Interview mit Hannes Riffel
Literatopia: Hallo, Hannes! In der deutschsprachigen Phantastikszene kennt man Dich als Übersetzer sowie ehemals als Leiter des Golkonda-Verlags und als SFF-Programmleiter bei Fischer TOR. Mit Carcosa hast Du nun einen neuen eigenen Verlag gegründet. Wie kam es dazu – und zur engen Zusammenarbeit mit dem Memoranda-Verlag von Hardy Kettlitz? (Foto rechts: Hardy Kettlitz und Hannes Riffel)
Hannes Riffel: Nach sechs Jahren bei S. Fischer habe ich einfach wieder Lust, meine eigenen Ideen umzusetzen, ohne mir dabei von Vertreter:innen des marktkonformen kleinsten gemeinsamen Nenners ins Handwerk pfuschen zu lassen. Was nicht heißt, dass bei TOR keine tollen Bücher erschienen wären, aber grundsätzlich musste ich da – ganz persönlich und ganz subjektiv – zu viele Kompromisse eingehen.
Carcosa ist ein Herzensprojekt ohne Wenn und Aber. Dabei spielt eine zentrale Rolle, dass ich endlich wieder mit meinem guten Freund Hardy Kettlitz zusammenarbeiten darf. Mit ihm kann ich fundiert über das Programm sprechen, und wir teilen uns die Verantwortlichkeiten: Hardy übernimmt Produktion und Vertrieb, ich kümmere mich um das Lektorat, und gemeinsam schauen wir, was wir an Marketing und Pressearbeit hinbekommen.
Literatopia: Das erste Carcosa-Programm besteht aus Neu- und Erstübersetzungen phantastischer Weltliteratur. Wie hast Du die Auswahl getroffen?
Hannes Riffel: Nun, ich finde, dass die meisten Verlage, so sie denn nicht aus jahrzehntelanger Tradition über ein breites Klassikerprogramm verfügen, viel zu sehr dem Neuen und Tagesaktuellen hinterherhetzen. Natürlich ist es ganz, ganz wichtig, dass hierzulande Autor:innen wir Kim Stanley Robinson oder N. K. Jemisin erscheinen, um nur zwei relevante, bedeutende Namen zu nennen. Aber mir scheinen vor allem jüngere Leser:innen das Fundament aus den Augen zu verlieren, auf denen die Werke dieser Autor:innen ruhen.
Wobei es inzwischen natürlich fast schon selbstverständlich ist, Bücher im englischen Original zu lesen, und da ist wirklich alles erhältlich, was wir uns nur wünschen können. Aber einmal vom (durchaus beträchtlichen und nützlichen) Markt für gebrauchte Bücher abgesehen, sollten bestimmte Werke einfach eine aktuelle Präsenz haben, und das in angemessener Übersetzung und Ausstattung.
Literatopia: „Immer nach Hause“ von Ursula K. Le Guin ist bei Carcosa erstmals auf Deutsch erhältlich. Wie ordnest Du den Roman im Vergleich zu ihren anderen Werken ein? Dietmar Dath beschreibt „Immer nach Hause“ als das „wohl reifste Buch der Verfasserin“ – stimmst Du zu?
Hannes Riffel: Unbedingt! Die Romane und Erzählungen von Ursula K. Le Guin gehören seit Jahrzehnten zu meiner absoluten Lieblingslektüre, und zu „Die linke Hand der Dunkelheit“ und „Freie Geister“ bin ich immer wieder zurückgekehrt; und durfte auch die großartigen Neuübersetzungen von Karen Nölle betreuen. In „Immer nach Hause“ kommt vieles zusammen, was Le Guin lange beschäftigt, worauf sich ihre Entwicklung zubewegt hat: in schriftstellerischer und in politischer Hinsicht sowie (damit natürlich eng verbunden) ihr Selbstbild als Frau betreffend.
Wir werben nicht umsonst mit der Schlagzeile: ein großer utopischer Wurf, die Krönung eines Lebenswerks. Le Guin zieht hier alle Register ihres Könnens, und sie traut sich auch weit mehr als fast alle ihre Kolleg:innen. „Immer nach Hause“ enthält Geschichten, Kleindramen, Gedichte, Berichte, einen Romanauszug, ein Wörterbuch, zahlreiche Landkarten und Illustrationen und vieles mehr. So schnell fällt mir kein vergleichbares Füllhorn von einem Buch ein. Ich habe es im Laufe der Entstehung der deutschsprachigen Ausgabe dreimal sehr aufmerksam durchgearbeitet, und meine Faszination – und Bewunderung – ist mit jedem Mal noch gewachsen.
Literatopia: Warum haben an „Immer nach Hause“ gleich drei Übersetzer*innen gearbeitet?
Hannes Riffel: Da kamen mehrere glückliche Umstände zusammen. Der Fantasyexperte Helmut Pesch suchte schon lange nach einem deutschen Verlag für dieses ungewöhnliche Buch, und mit Karen Nölle, die in den letzten Jahren viele Texte von Le Guin neu übersetzt hat, war dann fast schon die Idealbesetzung beisammen. Matthias Fersterer wiederum ist ein großer Kenner von „Immer nach Hause“ mit einem völlig anderen Lebens- und Arbeitshintergrund, sodass sich hier drei Menschen wirklich aufs Schönste ergänzt haben. Und natürlich war es gut, dass die Riesenarbeit an diesem Mammutwerk auf drei Paar Schultern verteilt werden konnten.
Literatopia: Von Samuel R. Delany ist gerade „Babel-17“ erschienen, zwei weitere seiner frühen Werke sind bereits eingeplant. Bei Golkonda sind unter Deiner Leitung ebenfalls mehrere seiner Bücher erschienen. Was schätzt Du besonders an den Werken Samuel R. Delanys?
Hannes Riffel: Delany ist, stilistisch wie inhaltlich, einfach wahnsinnig vielseitig! Von ein paar Nebenwerken abgesehen funkeln seine Romane und Erzählungen vor originellen Ideen, eindrücklichen Figuren und sprachlicher Brillanz. Jedes Mal, wenn ich ein Delany-Buch zur Hand nehme, werde ich überrascht, beglückt, vor den Kopf gestoßen. Und auch seine theoretischen Schriften sind meisterhaft – da gibt es noch viel zu entdecken. Nach den drei frühen Romanen, die wir bereits lizenziert und angekündigt haben – „Babel 17“, „Das Einstein-Vermächtnis“ und „Nova“ –, möchte ich gerne einen umfangreicheren Sammelband mit Erzählungen bringen sowie die „Dhalgren“-Übersetzung von Annette von Charpentier in einer überarbeiteten Ausgabe. Und natürlich Nimmerya endlich vollständig, Und, und, und ...
Literatopia: Warum wurden Werke, die früher bereits auf Deutsch erschienen sind, von Carcosa neu übersetzt?
Hannes Riffel: Schlicht weil die meisten älteren Übersetzungen nicht mehr unseren Ansprüchen genügen. Da ist das Spektrum natürlich breit – „Der fünfte Kopf des Zerberus“ von Gene Wolfe hat Yoma Cap damals für Heyne sehr ordentlich übertragen, während Delanys „Babel-17“ und „Das lange Morgen“ von Leigh Brackett einfach deutlich mehr Sorgfalt verdient haben, als das bisher üblich war.
Ich habe zum Beispiel bei der alten Übersetzung von Delanys „Imperiumsstern“ (im Almanach enthalten) fast jeden Satz überarbeitet, aber da gefiel mir der Sound, von dem ich einiges beibehalten konnte. Thomas Zieglers Übersetzung des Romans „Picknick auf Paradies“ von Joanna Russ (bei uns im ersten Band der Werkausgabe „In fernen Gefilden“) war auch weitgehend okay, wenn auch im Detail eine Menge zu tun war. Wir nehmen die phantastischen Genres eben als anspruchsvolle Literatur ernst, und das spiegelt sich in unseren Ausgaben hoffentlich wider.
Literatopia: Einen guten Teil des Programms, unter anderem „Das lange Morgen“ von Leigh Brackett, hast Du persönlich übersetzt. Wie gehst Du die Übersetzung eines neuen Werkes an? Und worin liegt die größte Herausforderung?
Hannes Riffel: Zwei Dinge gehören für mich da zur Grundvoraussetzung fürs Übersetzen: Ich muss Lust auf das Buch haben, und ich muss das Gefühl haben, ihm gewachsen zu sein. Kaum jemand schmiegt sich, um einmal ein etwas poetischeres Bild zu verwenden, so sehr in die Falten eines Textes, setzt sich so intensiv über längere Zeit mit einem Buch auseinander. Das ist, sofern genügend Zeit vorhanden ist (und das Buch die Anstrengung zurückzahlt), eine Freude und ein Privileg. Ich setze mich jeden Morgen mit Begeisterung an die Tastatur, denn was dann folgt, ist ein Gespräch, eine intensive Auseinandersetzung mit den klügsten, talentiertesten Geistern der Weltliteratur.
Literatopia: Zum ersten Verlagsprogramm gehört auch „Vor der Revolution“ – der erste „Phantastische Almanach“, benannt nach einer darin enthaltenen Geschichte von Ursula K. Le Guin. Was bietet dieser den Leser*innen?
Hannes Riffel: Der Almanach ist sozusagen die Buch gewordene Antwort auf die Frage, was es denn mit diesem neuen Verlagsprojekt Carcosa auf sich hat. Ich habe mehrere Leute, selbst große Schriftsteller:innen oder Buchexpert:innen, um Essays über „unsere“ Autor:innen gebeten – natürlich welche, von denen ich wusste, dass ich da auf Begeisterung stoßen würde. Da schreiben nun unter anderen Helmut W. Pesch über Leigh Brackett, Julie Phillips über Ursula K. Le Guin, Christopher Ecker über Gene Wolfe, Clemens J. Setz über Samuel R. Delany und Dietmar Dath über Alan Moore. Außerdem werden die beiden Autor:innen, die ich für besonders repräsentativ halte für das, was wir machen, etwas ausführlicher vorgestellt, Ursula K. Le Guin mit drei Erzählungen und Samuel R. Delany mit einem Kurzroman.
Literatopia: Die Carcosa-Bücher haben alle ein schlichtes, stilvolles und einheitliches Design. Wer hat die Cover entworfen? Und wird sich dieser Stil fortsetzen?
Hannes Riffel: Die Umschläge wie überhaupt das Design mit den Logos und allem anderen hat die Berliner Gestalterin Ben entworfen, auch unter dem Künstlernamen Benswerk bekannt, mit der ich schon bei Golkonda-Zeiten zusammengearbeitet habe und die ich über die Maßen schätze. Unser Ziel war es, ein zeitloses Umschlagdesign zu entwickeln, das sich abhebt von den endlosen Raumschiffen und Planeten, den Schwertern und Magiern, die mir, ehrlich gesagt, meilenweit zum Hals raushängen (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Mir schwebte vor, dass unsere Bücher so aussehen, wie ich mir eine geschmackvolle literarische Gestaltung für eine phantastische Reihe bei einem Verlag wie zum Beispiel Suhrkamp vorstelle. Mit schlicht und stilvoll hast Du (dankeschön) bereits zwei Stichwörter genannt, und wir werden dieses Design, mit kleinen Varianten, für alle unsere Bücher verwenden.
Literatopia: In der deutschsprachigen Phantastik wurde in den letzten Jahren viel diskutiert und gestritten. Einiges hat sich verändert, aus meiner Sicht oft zum Positiven – wie hast Du diese Veränderungen wahrgenommen?
Hannes Riffel: Dazu kann ich, wenn ich ehrlich bin, nicht viel sagen. Ich hatte leider meist den Eindruck, und damit werde ich mir jetzt keine Freund:innen machen, dass die deutschsprachige Genreliteratur vor allem handwerklich hinter internationalen Standards weit zurückliegt, in etwa so wie deutsche Fernsehserien im Vergleich mit internationalen Produktionen. Ich lese da auch nicht viel, weshalb mein Urteil natürlich mit größter Vorsicht zu genießen ist.
Literatopia: Gibt es deutschsprachige Autor*innen, die aus Deiner Sicht mit Genregrößen wie Ursula K. Le Guin oder Samuel R. Delany mithalten können?
Hannes Riffel: Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass ich ein Dietmar Dath für den vielleicht bedeutendsten Schriftsteller des letzten Vierteljahrhunderts halte, innerhalb und außerhalb der Phantastik. Was dieser Autor an Romanen, Sachbüchern und journalistischen Texten verfasst hat, ist ohne Beispiel, das überrascht und erstaunt mich immer wieder, und wenn ich ihn bei Carcosa verlegen dürfte, wäre ich sehr glücklich. Andere Autor:innen, die Genreliteratur von Niveau schreiben, bewegen sich eher am Rande derselben, Christopher Ecker zum Beispiel, Georg Klein und Clemens J. Setz. Aber das ist eine sehr persönliche Auswahl, es gibt bestimmt Leute, die berufener sind, diese Frage zu beantworten.
Literatopia: Als Jugendlicher hast Du Ursula K. Le Guins „The Dispossesed“ („Freie Geister“) mehrmals gelesen und warst tief beeindruckt. An der Phantastik schätzt Du, dass die Autor*innen ihren Leser*innen etwas zumuten und ihre Weltsicht verändern. Welche Bücher haben Deine Weltsicht nachhaltig verändert?
Hannes Riffel: Auf jeden Fall „Dhalgren“ von Samuel R. Delany, als fiktionale, äußerst krasse Parallele zu dem autobiographischen „Die Jahre, die Ihr kennt“ von Peter Rühmkorf; ganz viel von Arno Schmidt, neben dem nicht viel bestehen kann, manches von Hans Henny Jahnn (beide ja auch immer mal mit phantastischem Einschlag); „Die Kinder der Finsternis“ von Wolf von Niebelschütz und „Earthly Powers“ von Anthony Burgess (dt. unter dem grässlichen Titel „Der Fürst der Phantome“), zwei Bücher, an denen sich Genreautor:innen messen lassen sollten; „House of Leaves“ („Das Haus“) von Mark Z. Danielewski,, auch wegen des erzählerischen Wagemuts ... und nicht zuletzt Jerusalem von Alan Moore, das hierzulande noch nicht recht angekommene Hauptwerk des Autors von „Watchmen“, „V for Vendetta“, „From Hell“ und anderem, das nächsten Herbst bei Carcosa erscheinen wird, anderthalbtausend Druckseiten auf allerhöchstem erzählerischen Niveau und mit einer unglaublichen Bandbreite ebenso wundervoller wie herzzereißender Geschichten.
Literatopia: Würdest Du uns abschließend verraten, auf was wir uns in Zukunft bei Carcosa freuen können?
Hannes Riffel: Nun, der eben genannte Roman von Alan Moore, weitere Bücher der Autor:innen aus unserem ersten Programm (Brackett, Delany, Wolfe), eine dreibändige Werkauswahl von Joanna Russ, die auch ihre klugen Essays und bissigen Rezensionen umfassen wird; im Frühjahr zwei hinreißende Kurzromane von Becky Chambers, deren „Wayfarer“-Serie ich bei Fischer betreuen durfte; im Herbst ein Kurzgeschichtenband der schwedischen Autorin Karin Tidbeck, die kluge, mal witzige, mal düstere Phantastik schreibt; 2025 dann die dt. Erstausgabe des Meisterwerks „Mother London“ von Urgestein Michael Moorock, das ihn von einer hierzulande bislang eher unbekannten Seite zeigt; die erste vollständige dt. Ausgabe der Jahrhundertanthologie „Dangerous Visions“, herausgegeben von Harlan Ellison ... und noch so manches mehr, aber da darf und will ich noch nicht zu viel verraten.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Hannes Riffel: Vielen Dank Dir – und Euch für Eure tolle Seite.
Fotos: Copyright by Hannes Riffel
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.