Neurobiest (Aiki Mira)

Eridanus (Oktober 2023)
Taschenbuch, 400 Seiten, 16,00 EUR
ISBN: 978-3946348399

Genre: Science Fiction / Biopunk


Klappentext

In absoluter Realität - ohne Träume - kann ein Bewusstsein nicht existieren.

Die Stadt Berlin im Jahr 2100 – Der menschlichen Schöpfungskraft sind nahezu keine Grenzen gesetzt, 98 Prozent aller Menschen, Tiere und Pflanzen sind modifiziert. Bioinformatikerinnen und Geningenieurex wollen die letzten Geheimnisse des Lebens entschlüsseln, es wird gezüchtet, präpariert und manipuliert. Die Biohackerin Aruke lebt gemeinsam mit ihrer Community – den Unerschütterlichen – hoch oben auf den Dächern Berlins. Auch wenn nach außen hin alles normal erscheint, mit Arukes Körper stimmt etwas ganz und gar nicht. Liegt die Ursache in ihrer Kindheit, im komplett synthetisch erzeugten Amazonas? Und was hat Riva Lux – geheimnisvolle Mega-Celebrity – damit zu tun? Aruke spürt eine ganz besondere Verbindung zu ihr. Je mehr Aruke in ihre eigene Vergangenheit eintaucht, desto mehr wird alles, woran sie glaubt, in Frage gestellt.


Rezension

"Menschen leben auf einer Fläche, bebauen und bewirtschaften sie. Dann werden sie enteignet und von einer systematisierten Tourismusindustrie abhängig gemacht. Ha, unser Dach als anarchischer Abenteuerurlaub, als Gegengift zur geordneten Zivilisation!" (Seite 15)

Biohackerin Aruke lebt mit ihrer kleinen Community, den Unerschütterlichen, auf einem Dach in Berlin, das sie zu einem grünen Paradies gemacht haben. Sie produziert für das Institut für Synthetische Biologie modifizierte Organismen, hat als Mensch ohne ID jedoch keine Möglichkeit, offiziell wissenschaftlich zu arbeiten. Regelmäßig führen sie und ihr Freund, Kollege sowie gelegentlicher Liebhaber Kenoah Touristen über das Dach, während sich das paranoide IT-Genie Crispin in ihrem Hauptquartier verschanzt. Zu ihrer kleinen Wahlfamilie gehört außerdem Teenagerin Soho, die gar nicht so viel jünger als die jungen Erwachsenen ist, jedoch bereits in einer ganz neuen Welt aufwächst. Als Aruke die Gelegenheit erhält, Riva Lux - die Mega-Celebrity, deren Stream sie täglich stundenlang verfolgt - live zu sehen, öffnet sich für sie das Tor zu ihrer eigenen Vergangenheit im Synthetischen Biom (SynBiom) im ehemaligen Amazonas ...

"Neurobiest" spielt in der gleichen Zukunft wie "Neongrau - Game Over im Neurosubstrat", allerdings rund zehn bzw. zwanzig Jahre früher. Aiki Mira erzählt abwechselnd aus den Jahren 2090 und 2100 und macht schon im ersten Kapitel klar, welche Verbindung es zwischen den beiden Handlungssträngen gibt: Aruke hat als Kind im SynBiom bei einer Gruppe Forscherinnen gelebt, zumindest sagt sie, ihr wäre, als sei sie früher eine andere Person gewesen, die Prima hieß. Prima ist die Tochter einer Botanikerin, die der Leiterin der Forschungsgruppe geradezu hörig ist und sogar ihr eigenes Kind für Experimente zur Verfügung stellt. Nachdem der Amazonas-Regenwald vollständig durch Abholzung und den Klimawandel vernichtet wurde, wurde versucht, einen neuen Wald auf Basis synthetischer Biologie zu erschaffen. Dies ist auch gelungen, das SynBiom ist ein Dschungel voll seltsamer Pflanzen und Tiere, die von den Biologinnen genetisch manipuliert und operativ verändert wurden. Prima ist fasziniert von dem Wald - und sie ist fasziniert von einem Mädchen namens Tanun, das wie der Wald ein gentechnisches Experiment ist. Ob Prima tatsächlich Arukes jüngeres Ich ist, wird im Verlauf der Handlung zunehmend in Frage gestellt.

Klar hingegen ist, dass Aruke traumatisiert ist und das in ihrem Körper regelmäßig etwas Seltsames vorgeht. Bereits im ersten Kapitel gibt es eine irritierende Szene, in der Aruke eine Art Ei aus sich herauspresst. Darüber hinaus hat Aruke selbst ihre eigenen Gene manipuliert und ist so beispielsweise extrem muskulös. Solches Biohacking ist in der Zukunft ganz normal. Auch Riva Lux hat einiges an sich modifzieren lassen und sieht auch in der Realität wie ein perfekter VR-Avatar aus. Mega-Celebs, quasi Influencer*innen, wie Riva Lux gehen bei den Modifikationen besonders weit und werden dafür gefeiert. Sie teilen ihr ganzes Leben mit ihren Fans, ähnlich wie heute, nur nochmal extremer. Aruke ist besessen von Riva, aber weniger wegen ihren dramatisch inszenierten Auftritten, bei denen sie ihr Bewusstsein mit Tieren teilt, sondern weil sie eine Verbindung zu ihr spürt und glaubt, etwas von ihr zurückbekommen zu können, was ihr genommen wurde.

"Wir alle müssen an einem Ort geboren werden, erkennt Crispin, und dieser Ort bestimmt dann für immer, wie weit wir uns davon wegbewegen dürfen." (Seite 47)

Die Handlung im Jahr 2100 ist relativ geradlinig: Nach einer knappen Einführung in den Alltag der Unerschütterlichen auf ihrem Dach, trifft Aruke auf Riva und die beiden kommen in Kontakt miteinander. Man wundert sich, wie leicht Aruke an diesen Megastar herankommt, die Hürden sind schnell überwunden. Erst im letzten Drittel wird es in diesem Handlungsteil turbulent und schaurig. Science Fiction und Horror verschmelzen zu einem Finale, das die Verbindung zu "Neongrau" herstellt, denn hier erfahren wir, wie das Neurosubstrat entdeckt und wie es nutzbar gemacht wurde. Ansonsten ist Berlin so ganz anders als Hamburg, wobei die Leser*innen gar nicht so viel vom eigentlichen Berlin sehen. Die Dächer sind Welten für sich und Aruke und die Unerschütterlichen sind Außenseiter*innen, die sich bewusst von der Gesellschaft abgrenzen. Sie haben sich ihre eigene, bessere Welt erschaffen und gehen miteinander respektvoll und unterstützed um. "Neurobiest" ist eigentlich Cyberpunk bzw. Biopunk, doch das Dach der Unerschütterlichen sieht nach Solarpunk aus. Dystopie und Utopie verschmelzen und im herrlich grünen Paris erhascht man einen Blick darauf, dass es die Menschen auch besser können.

Aruke und Kenoah sind Flüchtlinge und haben keine ID, entsprechend können sie sich in der Gesellschaft nicht frei bewegen. Crispin hingegen hat das Außenseitertum selbst gewählt und sich vom Reichtum der Familie abgegrenzt. They ist sehr paranoid und überzeugt davon, dass man they sucht und verhaften wird. Entsprechend achtet they sehr darauf, keine digitalen Spuren zu hinterlassen. Soho ist die Tochter einer Nachbarin und war so oft zu Besuch bei den Unerschütterlichen, dass sie bald dazugehört hat. Sie alle sind komplexe Figuren, die für viele Leser*innen schwer zugänglich sein dürften, da sie in einer völlig anderen Welt als wir heute leben. Im Kontext ihrer Zukunft wirken sie jedoch authentisch und es ist schön zu lesen, wie sie einander mit all ihren Stärken und Schwächen akzeptieren. Ihr Alltag wird von Technologien bestimmt, die wir im Ansatz erahnen, aber teilweise auch schwer vorstellen können. Das allgegenwärtige Biohacking wirkt befremdlich und die Leichtigkeit, mit der Gene manipuliert werden, ist verstörend. Der Selbstoptimierungswahn wird auf die Spitze getrieben und so mancher Mensch hier wirkt wie eine neue Spezies.

"Wir sind uns alle so ähnlich. So flüchtig. Wie kann ein Lebewesen das wissen und nicht in Tränen ausbrechen?" (Seite 142)

Nachvollziehbar ist das Verlustgefühl aufgrund der Klimakrise. Insbesondere Riva Lux leidet unter der sogenannten Solastalgie, die den Schmerz und die Trauer um die verlorene bzw. zerstörte Heimat beschreibt. Der Klimawandel und Umweltzerstörung haben der Erde stark zugesetzt. Immer mehr Menschen leiden physisch und psychisch unter den Folgen der Klimakrise. Während viele verzweifeln, versuchen andere mit Hilfe der Biotechnologie alles wieder in Ordnung zu bringen und überschreiten ethische Grenzen. Aiki Mira hebt dabei insbesondere die Rolle des Kapitalismus hervor, der mit seiner Profitsucht jede gute Idee in eine neue Katastrophe verwandelt. Auch im SynBiom arbeiten die Wissenschaftlerinnen unter Kosten- und Erfolgsdruck und es sieht immer mehr danach aus, als würden sie in ihrer menschlichen Hybris großen Schaden anrichten. Leben wird zu einem Produkt, das beliebig angepasst werden kann, doch das menschliche Verständnis des Lebens stößt an Grenzen. Prima und Tanun erleben den synthetischen Wald aus ihrer kindlichen Sicht, sie fühlen seine Lebendigkeit und erkennen, was die Erwachsenen in ihrer Selbstüberschätzung nicht sehen können. Dabei ist es oft schwer zu ertragen, wie die Forscherinnen über Prima und Tanun hinweggehen, wie sie sie zu Objekten degradieren und mit ihnen experimentieren.

"Neurobiest" erinnert an "Die Insel des Doktor Moreau" von H. G. Wells und "Blutmusik" von Greg Bear. Wie Doktor Moreau überschreiten die Biologinnen hier Grenzen, haben den Respekt vor dem Leben verloren und verursachen Leid. Sie entsprechen dem Archetyp des "mad scientist", der für seine Karriere und Forschung über Leichen geht. Und wie "Blutmusik" beschäftigt sich "Neurobiest" mit neuen Formen des Lebens, potentiellen Auswirkungen der Gentechnologie und mit dem Bewusstsein. Aiki Mira hat dazu einige spannende und phantastische Ideen, die den Reiz dieses Romans ausmachen. Die biologischen Themen sind gut recherchiert, auch wenn das Ausmaß der Manipulationen wie Fantasy anmutet und in dieser Form nicht möglich scheint. 

Der Schreibstil lebt wie in den beiden Romanen und diversen Kurzgeschichten zuvor von beeindruckenden Metaphern und Überzeichnungen, die manchmal in Klischees abdriften, aber zum Empfinden und Denken der jungen Figuren passen. Für junge Menschen ist oft alles extremer und überwältigender, vor allem in einer Zukunft wie dieser und das fängt Aiki Mira perfekt ein. Die Kapitel sind oft kurz, vor allem in der zweiten Romanhälfte, sodass man ständig zwischen 2100 ud 2090 hin- und herspringt. Das ist fordernd, man kann das Buch schwer aus der Hand legen, weil man sonst kaum noch mitkommt. Doch es macht auch großen Spaß zu sehen, wie die beiden Handlungsstänge ineinander fließen und sich alles doch nicht ganz so entwickelt, wie man gedacht hat.   

Abschließend noch eine kleine Anmerkung zum bunten Cover, denn dieses wurde von Aiki Mira selbst aus eigenem Bildmaterial und mit Hilfe von Detlef Klewer und KI erstellt. Wer das Buch gelesen hat, wird es als äußerst passend empfinden.

"Das Bewusstsein eines Lebewesens ist so groß, so raffiniert, dass es eine ganze Welt hevorbringt." (Seite 163)


Fazit

"Neurobiest" ist ein wilder Trip in eine Zukunft, in der der Klimakrise mit synthetischer Biologie begegnet wird. Lebewesen werden manipuliert und modifiziert, synthetische Biome geschaffen und ethische Grenzen überschritten. Aiki Mira widmet sich insbesondere Fragen nach der Natur des Bewusstseins, der Verbundenheit von Lebewesen und menschlicher Hybris. Außergewöhnliche Metaphern und Überzeichnungen machen die Zukunft, in der das Extreme Normalität ist, erlebbar und erschaffen eine Welt, die auf den ersten Blick fremd erscheint, in der sich jedoch unsere Gegenwart spiegelt.


Pro und Contra

+ widmet sich Fragen nach der Natur des Bewusstseins
+ Auswirkungen der Klimakrise, auch auf die Psyche der Menschen
+ das Synthetische Biom im Amazonas-Gebiet
+ facettenreiche Figuren und casual queerness
+ viele phantastische Ideen und spannende Denkansätze
+ gelungene Zusammenführung der beiden Handlungsstränge
+ Kapitalismuskritik / alternative Lebensentwürfe
+ beeindrucke Metaphern / Überzeichnung als Stilmittel
+ Verbindungen zu "Neongrau"

- holpriges erstes Drittel mit zu schnell gelösten Problemen
- Klischee des "mad scientist"

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: queere Figuren, deutschsprachige SF, Berlin, Aiki Mira, Near Future, Gentechnik, Found Family, Kapitalismuskritik, Biopunk