Niemandes Schlaf (Sven Haupt)

Eridanus (September 2023)
Taschenbuch, 400 Seiten, 16,00 EUR
ISBN: 978-3-946348-37-5

Genre: Cyberpunk / New Weird


Klappentext

„Desertierende Drohnenschwärme, halluzinierende Rechner, virale Wurstbrote und überall diese verdammten Blumen!“, fluchte der General. „Das ist doch kein Leben für einen Soldaten. Wie soll sich jemand in diesem Irrsinn noch zurechtfinden?“

„Wer oder was auch immer da gegen uns arbeitet“, entgegnete Calvin ruhig, „weiß genau, was er tut. Das Ganze ist in seiner völligen Chaotik viel zu regelmäßig. Jemand möchte, dass es genauso aussieht, damit wir nicht verstehen, dass es einen einzelnen Punkt gibt, an dem alle Fäden zusammenlaufen.“


Rezension

"Wir schwammen in einem Strom aus Dunkelheit, inmitten leuchtender Blüten, die uns entgegentrieben und respektvoll beiseite schwammen, kaum dass sie uns sahen. Dabei verneigten sie sich, wenn ihre Besitzer den Kopf senkten und uns Platz machten auf unserem eigenen Weg in die Dunkelheit." (Seite 80)

Als General Baker seinen vermissten Drohnenschwarm in einer Fleischfabrik wiederfindet, staunt er nicht schlecht, als die Hornissen aus dem Fleisch eine gigantische Rose bauen. Die erste von vielen Blumen, die viral gehen und Chaos in seine Stadt bringen. Pflanzen sind aus gutem Grund verboten und nun teilen die Menschen Blumen-Memes, Blumengraffiti verunstalten Fassaden, es gibt Trittbrettfahrer, die Demonstrationen und Selbstmorde verursachen. Was Baker dabei wirklich rasend macht: Er weiß nicht, woher dieser Angriff, denn das ist es für ihn, kommt. Ob ein einzelner Hacker dahintersteckt oder ein ganzes Land. Auch Professor Calvin gelingt es mit all ihren technologischen Möglichkeiten nicht, die Ursache des Phänomens zu finden, und dann erscheint auch noch Wagner von der Abteilung für transphysikalische Phänomen und faselt etwas von der Konvergenz von Welten. Baker ist es gleich, was wirklich hinter den Blumen steckt, er will nur jemanden, den er verantwortlich machen kann und er will, dass es endlich aufhört. Dabei fängt es gerade erst an.

Als die ersten Blumen auftauchen, erscheint Eva in Lous Leben. Die zierliche junge Frau bietet dem alten Professor Scholz die Stirn, woraufhin dieser sie in die Arbeitsgruppe für Bioakustik aufnimmt, zu der auch Lou und Doktor Tuomas Lauri gehören. Lou ist hin und weg von Eva, die eine besondere Beziehung zu ihren neusten Forschungsobjekten hat. Lou und Tuomas haben in Toiletten-Spülkästen in der PharmaCorp-Klinik Blumen entdeckt: quallenartige, blumenähnliche Wesen, die unerklärlicherweise aus der Frischwasserleitung kommen und die noch nicht klassifiziert sind. Die Arbeitsgruppe versteckt die Wesen, um sie in Ruhe erforschen zu können. Eva scheint die Blumen irgendwie zu beeinflussen, sie formieren sich zu Gruppen in ihrer Anwesenheit. Während das Militär mit aller Macht die Blumen bekämpft, ergründet die Arbeitsgruppe für Bioakustik ihr Geheimnis ...

In "Niemandes Schlaf" macht Sven Haupt aus einer auf den ersten Blick einfachen und skurrilen Idee eine komplexe, tiefgreifende Story über virale Blumen, die einen ganzen Megaplex auf den Kopf stellen. Um zu verstehen, warum diese Blumen das Militär so sehr beunruhigen und die Bevölkerung aufwühlen, muss man sich die zukünftige Welt ansehen: Die Menschen leben in einer gigantischen Stadt auf engstem Raum, in einem Meer aus gleichförmigen Hochhäusern, völlig entfremdet von der Natur, kontrolliert vom Staat und von Konzernen und abhängig vom Netz. Ein Netzausfall führt unweigerlich zu einer steigenden Selbstmordrate. Auch gehen Bilder in der allgegenwärtigen Vernetzung unglaublich schnell viral, die Blumen sind geradezu infektiös. Die Bilder der ersten Blume, der Rose aus Fleisch, verbreiten sich mit nahezu Lichtgeschwindigkeit. Influencer greifen das Bild auf, Memes verbreiten sich in den sozialen Medien, ein Hersteller bringt Wurst mit Blumenmotiven auf den Markt, Menschen demonstrieren, für und gegen Blumen. Das kommt Social-Media-Nutzer*innen alles bekannt vor, nur wird es hier auf die Spitze getrieben und erzählt uns so einiges über unsere eigene vernetzte Welt. 

"Die Welt wird mit jedem Tag absonderlicher, fremdartiger, gefährlicher und unvorhersagbarer (...) Vielleicht klammern die Menschen sich deswegen an immer neue und aufregendere Versionen von Wirklichkeit. Vielleicht gibt es ihnen die Illusion einer Kontrolle in einer Welt, die ihnen sonst nichts lässt. Denn solange sie mit immer neuen Wahrheiten beschäftigt sind, realisieren sie nicht, dass ihnen nicht einmal mehr die eigenen Gedanken gehören." (Seite 251)

Interessant ist die Erzählperspektive, denn Protagonistin Lou ist zugleich handelnde Person als auch Beobachterin und Chronistin der Ereignisse. Die Lou, die die Geschichte erzählt, die sie teils selbst erlebt hat und teils mittels Überwachungstechnologie beobachtet, lebt nicht mehr. Unweigerlich fragt man sich, was passiert ist und ob sie wirklich tot ist, immerhin erzählt sie die Geschichte - mit einem beeindruckenden Gespür für wichtige Details und einem mitreißenden, ironischen Humor. Die Erzählerin Lou gibt nur wenig von ihrer jetzigen Existenzform preis, der Fokus liegt auf der Lou, die mit Eva und Tuomas an den Blumen forscht. Sie ist nicht-binär und aufgrund einer Krankheit mit starkem Muskelschwund sitzt sie im Rollstuhl. Dieser heißt Richard, ist KI-gesteuert und wird von verschiedenen Arbeitsgruppen in der Klinik stets weiterentwickelt, um Lous Bedürfnissen gerecht zu werden. Dabei blicken die meisten vor allem auf Richard, ein Wunderwerk der Technik, in dem Lou immer kleiner wird. Dafür macht sie sich hübsch, trägt Röcke und Kleider und trägt Lippenstift auf - und rasiert sich, wenn es der Anlass erfordert. Lou scheint mit ihrer Krankheit gut klarzukommen, doch mit jedem Kapitel wird deutlicher, wie hart ihr Leben ist. Ihr Hightechrollstuhl überwindet zwar fast alle Barrieren, aber eben nur fast. Und der körperliche Verfall belastet Lou, die sich hinter ihrem Sarkasmus versteckt. Ironischerweise ist dieser Verfall auch eine Befreiung für sie, da sie in der ihr bleibenden Zeit endlich einfach Lou sein will und kann. 

Lou zur Seite steht ihr bester Freund Tuomas, ein Berg von einem Mann und ein brillanter Wissenschaftler mit vielen Eigenheiten, der immer wieder überrascht. Er verlässt nie die Klinik, kennt längst vergessene Lagerräume, hat alle Schlüssel und so einige beeindruckende Fähigkeiten. Lou und Tuomas sind ein eingespieltes Team, eine kleine Found Family und in vielen kleinen Gesten spürt man, wie gut die beiden befreundet sind, vor allem wenn sie miteinander diskutieren und sich necken. Als Eva ihrer Arbeitsgruppe beitritt, ist Lou hin und weg von ihr und es fällt ihr schwer, nicht in Schwärmerei abzudriften. Eva begegnet ihr mit Offenheit und Akzeptanz und zwischen den beiden knistert es leise. Lou ist fasziniert von ihrer zerbrechlichen Gestalt und bemerkt schnell, dass Eva tatsächlich zerbrochen ist, gezeichnet vom Leben. Man kann nur erahnen, was Eva durchmachen musste, sie bleibt eine mysteriöse Figur, die bereits den Rückzug aus der Welt angetreten hat. Der Leiter der Arbeitsgruppe, Professor Scholz, ist ein uriger Typ der ganz alten Schule, grob und liebenswert zugleich. Zunächst ist er eine skurrile Nebenfigur, doch wie man bereits in "Wo beginnt die Nacht" erfahren hat: Die Nebenfiguren wissen manchmal erstaunlich viel und verfolgen ganz eigene Pläne. 

Auf der anderen Seite stehen General Baker und Professor Calvin, die offenbar schon ewig zusammenarbeiten und sich herrlich aneinander reiben. Calvin ist der Archetyp der hochintelligenten, obszessiven Wissenschaftlerin, die völlig vertieft in ihre Forschung ist und literweise Tee trinkt. Während die meisten Menschen aufgrund der Lebensbedingungen in der Stadt kaum schlafen, schläft Calvin nicht, weil sie völlig in ihre Arbeit vertieft ist. General Baker ist dagegen der typische, überzeichnete Militär. Er sieht überall Feinde, muss dem Präsidenten berichten und hat die Schnauze voll von einer Welt, in der Blumen viral gehen und er somit keinen Feind hat, auf den er schießen kann. Baker repräsentiert einen Kontrollstaat, der Religionen abgeschafft hat und für den Menschen Statistiken sind. Im Megaplex wird nahezu jeder jederzeit überwacht, das Marketing arbeitet mit Hochdruck an der Anpassung der Propaganda, Influencer werden schnell zu Terroristen gemacht. Eine ebenso große Macht sind nur Konzerne wie PharmaCorp, die über ein eigenes Heer verfügen, mit dem sich der Staat auf keinen Fall anlegen will. Baker und Calvin gehören zu denen, die in der Stadt für Ordnung sorgen, und es ist wahnsinnig unterhaltsam, ihnen dabei zuzusehen, wie sie im Angesicht der Blumen zunehmend verzweifeln - wobei Calvin eine gewisse Gelassenheit entwickelt, weil sie ihre eigene Grenzen anerkennt. 

"Niemandes Schlaf" ist Cyberpunk, allerdings weniger düster und brutal als andere Romane des Genres. Der Staat stellt die Bevölkerung mit Medikamenten ruhig, verhängt häufig Lockdowns und presst die Menschen in eine zunehmend menschenfeindliche Welt, doch all dies bekommt man hier nur am Rande mit. Der Fokus liegt auf den Erlebnissen der Protagonist*innen und auch wenn die Welt eine düstere ist, erlebt man mit Lou viel Empathie und Menschlichkeit. Im Verlauf der Handlung verwischen die Grenzen zwischen Science Fiction und Fantasy, wobei hier zunächst vieles wissenschaflich erklärt wird. Wo die Wissenschaft nicht weiterkommt, werden metaphysische Erklärungen herangezogen, doch letztlich erkennen die Figuren, dass sie nicht vollständig begreifen können, was da mit den Blumen passiert. Auch die Leser*innen können es lange nicht, doch sie können sich ihre eigenen Gedanken machen, denn die Blumen sind eine Metapher, die individuell gedeutet werden muss. Sven Haupt widmet sich Fragen nach dem Wesen des Universums, der Wirklichkeit und des Bewusstseins, dem (kollektiven) Unbewussten sowie der Macht von Bildern und den Grenzen der Wissenschaft. Es gibt viele Sätze in diesem Roman, die zum Nachdenken anregen, berühren und auf wunderbare Weise irritieren. Zum Ende hin fühlt man sich zunehmend an "Wo beginnt die Nacht" erinnert, es wird spirituell und etwas kitschig, doch auch hier steht der feinsinnige Humor im Vordergrund, sodass man vor allem über den Ideenreichtum und die immer offensichtlicher werdenden Verbindungen innerhalb der Geschichte staunt. 

"Es ist schon in Ordnung. Es ist nicht wichtig, dass eine Geschichte geglaubt wird. Viel wichtiger ist es, dass sie erzählt wird, denn im Universum wird nichts jemals vergessen. Eine erzählte Geschichte gewinnt an Realität, das ist der entscheidende Punkt." (Seite 372)


Fazit

"Niemandes Schlaf" ist unfassbar kreativer, weirder Cyberpunk, in dem Blumen viral gehen, Militärs in Panik versetzen und die Grenzen unserer Realität sprengen. Sven Haupt widmet sich der Macht von Bildern in einer Welt vollständiger Vernetzung und erzählt mit feinsinnigem Humor vom Kontrollverlust eines Überwachungsstaates, Künstlicher Intelligenz, konvergierenden Welten sowie der Natur des Universums und des Bewusstseins. Ein wunderbarer, poetischer SF-Roman mit einer beeindruckenden Protagonistin, deren Körper schwindet und die dabei ihre wahre Identität erkennt und lebt.  


Pro & Contra

+ weirder Cyberpunk mit transphyskalischen Phänomenen
+ Blumen gehen viral und erschüttern die Welt
+ nicht-binäre Protagonistin, die zugleich Teil der Handlung und Beobachterin ist
+ die tiefe Freundschaft zwischen Lou und Tuomas
+ wahnsinnig schöne, leise Lovestory zwischen Lou und Eva
+ die bissigen Dialoge zwischen Baker und Calvin
+ der intelligente Rollstuhl Richard
+ feinsinniger, ironischer Humor und viele originelle Ideen
+ viele Sätze, die zum Nachdenken anregen und berühren

Wertung: sterne5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Wo beginnt die Nacht"

Tags: Cyberpunk, Künstliche Intelligenz, queere Figuren, progressive Phantastik, deutschsprachige SF, New Weird, Sven Haupt, Weird Fiction