Carcosa (Oktober 2023)
übersetzt von Jakob Schmidt
Klappenbroschur, 250 Seiten, 20,00 EUR
ISBN 978–3‑910914–02‑5
E‑Book: 250 Seiten, 18,00 EUR
ISBN 978–3‑910914–03‑2
Genre: Science Fiction / Space Opera
Klappentext
In ferner Zukunft hat sich die menschliche Zivilisation in der ganzen Galaxis ausgebreitet. Dabei kommt es zum Kontakt mit Außerirdischen, die fremdartiger nicht sein könnten – und nicht alle sind den Menschen friedlich gesonnen.
Einer der außerirdischen Spezies scheint es gelungen zu sein, ihre Sprache im interstellaren Krieg als Waffe einzusetzen. Rydra Wong, Linguistin, Dichterin und Telepathin, erhält den Auftrag, das Geheimnis dieser Sprache zu entschlüsseln. Gemeinsam mit einer Gruppe sternenfahrender Abenteurer unternimmt sie eine Reise ins Ungewisse …
Rezension
"Weißt du, was ich mache? Ich höre anderen zu, stolpere mit ihren halb fertigen Gedanken und halb fertigen Sätzen und ihren unbeholfenen Gefühlen, die sie nicht zum Ausdurck bringen können, in meinem Kopf herum, und es tut weh. Also gehe ich nach Hause, poliere das Ganze auf und spanne es auf einen rhythmischen Rahmen, bis es nicht mehr wehtut; und das ist mein Gedicht." (Kapitel 2, Seite 6)
Rydra Wongs Gedichte werden in der ganzen Galaxie bewundert und diskutiert. Sie spricht diverse Sprachen und kann sich leicht neue aneignen, entsprechend kommt die Allianz auf sie zu, als die eigenen Experten mit der Entschlüsselung von Babel-17 nicht weiterkommen. Die Allianz geht zunächst von einem Code aus, mit dem die Invasoren Sabotage und Terror koordinieren. Doch Rydra erkennt, dass es sich bei Babel-17 um eine Sprache handelt - eine unheimlich präzise Sprache, die völlig anders ist, als alle, die sie bisher gehört hat. Rydra ist fest entschlossen, Babel-17 zu lernen, und hat schnell einen Verdacht, wo der nächste Anschlag stattfinden könnte. Um ihren Verdacht zu bestätigen, sucht sie sich ein Schiff und eine Crew, und begibt sich zu einem Außenposten der Allianz, wo sie herausfindet, dass Babel-17 nicht einfach nur eine Sprache ist - Babel-17 ist eine Waffe ...
Samuel R. Delany schildert in "Babel-17" eine weit entfernte Zukunft, in der sich die Menschheit über das ganze Sonnensystem und darüber hinaus in der Galaxie ausgebreitet hat und gegen sogenannte Invasoren kämpft. Wer diese Invasoren sind, wird nicht näher beschrieben, doch sie sind eine allgegenwärtige Bedrohung. Offenbar liegen die Menschen schon lange mit den Invasoren im Krieg und jüngst gab es viele "Unfälle" - Sabotageakte und Anschläge. Die im Klappentext angekündigten Außerirdischen bekommt man bis auf einzelne Ausnahmen kaum zu Gesicht, sondern hört nur in Dialogen von ihnen. Manche davon stehen auf Seite der Invasoren, andere sind mit den Menschen verbündet und wieder andere sind neutral. Die Außerirdischen sind meist so fremd, dass die Kommunikation kompliziert ist, nicht allein aufgrund unterschiedlicher Sprachen, sondern weil sie aufgrund dieser ein völlig anderes Verständnis vom Universum und dem alltäglichen Leben haben. So gibt es zum Beispiel eine Spezies, die kein Wort und somit kein Konzept für "Zuhause" hat - wie will man dieser klarmachen, warum man sein Zuhause, die Erde, beschützen will?
"Phantasie sollte für andere Dinge eingesetzt werden als dafür, über das Morden nachzudenken, finden Sie nicht auch?" (Kapitel 4, Seite 8)
Sprache ist das zentrale Thema dieser Space Opera und Samuel R. Delany arbeitet wunderbar heraus, wie Sprache unsere Sicht auf die Welt prägt und wie abhängig unsere Wahrnehmung von Sprache ist. Besonders deutlich wird dies am Beispiel eines Mannes, der in seiner Sprache die Worte "Ich" und "Du" nicht kennt. Der Mann wird Schlächter genannt und ist ein Krimineller, der auf einem Piratenschiff, das offiziell ein Kriegsschiff ist, dient. Dieses kämpft ebenfalls gegen die Invasoren und dafür drückt die Allianz bei den illegalen Aktivitäten alle Augen zu. Der Schlächter ist ein Werkzeug, ein mörderischer Beschützer, der eine intensive Beziehung zu Rydra aufbaut, die ihm die Bedeutung der Worte "Ich" und "Du" beibringt. Die Dialoge zwischen den beiden regen zum Nachdenken an, man kann sich kaum vorstellen, dass ein Mensch kein Konzept von "Ich" und "Du" hat und die Konsequenzen sind weitreichend. Überhaupt ist "Babel-17" sehr dialoglastig, passend zum Thema Sprache und Kommunikation.
Rydra hat oft eine extreme Wirkung auf die Menschen, auf die sie trifft. Sie ist für ihre Lyrik berühmt und wird von vielen verehrt. Doch sie ist auch eine erfahrene Raumfahrerin und sucht sich mit großer Expertise eine Crew voll skurriler Persönlichkeiten zusammen. Manche davon wirken mit ihren plastischen Operationen wie Fantasywesen. Auch gibt es quasi Geister an Bord ihres Schiffes, sogenannte Körperlose - Menschen, die gestorben sind und zurückgeholt wurden. Für sie gibt es eigene, übernatürlich und düster anmutende Bereiche im Schiff. Zudem gibt es zahlreiche Kinder in der Crew, die durch die engen Wartungsschächte kriechen, und die Navigatoren sind ein sogenanntes Triplett, ein Verbund von drei Menschen, die in einer engen, polyamorösen Beziehung leben und arbeiten. Ihren Piloten sucht Rydra im Ring, denn wenn sie sieht, wie jemand kämpft, kann sie abschätzen, ob seine Reflexe für den Flug durchs All taugen. Über die technischen Details der Raumfahrt erfährt man dagegen wenig und auch nicht, wie das Zurückholen von Toten funktioniert. Entsprechend liest sich "Babel-17" wie Science Fantasy. Adelstitel innerhalb der Allianz sowie opulente Feste verstärken diesen Eindruck.
"Und jetzt habe ich Dinge zu sagen, die ganz allein von mir stammen. Nicht Dinge, die andere Leute schon mal gesagt haben und die ich nur in origineller Weise zum Ausdruck bringe. Und es sind auch keine gepfefferten Entgegnungen auf Dinge, die andere Leute schon mal gesagt haben, was aufs Gleiche rauskommt. Es sind neue Gedanken und ich habe eine Heidenangst." (Kapitel 2, Seite 7)
"Babel-17" ist eine bunte, teils chaotische Space Opera mit vielen unterhaltsamen Szenen und einer starken Protagonistin, die sich einerseits ihrer Fähigkeiten sehr bewusst ist und sie einzusetzen weiß, sich aber das volle Ausmaß ihrer Begabung lange nicht eingesteht. Spannend ist hierbei auch die Rolle ihres Psychiaters, der seit ihrer Kindheit mit ihr arbeitet und über die Jahre ein enger Freund geworden ist. Rydra würde man heute als neurodivers beschreiben, ihr Gehirn funktioniert anders als das der meisten Menschen, was ihr als Kind Probleme bereitet hat. Als junge Erwachsene hat sie jedoch gelernt, ihre Begabungen zu nutzen und ist eine charismatische, selbstbewusste Frau.
Die erste Romanhälfte fühlt sich wie eine Schnitzeljagd an, Rydra sammelt die Puzzleteile ein, die nach und nach ein erschreckendes Bild ergeben. Und sie sammelt ihre Crewmitglieder ein, was einige skurrile Szenen beinhaltet. In der zweiten Hälfte folgt eine geschickte und teils überraschende Auflösung und man begreift, wie Babel-17 als Waffe funktioniert. Als Space Opera ist der Roman etwas holprig, auch kommt das Worldbuilding zu kurz, wobei man sich trotzdem ein lebendiges Bild dieser Zukunft machen kann. Man hätte allerdings gerne mehr davon gesehen und sich vor allem mehr Einblicke in die Alienkulturen gewünscht. Aus heutiger Sicht liest sich "Babel-17" immer noch modern, das Thema und seine Umsetzung sind in der globalisierten Welt aktuell, die Figuren divers und die Neuübersetzung liest sich sehr gut.
"Blaue Leuchtsignale wurden in die Schwärze jenseits der Fenster geschleudert. Schiffe stiegen auf weißen Flammen empor, denen die Entfernung eine blaue Färbung verlieh, bis sie in der rostigen Luft schließlich zu blutigen Sternen wurden." (Kapitel 5, Seite 5)
In "Babel-17" gibt es ein spannendes Easter-Egg und zwar wird mehrmals der Kurzroman "Imperiumsstern" erwähnt, der im ersten Phantastischen Almanach des Carcosa-Verlags, "Vor der Revolution", in deutscher Übersetzung erschienen ist. In "Babel 17" ist "Imperiumsstern" der Roman eines ehemaligern Partners von Rydra. Dieser hat weitere Geschichten über Kometen-Jo verfasst, die in der ganzen Galaxie gelesen werden und die man selbst auch gerne lesen würde. Im direkten Vergleich ist "Imperiumsstern" atmosphärischer und eine Spur raffinierter.
Fazit
"Babel-17" ist ein wilder Trip durch die Galaxie, der sich intensiv mit Sprache und ihrer Wirkung auf Wahrnehmung und Weltbilder beschäftigt. Entsprechend ist diese Space Opera sehr dialoglastig und man folgt den Gesprächen gerne, die manchmal schlicht unterhaltsam sind, oft aber zum Nachdenken anregen und ein Stück weit die eigene Weltsicht verändern.
Pro & Contra
+ Sprache und Kommunikation als wissenschaftliches Thema
+ illustriert wunderbar die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Sprachen
+ starke Protagonistin, die ihren Weg konsequent verfolgt
+ diverse, skurrile Raumschiffcrew
+ unterhaltsame Reise durch eine bunte Galaxie
+ geschickte Auflösung
+ elegante Gestaltung / gelungene Neuübersetzung des SF-Klassikers
o Technologie erscheint oft wie Magie
- teils chaotisch und unglaubwürdig / Rydras Probleme lösen sich zu schnell
Bewertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
Rezension zu "Nimmeryána oder Die Geschichte von Zeichen und Städten"