Lyra (Christoph Marzi)

Heyne (November 2009)
Paperback, Klappenbroschur,
432 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
€ 14,00 [D] | € 14,40 [A] | CHF 25,90
ISBN: 978-3-453-52623-5

Genre: Phantastik


Klappentext

Nichts läuft mehr richtig im Leben von Danny Darcy, Sänger der Folkband »Dylan’s Dogs«. Soozie, seine geliebte Frau, will sich scheiden lassen, und seine Lieder sind chronisch erfolglos. Doch anders als bei vielen verlassenen Männern ist es bei ihm ein Familienfluch. Um ihn aufzuheben, reist Darcy in die Sümpfe Louisianas – und findet eine Welt, in der Wespenkinder, lesende Baumwollspinnen und Sirenen über Leben und Tod entscheiden ...


Rezension

Danny Darcy fällt aus allen Wolken, als seine geliebte Sunny („Soozie“) ihm verkündet, dass sie ihn mit einem Flittchen knutschend auf der Straße gesehen hat. Sie verlässt ihn mitsamt ungeborenem Kind – Dannys Familienglück scheint zerstört. Doch er weiß, dass er seine Frau nicht betrogen hat. Was Sunny gesehen hat, muss demnach eine Lüge sein. Eine Lüge, die nur seine eigene Mutter, Helen Darcy, gesponnen haben kann, denn sie ist eine Sherazade und kann Geschichten für die betreffenden Personen wahr werden lassen. Danny sucht Hilfe bei dem Musiker Tyler Blake, der ihn nach New Orleans schickt, wo angeblich Sirenen leben, die ihm helfen können …

Der Einstieg in „Lyra“ gestaltet sich insgesamt etwas langatmig, denn Christoph Marzi nimmt sich viel Zeit, die Hintergründe seiner Geschichte darzulegen. Inklusive Rückblenden, die er lieber etwas weiter in die Mitte des Romans platziert hätte. Allerdings kreiert er von Seite 1 an eine dichte Atmosphäre voller Blues und Rock’n’Roll, wodurch sich auch langgezogene Passagen gut lesen. Und spätestens, wenn Danny gemeinsam mit Sunny nach New Orleans aufbricht, hat der Autor seine Leser vollkommen in den Bann seiner Geschichte geschlagen. Gemeinsam mit dem Protagonisten wandelt man durch lebendige Straßen, in denen die schwüle Luft, durchwoben von herben Klängen, geradezu betörend wirkt. Man kann die Glut der Stadt förmlich spüren, die Feuchtigkeit der Sümpfe riechen und schließlich verfällt man den Mythen der Kreolen. Taumelt trunken von der lebhaften Sprache durch die Welt der Geschichten, an deren Grenzen die Definition von Wirklichkeit zu einem flackernden Voodoozauber verschwimmt. Übrigens muss man "Fabula" nicht gelesen haben, um diesem Roman folgen zu können, doch falls man den Vorgänger nicht kennt, wird die hier geschürte Neugier den Leser schnell in den nächsten Buchladen treiben.

Der Leser erlebt die Geschichte aus Dannys Sicht, dessen tiefgehende Liebe zur Musik geradezu ansteckend ist. Man spürt quasi in jeder Zeile Marzis Musikgeschmack - der Roman liest sich beinahe wie ein Song von Bob Dylan oder auch Johnny Cash. Die eingestreuten Songfragmente tragen dabei viel zur „Southern Gothic“ Atmosphäre bei und veranschaulichen, wie stark die Musik mit der Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten verwoben ist. Und auch wenn, oder gerade weil, Danny herumflucht und nicht alles sofort durchschaut, schließt man ihn schnell ins Herz. Er bleibt durchweg authentisch, genauso wie seine Sunny, die mit ihrer Art, alles Gesagte zu wiederholen, wenn sie skeptisch ist, nicht nur Danny nerven kann. Einziges Manko in punkto Charaktere sind zwei der drei Sirenen, die als Feindbild wunderbar funktionieren, aber darüber hinaus wenig zu bieten haben. Die dritte im Bunde erhält dafür viele Grauschattierungen, die ihre Handlungen nachvollziehbar machen. Und auch die Nebencharaktere glänzen: Sie treten ebenso wie der Protagonist durch und durch authentisch auf und überzeugen sowohl mit ihrer Hilfsbereitschaft, als auch mit ihren schlechten Angewohnheiten und einer manchmal rätselhaften Art.

Wer „Lyra“ aufmerksam liest, wird in der Welt der Geschichten „Die Ballade von Thorndike Crescent“ aus der Anthologie Sad Roses wieder erkennen, die Danny teilweise wortwörtlich, teilweise stark abgeändert erlebt. Die Erzählung fügt sich fabelhaft in die Geschichte von „Lyra“ ein und man kann den Autor gut verstehen, dass er sie eingearbeitet hat. Mit fortschreitender Seitenzahl durchlebt der Leser zunehmend skurrilere und auch düsterere Geschichten, in denen sich nicht nur Danny verliert. Leider muss man auf die angekündigten Baumwollspinnen und Wespenkinder lange warten, denn sobald man Christoph Marzis surreal angehauchte Geschichten liest, wünscht man sich, dass der Roman doppelt so viele Seiten hat!

Kritik bei „Lyra“ muss allerdings der Verlag einstecken, der den Roman auf ein größeres Format gestreckt hat. Die Breite der Ränder ist unverhältnismäßig und wenn man sich den Preis anschaut, hat man beinahe das Gefühl, dass die Schrift nur so groß ist, um ein dickes Buch verkaufen zu können. Nichtsdestotrotz ist die Aufmachung mehr als gelungen. Das Cover ist traumhaft und passt wunderbar zur Story und zu Christoph Marzis anderen bei Heyne erschienen Romanen. Das Paperback erfreut sich zudem einer guten Verarbeitung und beinhaltet eine stimmungsvolle Karte und die Songtexte von Dylan’s Dogs als Extra.


Fazit

„Lyra“ ist eine Liebeserklärung an lebendige Klänge und kreative Worte. Christoph Marzi scheint in seiner Geschichte regelrecht aufzublühen und reißt den Leser mit in eine schaurig-schwüle Welt voller mysteriöser Kreaturen, düsteren Sümpfen und wahren Lügen. Herrlich atmosphärisch und grandios erzählt!


Pro & Contra

+ „Southern Gothic“ Atmosphäre
+ sympathischer Protagonist mit Stärken und Schwächen
+ kreative Umsetzung mythologischer Hintergründe
+ Symbiose von Musik und Literatur

- Seitenzahl wurde künstlich vermehrt

Extras:

- Songtexte von Dylan’s Dogs im Anhang
- Karte vom Sumpfgebiet

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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