Vor der Revolution - Ein phantastischer Almanach (Hrsg. Hannes Riffel)

Carcosa (Oktober 2023)
Klappenbroschur, 278 Seiten, 18,00 EUR
ISBN: 978–3 910914–08 7
(eBook: 14,99 - ISBN 978–3 910914–09 4)

Genre: Phantastik / Essays / Kurzgeschichten / Kurzroman


Klappentext

Dieser Almanach stellt das vielfältige Programm des Carcosa Verlages vor und präsentiert unsere Autor:innen in ihrer ganzen Einzigartigkeit. Unter anderen schreiben begeistert: Helmut W. Pesch über Leigh Brackett, Julie Phillips über Ursula K. Le Guin, Christopher Ecker über Gene Wolfe, Clemens J. Setz über Samuel R. Delany und Dietmar Dath über Alan Moore. Drei neu übersetzte Erzählungen von Ursula K. Le Guin bieten einen fulminanten Einstieg in das Werk einer der bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Der Kurzroman Imperiumsstern von Samuel R. Delany erzählt von einer abenteuerlichen Reise durch die Tiefen des Weltraums – und knüpft gleichzeitig eine metafiktionale Verbindung zu seinem preisgekrönten Roman Babel-17. Und natürlich erfahren wir, in einer neu übersetzten Kurzgeschichte von Ambrose Bierce, was es mit dem rätselhaften Namen »Carcosa« auf sich hat …


Rezension

„Vor der Revolution“ ist der erste „Phantastische Almanach“ des Carcosa-Verlags, der einige seiner Autor*innen hier in Essays vorstellt und dazu drei Kurzgeschichten von Ursula K. Le Guin sowie den Kurzroman „Imperiumsstern“ von Samuel R. Delany enthält. Zudem erfährt man, was es mit dem Verlagsnamen Carcosa auf sich hat, der aus einer Erzählung von Ambroise Bierce („Ein Einwohner von Carcosa“) stammt. In einem Vorwort erklärt Verleger Hannes Riffel, wofür Carcosa steht, und betont die Bedeutung der Werke von Ursula K. Le Guin und Samuel R. Delany, die beide im ersten Verlagsprogramm sowie auch mit Geschichten in diesem Begleitband vertreten sind.

Die Essays

Passenderweise gehören die Essays zu diesen beiden Autor*innen zu den besten in diesem Almanach. Julie Philips schreibt in „Über die Grenzen hinaus – Die phantastische Ursula K. Le Guin“ von ihrer Begegnung mit der Autorin. Erschienen ist der Original-Essay 2016, ein Jahr vor dem Tod Le Guins, deren Leben und Werke hier mit Anekdoten ausgeschmückt werden und die uns die Person Ursula K. Le Guin wirklich nahebringen. Ihre Lebensgeschichte ist unterhaltsam, insbesondere Stellen wie die, an der eine ihrer „Tiraden“ geschildert wird (sie schimpft über die zu geringe Wertschätzung Autor*innen gegenüber). Großen Raum nimmt ihre Hinwendung zu weiblichen Figuren ein, was der Autorin zunächst alles andere als leicht fiel, da es kaum Vorbilder gab. Philips arbeitet dabei wunderbar heraus, wie sich Le Guin weiterentwickelt hat, was ihr im Leben und Schreiben wichtig war und was die Tiefe ihrer Werke ausmacht.

Clemens J. Setz‘ Essay „Pestilenz und Karneval“ über Samuel R. Delany ist dagegen skizzenhaft, eine Abfolge von Schlaglichtern auf das Leben des Autors, die faszinieren und manchmal ratlos zurücklassen. Spannend für die Leser*innen dürften vor allem die Essayfragmente sein, die sich mit seinen SF-Werken und deren Schwerpunkthemen (Identität, Kultur, menschliches Zusammenleben) beschäftigen – und man staunt, dass diese von Delany in seinen 20ern verfasst wurden (man staunt noch mehr, wenn man danach „Imperiumsstern“ liest). Setz‘ legt einen Fokus auf Delanys Homosexualität und arbeitet deren Einfluss auf dessen Werke heraus. Schwer erträglich sind die Schilderungen des Inhalts von Delanys umstrittendstem und schwierigstem Werk "Hogg", das Setz zutiefst verstört und beeindruckt hat. Daneben werden die SF-Werke fast schon zu knapp abgehandelt. 

Helmut W. Pesch erklärt Leigh Brackett zur „Königin der Space Opera“ und arbeitet heraus, welchen Einfluss sie auf die Science Fiction hatte und dass sie vielen bekannten Autor*innen ein Vorbild und eine gute Freundin war. Pesch hangelt sich an Bracketts Werken entlang, gibt einen durchaus guten Überblick, kommt jedoch der Person Leigh Brackett nicht richtig nahe. Christopher Ecker beschäftigt sich in „Die Verwandtschaft von Klonen und Kolonisieren – Ein Blick in den Rätselspiegel von Gene Wolfes Der fünfte Kopf der Zerberus“ intensiv mit dem Werk – wer es noch nicht gelesen hat, sollte mit der Lektüre dieses Essays warten, da er diverse Spoiler enthält.

Damit wären alle vier Autor*innen des ersten Verlagsprogramm vorgestellt, doch der „Phantastische Almanach“ enthält weitere Texte für das zukünftige Programm: Sehr lesenswert ist „Zorn lesen – das Vermächtnis von Joanna Russ“ von Alec Pollak, der einerseits kritisiert, dass die Autorin oft auf diesen Zorn reduziert wurde, diesen jedoch ebenso in den Fokus stellt. Und Joanna Russ war zu Recht zornig! Nach der Lektüre des Essays bekommt man große Lust auf ihre Werke. Dietmar Dath stellt in „Arbeit in und an der Ewigkeit – Über Alan Moore und seinen Roman Jerusalem“ die literarische Arbeit des für seine Comics berühmten Autors vor. In seinen Worten schwingt viel Bewunderung mit und man erfährt durchaus Spannendes über Moore, doch am Ende weiß man nicht wirklich, was einen in dem Mammutwerk „Jerusalem“ erwartet. Weiterhin gibt es in diesem Begleitband einen Essay von Karlheinz Steinmüller zu Erik Simon, der als einziger Autor nicht im Carcosa-Programm vertreten ist (oder sein wird). Da Hannes Riffel jedoch Herausgeber der Werkausgabe „Simon’s Fiction“ ist, wurde der Essay als Zeichen der Wertschätzung in den Almanach aufgenommen. Hier erfährt man viel Interessantes über einen deutschen Autor, der die Science Fiction in der DDR geprägt hat.

Die Kurzgeschichten von Ursula K. Le Guin

Die fiktionalen Texte sind die Herzstücke des „Phantastischen Almanachs“. Er enthält unter anderem drei Kurzgeschichten von Ursula K. Le Guin: „Die Verfasserin der Akaziensamen und weitere Auszüge aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Therolinguistik“ und „Sie entnamt sie“ sind zwei eher experimentelle Texte, die sich mit Sprache und Natur beschäftigen. Ersterer widmet sich einer auf Duftstoffen basierenden Ameisensprache und schildert Forschungsergebnisse, was sich etwas trocken liest. „Sie entnamt sie“ ist mehr ein Gedankenexperiment, in dem Tiere die von Menschen erfundenen Bezeichnungen zurückgeben und so die Grenzen zwischen verschiedenen Lebewesen schwinden lassen. Zwei durchaus interessante Ideen, die jedoch nicht die Wucht anderer Werke der Autorin entfalten. 

„Der Tag vor der Revolution“ gibt diesem Almanach seinen Titel und ist mit dem berühmten Werk „Freie Geister“ („The Dispossesed“) verbunden. Eine Vorbemerkung der Autorin hilft jenen, die "Freie Geister" nicht kennen, beim Einordnen. Ursula K. Le Guin schildert in dieser Geschichte die Entstehung des Odonismus und gibt einer alten Revolutionärin eine Stimme, die viele Verluste verkraften musste und nun als alte, gebrechliche Frau den Tag vor der Revolution erlebt. Der Text ist durchdrungen von ihren schmerzhaften Erinnerungen, in denen sich eine ganze Welt entfaltet, und handelt im Kern vom Weitermachen, das für die Protagonistin stets schlichter Zwang war. Für sie gab es nur die Option, weiterzumachen, trotz aller Rückschläge und traumatischer Erlebnisse. Nun hadert sie mit ihrem Alter und ärgert sich über ihre Schwäche, blickt aber auch auf das, was sie erreicht hat, sowie auf das, was sie nicht mehr erreichen kann, weil große und nachhaltige Veränderungen Zeit brauchen. Berührend ist insbesondere ihr Blick auf die jungen Leute, die ihre Hoffnungen erfüllen. Beim Lesen hat man das Gefühl, in dieser Geschichte steckt besonders viel von der (alten) Autorin.

Imperiumsstern

„Imperiumsstern“ ist ein Kurzroman, den man zu Ende lesen muss, damit er seine Komplexität – oder besser gesagt Multiplexität – entfaltet. Protagonist ist ein junger Mann vom Mond Rhys, auf dem Rohstoffe abgebaut und in das ganze Imperium exportiert werden. Die Bewohner*innen von Rhys sind simplexe Wesen, einfache Menschen, die in Höhlen leben und zufrieden mit dieser Einfachheit sind, da sie nichts andere kennen. Kometen-Jo sehnt sich jedoch nach den Sternen und bekommt unverhofft den Auftrag, nach Imperiumsstern zu reisen und eine Botschaft zu überbringen. Die Botschaft kennt er nicht, doch er soll während seiner Reise erfahren, wie sie lautet.

Der Kurzroman ist ein phantastische Reise durch eine Galaxie voller Menschen und Außerirdischer, über die man zugleich viel und wenig erfährt. Die Erzählerin ist eine kristallisierte, multiplexe Lebensform, die Jo begleitet und von deren Bewusstsein er lange nichts ahnt. Außerdem begleitet ihn ein Teufelskätzchen sowie phasenweise eine Art Künstliche Intelligenz und eine Frau, die viel über seine Reise zu wissen scheint. Überhaupt wissen scheinbar alle mehr über Jos Reise, als er selbst, und sein Weg ist geradezu schicksalhaft vorgezeichnet. Die verschiedenen Etappen seiner Reise gehen nahtlos ineinander über, immer ist jemand da, der seine aktuellen Probleme lösen kann und ihm den weiteren Weg weist. Da ärgert man sich beim Lesen zunächst, doch am Ende ergibt all dies einen Sinn, wie er nur in der Science Fiction möglich und glaubhaft ist.

"Er machte von all seinen Erfahrungen Gebrauch, um die meinige zu verstehen. Was mich eigenartig berührt hat." (Seite 129)

“Imperiumsstern“ ist vor allem eine sehr kreative, kleine Space Opera, die sich intensiv mit Wahrnehmung und Bewusstsein beschäftigt. Leben wird in „simplex“, „komplex“ und „multiplex“ eingeteilt, was nichts mit Intelligenz zu tun hat, sondern eher mit der Art zu denken und wahrzunehmen. Jo ist anfangs ein simplexer Mensch, entwickelt sich zu einer komplexen Persönlichkeit und erahnt am Ende, was „multiplex“ bedeutet, so wie es die Leser*innen erahnen. Es geht darum, sich selbst als Teil von etwas zu begreifen, weiter als von A nach B zu denken, die Konsequenzen von Handlungen sowie deren Auswirkugen auf andere zu berücksichtigen und vor allem darum, (die richtigen) Fragen zu stellen, um der Wahrheit näher zu kommen. Der Interpretationsspielraum, was "multiplex" nun genau bedeutet, ist groß, doch sich darüber Gedanken zu machen, scheint ein guter Anfang zu sein. 

Zugleich spannend und mysteriös sind die Lll, die ganze Welten bauen (nicht einfach Bauwerke, sondern Gesellschaften und Ökosysteme). Was sie genau tun und wie sie es tun, wird hier nicht geschildert, doch man fühlt sich unweigerlich an den Weltenbau erinnert, den SF-Autor*innen leisten. Tatsächlich spielt das Schreiben eine besondere Rolle in dieser Geschichte. Die Lll sind mächtige Wesen, doch sie werden als Sklaven gehandelt. In ihrer Gegenwart spürt man eine Traurigkeit, die für Jo kaum auszuhalten ist. Die Besitzer der Lll spüren diese Traurigkeit sehr viel stärker und die Lll sind unfassbar teuer. Jo fragt, warum man sie nicht freilässt und erhält immer wieder die schlichte Antwort „wirtschaftliche Gründe“, was bei jeder Wiederholung zu mehr Bestürzung bei der Leserschaft führt. Das Imperium spricht davon, die Lll zu beschützen, ein Euphemismus für ihre Ausbeutung.

“Imperiumsstern“ gelingt es, auf relativ wenigen Seite ein ganzes Universum voller Verbindungen zu erschaffen, das man gerne noch tiefer ergründet hätte. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, zugleich scheint am Ende alles Wichtige gesagt und verstanden zu sein. Übrigens hat der Kurzroman eine Verbindung zu „Babel-17“ und eignet sich somit perfekt als Einstieg in die Werke Samuel R. Delanys, die bei Carcosa erscheinen. 

"Während deiner Lektüre, Jo, wirst du herausfinden, dass es bestimmte Schriftsteller gibt, die all die Dinge herausgefunden haben, die du auch herausgefunden hast, die alles getan haben, was auch du getan hast." (Seite 117)


Fazit

Die Anschaffung dieses „Phantastischen Almanachs“ lohnt sich allein schon wegen des phantasievollen Kurzromans „Imperiumsstern“ von Samuel R. Delany, der seinen Protagonisten auf eine erkenntnisreiche Reise durch die Galaxie schickt – und ebenso wegen der wunderbaren Kurzgeschichte „Am Tag vor der Revolution“ von Ursula K. Le Guin, die einer alten Revolutionärin eine Stimme gibt. Dazu gibt es lesenswerte Essays über die Verlagsautor*innen, die Lust auf die Werke machen und teilweise sehr unterhaltsam sind.


Pro und Contra

+ „Imperiumsstern“ und „Der Tag vor der Revolution“
+ interessante Essays über die Carcosa-Autor*innen
+ biografische Angaben zu den Verfasser*innen der Essays
+ umfangreiches Quellenverzeichnis
+ guter Einstieg ins Verlagsprogramm

Wertungsterne4.5

Essays: 4/5
Geschichten: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Ursula K. Le Guin auf Literatopia:

Rezension zu "Grenzwelten"

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Samuel R. Delany auf Literatopia:

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Tags: SF-Klassiker, Samuel R. Delany, Ursula K. Le Guin, Kurzgeschichten, Essays, Carcosa