empire zu kämpfen, auch wenn sie um ihr Leben fürchten. Es steht so schlecht um die Royal Air Navy, dass die Königin angeordnet hat, dass jeder, der willens ist, das Vaterland zu verteidigen, dies tun darf - unabhängig von der Herkunft oder dem Geschlecht. Shiara ergreift die Chance und lässt sich zur Offizierin ausbilden. Sie beißt sich durch, besteht gegen unfaire Bedingungen, auch dank weniger Unterstützer. Kaum hat sie ihr Ziel erreicht, muss sie sich dem Grauen des Krieges stellen ...

"Der Krieg hat nicht viel mit Ehre zu tun, mehr mit Machtgier, Eitelkeit und der Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen. Es gibt kein erhabenes Gemetzel, keinen edlen Kampf, keine ritterlichen Duelle in den Wolken. Nur ein Töten und Sterben für Land und Krone." (Seite 27)

Shiara Kirwashi dürfte manchen Leser*innen aus der Anthologie "Necrosteam" bekannt sein. In "Jenseits der Hoffnung" erzählt Ivan Ertlov, wie Shiara zum Lieutenant wurde, und dass sie bereits in jungen Jahren einem unvorstellbaren Grauen gegenübertreten musste. Der Roman spielt in einer alternativen Realität, in der der Schmiedemeister und Erfinder Hans Kreissler eine neuartige Dampfmaschine erfunden hat, sodass Kriege in der Mitte des 19. Jahrhundert bereits in der Luft mit gewaltigen Kriegszeppelinen ausgetragen werden. Shiara wird Zeugin einer gigantischen Luftschlacht über London und später selbst Teil einer noch viel größeren, grausameren Schlacht, einer irrsinnigen Materialschlacht, in der Menschen regelrecht zermalmt werden. Doch dieses brutale Spektakel ist nicht etwa das Finale des Romans, viel mehr ist es die Ausgangslage dafür, dass Shiara auf einer mysteriösen Insel strandet. Diese besteht aus einem unbekannten Gestein, das jede Wärme aufzusaugen scheint, und verbirgt in ihrem Inneren einen kosmischen Alptraum.

Die Ballsaison wird von Ivan Ertlov recht schnell abgehandelt, immerhin hat Shiara kaum Interesse daran. Einzig das Schicksal ihrer Freundinnen interessiert sie und auch für ein wenig Klatsch und Tratsch ist sie zu haben. Doch das, wofür sie wirklich brennt, ist die Luftfahrt. Shiara ist fasziniert von den gewaltigen Zeppelinen und sie will kämpfen, für das Vaterland, das ihr mit Ablehnung aufgrund ihrer Herkunft begegnet, und vor allem für sich selbst, für ihre Selbstständigkeit und ihre Freiheit. Zudem bewundert sie ihren Vater, den Flaggenoffizier Lord Lockerby, der seine beste Freundin geheiratet hat, um ihr unter dem Schutz dieser offiziellen Ehe die Beziehung mit ihrer wahren Liebe, einer Frau, zu ermöglichen. Dies erklärt, warum Lady Lockerby Shiara bereitwillig aufgenommen hat, worüber sich die Londoner Gesellschaft wundert. Das Empire profitiert allzugern vom Kolonialismus, doch die Menschen aus den Kolonien akzeptieren sie nicht. Shiara erlebt Diskriminierung und Rassismus und verfolgt umso verbissener ihre Ziele. Als sie diese endlich erreicht, wandelt sich der Roman von Steampunk zu Military SF zu Kosmischem Horror á la Lovecraft.

"Da lag etwas in seiner Stimme, eine Schwingung, die sich an jene der Laute aus der Tiefe annäherte, eine Dissonanz, die ihr kurz Schwärze vor die Augen trieb. Sie roch nach Tod und Verderben, nach einer falschen Existenz, einem Grauen, das jenes des Krieges lächerlich erscheinen ließ." (Seite 139)

Shiara ist eine starke Protagonistin, die von ihrem sympathischen Vater viel gelernt hat und zudem hochmotiviert an ihre Ausbildung herangeht. Sie hat gelernt, Rassismus zu ertragen, kann sich jedoch verständlicherweise nicht immer zusammenreißen, wenn ihr Unrecht widerfährt. So ist sie auf Unterstützung angewiesen, wenn ihre Ausbrüche keine zukunftsbedrohenden Konsequenzen haben sollen. Erfreulicherweise dient sie in der Royal Air Navy an der Seite von Männern, die eine Offizierin in ihren Reihen akzeptieren. So klingt auch ihr Spitzname "Prinzessin" nicht misogyn, da sie diesen lediglich aufgrund der mangelnden Kreativität ihrer Besatzung trägt - Shiara ist nämlich tatsächlich eine Prinzessin, die Enkelin eines Maharadschas. Zu den einprägsamen Nebenfiguren zählen zudem ein verarmter österreichischer Adliger und sein böhmischer Koch, die gemeinsam mit Shiara und einem ihrer Matrosen auf der unheimlichen Insel stranden. Dabei zeigen sich auch Shiaras Vorurteile als Angehörige des Empires gegenüber Österreichern, die sie als "niederes Bergvolk" ansieht. Sie wird auf humorvolle Weise eines Besseren belehrt.

Der Titel "Jenseits der Hoffnung" ist nicht unbedingt unpassend, aber unglücklich gewählt, liest er sich doch wie der Titel einer kitschigen Liebesgeschichte in den Kolonien. Analog zur Kurzgeschichte "Das Dorf der Anderen" wäre vielleicht "Die Insel der Anderen" passender gewesen. Auch erlebt man Shiara selten im Kleid, sondern eher in Uniformen, die ihrer weiblichen Anatomie nicht immer gerecht werden. Im Innenteil des Taschenbuchs finden sich drei weitere Farbillustrationen von Detlef Klewer, von dem auch das Cover stammt. Ivan Ertlov stellt dem Romantext zudem eine kurze Zusammenfassung der Alternativen Geschichte voran, sodass man die Ausgangssituation besser erfassen kann. In der ersten Romanhälfte bleibt dennoch zu wenig Zeit, um das alternativ-historische Setting umfassend darzustellen und so greift der Autor auf Genreklischees zurück. Dennoch würde man sich sehr über ein weiteres Abenteuer von Shiara Kirwashi freuen.


Fazit

Alternative Geschichte, Steampunk und Lovecraft Horror verschmelzen in "Jenseits der Hoffnung" zu einem unheimlichen Abenteuer, in dem auf die Grauen des Krieges ein verstörendes, kosmisches Grauen folgt. Shiara Kirwashi ist eine schlagfertige Protagonistin, die Misogynie und Rassismus trotzt und Luftoffizierin wird - überwiegend aus eigener Kraft, aber auch dank der Unterstützung von Menschen, die auf unterschiedliche Weise den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit entgehen.


Pro & Contra

+ starke Protagonistin, die für ihre Selbstständigkeit kämpft
+ atmosphärischer Mix aus Alternativer Geschichte, Steampunk und Lovecraft Horror
+ spektakuläre Military-SF-Einlage / coole Steampunktechnologie
+ viele interessante Nebenfiguren
+ Shiaras sich gegenseitig unterstützende Familie
+ Kritik an Kolonialismus und Rassismus
+ sehr atmosphärische Beschreibungen der unheimlichen Insel
+ Farbillustrationen von Detlef Klewer

- Shiaras Ausbildung wird zu knapp geschildert
- dem Setting in London mangelt es abseits der Steampunktechnologie an Details
- Shiaras Freundinnen kommen zu kurz

Wertung: sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Necrosteam"

Tags: Steampunk, Lovecraft, Alternative Geschichte, queere Figuren, Military-SF