Tausend Arten von Blau (Cheon Seon-ran)

Seon ran TausendArtenVonBlau

Golkonda, 2023
Originaltitel: Cheon Gae-ui Parang/천 개의 파랑 (2020)
Übersetzung von Jan Hendrik Dirks
Broschur, 366 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-96509-051-4

Genre: Science Fiction


Rezension

Südkorea in der näheren Zukunft. Zum Alltagsbild gehören humanoide Roboter, die, wie Darpas, im Transportwesen, im Zivilschutz und bei der Feuerwehr eingesetzt werden. In Geschäften und Banken arbeiten Dienstleistungsroboter.

Koli, ein humanoider Roboter-Jockey, wurde versehentlich mit einem anderen Chip ausgestattet als der Rest seiner Serie C-27. Er lernt seine Umwelt sinnlich wahrzunehmen und stellt Fragen an Menschen, was diese irritiert. Er verfügt über einen ausbaufähigen Wortschatz von rund 1000 Wörtern, denkt über die Welt nach, so die vielfältigen Blautöne des Himmels, und scheint Emotionen zu haben. Koli ist Jockey des Rennpferdes Today, zu dem er eine intensive Beziehung aufbaut. Koli kann Todays Vitaldaten wahrnehmen und mit dem Pferd kommunizieren. Today wird rücksichtslos von Menschen zu Höchstleistungen gezwungen, bis seine Gelenke verschlissen sind. Eines Tages lässt sich Koli während eines Rennens absichtlich von Today herunterfallen und wird dabei schwer beschädigt. Seiner Verschrottung entgeht er, weil die sechzehnjährige Schülerin Yeonjae ihn von Todays Trainer Minju kauft und seine defekten Teile ersetzt.

Yeonjae, die an künstlicher Intelligenz interessiert ist, wohnt mit ihrer Schwester Eunhye und ihrer Mutter Bogyeong zusammen. Der Vater lebt nicht mehr. Bogyeong, eine frühere Schauspielerin und Bankangestellte, wurde in der Bank durch einen Dienstleistungsroboter ersetzt, der ihr in einem Gespräch erklärte, warum sie ein Restaurant aufmachen sollte. Sie arbeitet seitdem für wenig Einkommen wie ein Pferd in ihrem eigenen Restaurant. Bogyeong und ihre Töchter gehören zur Unterschicht Südkoreas, haben nicht das Gefühl, abgehängt worden zu sein, sondern sie sind es tatsächlich. Mit jedem technologischen Entwicklungsschritt, den die Welt vollzieht, geraten sie weiter ins Hintertreffen.

Eunhye ist seit einer Polioerkrankung querschnittsgelähmt und hofft darauf, irgendwann einmal künstliche Beine zu erhalten. Ihre jüngere Schwester Yeonjae arbeitet an einem Schulprojekt zur Robotik mit ihrer Mitschülerin und Nicht-Freundin Jisu aus der Oberschicht. Yeonjae, Eunhye und Koli wollen Today vor der Tötung retten. Unterstützung erhalten sie nach anfänglichen Problemen durch die Tierärztin Bokhui und den Journalisten Seoyin. Die Hauptfiguren der Geschichte sind mithin ein Rennpferd, das eingeschläfert werden soll, weil es nur noch als Kostenfaktor gesehen wird und für die Besitzer nutzlos ist, ein Roboter-Jockey und eine Mutter mit zwei Töchtern. Sie führen einen Kampf um das Leben des Pferdes, der Sinnbild für den Kampf gegen eine feindliche Welt wird.

Cheon Seon-ran hat für ihren Roman Tausend Arten von Blau den Korea Science Fiction Award erhalten. Cheon erzählt Science Fiction, die nahe an der Lebenswirklichkeit der Leserinnen ist und gegenwärtige Themen behandelt, wie Macht und Diskriminierung, Minderheiten und Hass, Kapitalismuskritik und die Auswirkungen menschlicher Gesellschaften auf die Umwelt. Diesen Themenkomplex erweitert die Autorin um künstliche Intelligenz und humanoide Roboter.

Während der Lektüre von Tausend Arten von Blau denke ich an die Gefahren der künstlichen Intelligenz, die dominant Gegenwartsdiskurse bestimmen, und an die Menschwerdung der Maschine. Matrix und Terminator bringen hier aber nicht weiter, weil die Maschinen weder die Menschen beherrschen noch auf dem Weg dorthin sind. Vielmehr sind es die Menschen, die die Maschinen beherrschen. Ob es eine Betty ist, ein Dienstleistungsroboter, der in Geschäften menschliche Kunden bedient und von diesen noch mieser behandelt wird als viele Menschen, die in dieser Art Job arbeiten. Oder ob es Roboter-Jockeys vom Typ C-27 sind, die behandelt werden wie die Rennpferde: werden sie nicht gebraucht, verbringen sie die Zeit in Boxen, aus denen sie kurzzeitig herauskommen, wenn sie benutzt werden. Ist ihr Nutzungszyklus vorbei, werden sie entsorgt, ob der humanoide Roboter einen Defekt hat, den zu reparieren sich nicht lohnt, oder ob das Pferd verschlissen ist.

Die Menschwerdung Kolis vollzieht sich auf ganz andere Weise. Er beobachtet neugierig wie ein Kind die Welt, versucht zu verstehen, erweitert seinen Wortschatz, stellt Fragen, entwickelt Gefühle und sucht Nähe. Soweit es um die humanoide Hauptfigur des Romans geht, denke ich eher an Filme wie A.I. - Artificial Intelligence, oder an Romane wie Kazuo Ishiguros Alles, was wir geben mussten und Klara und die Sonne.

Der Kapitalismus, um den es in Tausend Arten von Blau geht, äußert sich in verschiedener Gestalt, nicht nur im Umgang mit Koli und Today. Ab einer bestimmten Höhe des Mindestlohnes wird es für den Ladenbesitzer attraktiv, Arbeit durch Kapital zu substituieren. Er entlässt Yeonjae und kauft eine Betty. Die Bank entlässt Bogyeong aus dem gleichen Grund. Der Kapitalismus und seine Profiteure erzählen eine alte Geschichte mit alten Wahrheiten, eine Kreationsgeschichte von in Geldeinheiten bewertbarem Leben.

Im freundlichen Blick mancher Figuren auf die Welt leuchten blitzartig Bilder von Bosch oder Blake auf, die beim Lesen irritieren. Da ist immer, im Guten wie im Bösen, etwas mehr als das, was beschrieben wird, aber nicht interpretierend herausgearbeitet werden muss. Das liest sich alles so leicht und ist doch schwere Kost. In der Abbildung der südkoreanischen Gesellschaft wird auch unsere eigene sichtbar, bis hinein in einzelne Figuren. Das mag wirklich sein, mag dem Bestreben der Autorin geschuldet sein, eine nahezu universell verständliche Geschichte zu erzählen.

Koli steht mit seiner naiven Wahrnehmung auch für eine neue Wahrnehmung der Welt, für neue Ideen und neue Formen. Dazu gehört die bewusste Selbstbeschränkung, um anderem Sein nicht zu schaden. Die traditionellen Formen sind der Ausgangspunkt seines Lernens, aber wie in guter Musik spielt Koli, sobald er eine der Formen beherrscht, zu beherrschen glaubt, auf einfache Weise etwas anderes, das wir, wie er auch, nicht sofort identifizieren können, weil der herrschende Stil aufgebrochen werden muss. Und sobald dies geschehen ist, erkennen wir es und können eine neue Geschichte beginnen.

Das geschieht in dem Roman nicht wie ein Unfall, sondern im Wortsinn als Unfall. Dieser Unfall muss geschehen, nicht nur als Störung, die es zu überwinden gilt und die zu überwinden manche Menschen auch antreten, sondern als neue Erzählung, die Leben ermöglicht, ein Leben, das deutlich macht, das vieles falsch läuft. Die menschlichen Figuren im Roman können froh sein, dass sie jemanden wie Koli kennenlernen, der ihnen eine seltene Erfahrung verschafft, durch die sie sich im Guten weiterentwickeln können. Am Ende wird Koli zwar nicht gekreuzigt, aber wir erkennen dennoch einige Dinge wieder, die es einmal gab.

Koli bringt die Kinder zum Innehalten, bläst den ganzen Mist aus ihren Köpfen, lässt sie im Grunde entgleisen und bringt sie auf eine neue, eine hoffnungsvolle Spur. In diesem Roman ist alles enthalten: die Schönheit und das Grauen, die Gier und die Dummheit, eine Welt, die in ihrer seelenlosen Mechanik verzerrt ist und vielleicht wieder in die Spur gebracht werden kann – eine andere Richtung. Diese Figuren bilden einen Mikrokosmos der Empathie und Zuneigung in einer Welt der emotionalen und menschlichen Kälte, die alles nach seinem Nutzen bewertet und nur noch auf Profitsteigerungen aus ist. Sie bringen Opfer, statt sie von anderen zu erwarten. Und sie statten nicht ein Abstraktum mit Tätereigenschaften aus.


Fazit

Tausend Arten von Blau verknüpft in einer emotional berührenden Geschichte einen Diskurs über Wissenschaft und Ethik mit einem über technologischen Fortschritt und seine gesellschaftlichen Auswirkungen, der Frage, wie es mit der Teilhabe und der Nutzenverteilung in einer Gesellschaft aussieht. Die Menschen, die den peripheren Raum des Kapitalismus besetzen, sind auch die, welche regelmäßig verlieren. Das Buch ist sprachlich sehr einfach gehalten, der Wortschatz ist überschaubar. Wie in einem Kinderbuch ist die Suche nach Subtext und Vielschichtigkeit überflüssig. Die Geschichte ist wie ein Lied, einfach vorgetragen, intuitiv verständlich, mit Redundanzen, sie hat eine zyklische Struktur und zwei Erzählinstanzen.


Pro und Kontra

+ gefühlvolle SF mit Blick für kleine Dinge
+ schöne Geschichte über eine Wärmeinsel in der Kälte

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Künstliche Intelligenz, Kapitalismuskritik, Cheon Seon-ran, humanoide Roboter, Tierrechte, Hoffnung, Speziezismus, koreanische Science Fiction, Ethik und Wissenschaft