Im Schatten der Hydrangea (Gabriele Behrend)

im schatten der hydrangea

p machinery (Mai 2023)
Paperback, 172 Seiten, 14,90 EUR
ISBN 978 3 95765 328 4
E-Book: ISBN 978 3 95765 775 6 – 4,99 EUR

Genre: Science Fiction / Inner Space


Klappentext

Emilia liegt nach einer Verzweiflungstat im Wachkoma. Ihre Ärztin zieht Jules Meyer zur Behandlung hinzu. Meyer ist der führende Experte in der In-Mind-Therapie, hat aber noch nie mit einem komatösen Patienten gearbeitet. Er lässt sich auf das Experiment ein und taucht in die verschiedenen Bewusstseinsebenen Emilias ab. Ob er ihr zwischen reifem Weizen, dem Inneren einer geheimnisvollen Kate, dem Blattwerk einer Bauernhortensie oder dem steinernen Abgrund, in dem sie zu versinken droht, helfen kann, ins Leben zurückzukehren, ob er das überhaupt will, das zeigt sich im Schatten der Hydrangea.
Eine Inner-Space-Story, die den Leser einlädt, in ein fremdes Bewusstsein einzutauchen.


Rezension

Nach einem Suizidversuch liegt Emilia im Wachkoma. Ärztin Agnieszka Kowal setzt zur Behandlung auf die neue In-Mind-Therapie und zieht den führenden Experten Jules Meyer hinzu. Dieser freut sich auf die Gelegenheit, die Technik bei einer kamotösen Patientin auszutesten und ist überzeugt, ihr helfen zu können. Jules taucht mittels umgerüsteter MRT-Röhren in Emilias Bewusstsein hinab und findet die junge Frau in einer kleinen Hütte inmitten eines sommerlichen Weizenfeldes. Das Licht ist seltsam trübe und Emilia reagiert auf seine Anwesenheit mit einem geladenen Gewehr. Doch dieses legt sie schnell zur Seite und baut Vertrauen zu Jules, den sie Emile nennt und für eine Projektion ihres Geistes hält, auf. Jules hilft ihr, die Kontrolle über ihre inneren Welten zu erlangen und stellt sich gemeinsam mit ihr ihrem persönlichen Abgrund. Emilia zweifelt jedoch bald daran, dass Emile, also Jules, ein Teil von ihr ist, und vermutet, dass er von außen kommt. Sie erkennt zu spät, dass er sie belügt und ihr Vertrauen missbraucht ...

Thematisch erinnert "Im Schatten der Hydrangea" an den SF-Thriller "The Cell", in dem Jennifer Lopez in die Gedankenwelt eines Mörders eintaucht. Emilia ist jedoch keine Mörderin, sondern eine psychisch kranke, verzweifelte junge Frau, die sich völlig in sich selbst zurückgezogen hat und in ihrer Innenwelt bösen Stimmen, die sie klein, traurig und ängstlich machen, ausgeliefert ist. Auch ist ihre Innenwelt nicht so surreal und morbide wie die des Killers in "The Cell". Emilias Bewusstsein wird durch mehrere Ebenen präsentiert, wovon die oberste das riesige Weizenfeld mit der kleinen Hütte ist. Sich selbst sieht sie dort als Cowgirl. Die nächste Ebene ist eine Pflanze, die titelgebende Hydrangea (Hortensie) in ihrer Lieblingsfarbe Blau mit zart violetten Äderchen. Und dann gibt es da noch eine graue Höhle mit einem scheinbar bodenlosen Abgrund, der Emilia lockt, sich hineinzustürzen und endgültig aus der Welt zu verschwinden. Zusammen mit Jules entdecken die Leser*innen Emilias Innenwelten und kommen dabei langsam der jungen Frau näher, die verwirrt und traumatisiert ist, in Jules Nähe jedoch auftaut und sich ihm anvertraut. Und dann kippt die Stimmung sehr plötzlich.

Jules mutet zunächst wie ein charismatischer Arzt an, der sehr von seinen Fähigkeiten überzeugt ist und gerne flirtet. Zum Beispiel mit Emilias Ärztin, die seine Avancen zunächst erwidert, jedoch bald misstrauisch wird und vermutet, dass Jules ihrer Patientin schadet. Tatsächlich überschreitet er Grenzen, während er bei Emilia in ihrer inneren Welt ist. Emilia ist mit den Umarmungen und Küssen einverstanden, sie sehnt sich nach Nähe und glaubt, dass sie Emile erschaffen hat, um ihr diese zu geben. Jules verliebt sich in die junge Frau, die für ihn stark, wild und verführerisch ist. Doch als sie ihm ihr Trauma offenbart, überschreitet er ihre Grenzen und traumatisiert sie noch mehr. Wer nach dem Klappentext erwartet hat, hier eine vielleicht surreale, traumartige Innenwelt zu erforschen, hält geschockt und angewidert inne. Für Bücher wie diese wurden Content Notes erfunden und die fehlen hier im Anbetracht der Themen dieses Romans: Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Suizid, Depression.

Agnieszka Kowal ist zunächst die unsympathische Ärztin, deren scheinbar größtes Interesse darin besteht, Emilias Bett für den nächsten Patienten freizukriegen. Doch nachdem Jules' Maske gefallen ist, ist es ausgerechnet sie, die merkt, dass etwas mit Emilia und der Therapie durch Jules nicht stimmt. Agnieszka setzt sich für Emilia ein, versucht, sie zu schützen, macht dabei aber naive und verhängnisvolle Fehler, die fassungslos machen. Ebenso fassungslos macht die Täterperspektive, die für sich bereits mehr als unangenehm ist. Dazu bedient sich Gabriele Behrend zu vieler Stereotype und widmet sich den schwierigen Themen nicht mit der nötigen Sensibilität. Jules entspricht zu sehr dem Klischee des Lebemannes, dessen Sexismus normalisiert wird. Dazu wird seine Übergriffigkeit mit seinen angeblichen Gefühlen erklärt und zu wenig auf Machtmissbrauch und seine Täterschaft eingegangen.

Die In-Mind-Therapie ist das einzige SF-Element in dieser Geschichte, die in unserer Gegenwart oder in sehr naher Zukunft anzusiedeln ist. Gabriele Behrend konzentriert sich auf die Gefahren einer solchen Technologie, die hier einem Therapeuten zu viel Macht über seine Patientin gibt und sie zu einer Gefangenen in ihrem eigenen Geist macht. Während der In-Mind-Therapie trifft Jules Emilia dort, wo sie am verletzlichsten ist und manipuliert sogar ihre Innenwelt, sodass sie sich noch weniger gegen ihn wehren kann. Wenn die Autorin ihre Leserschaft schocken wollte, ist ihr dies gelungen. Dennoch ist der Roman zu kurz, um dem komplexen und traumatischen Thema gerecht zu werden und man fragt sich, ob man die Möglichkeiten des Machtmissbrauchs während der In-Mind-Therapie nicht anders hätte darstellen können. Immerhin gibt es ein versöhnliches Ende und sowohl Emilia als auch Agnieszka zeigen ihre Stärken. Hinzu kommen weitere unterstützende Figuren, für die am Ende jedoch keine Zeit mehr bleibt und deren Reaktionen daher konstruiert erscheinen.


Fazit

"Im Schatten der Hydrangea" beginnt mit einer bekannten und immer wieder spannenden SF-Idee: Dem Eintauchen in ein fremdes Bewusstsein. Die Darstellung von Emilias Innenwelten ist gelungen, auch wenn man das Surreale vermisst. Doch dann wird aus dem Erforschen ihres Geistes eine Verkettung von Traumata, die schwer zu ertragen sind. Gabriele Behrend verknüpft die In-Mind-Therapie mit sexuellem Missbrauch und trübt ihre Geschichte mit fehlender Sensibilität, unnötig expliziten Gewaltszenen und einer vor Sexismus triefenden Täterpespektive.  


Pro & Contra

+ spannendes SF-Thema: das Eintauchen in ein fremdes Bewusstsein
+ gelungene Darstellung von Emilias Innenwelten
+ Emilia und Agnieszka gewinnen im Verlauf der Handlung an Stärke
+ thematisiert die Gefahren einer solchen "In-Mind-Therapie"

- explizite (unnötige) Gewaltszenen
- schlecht ausgestaltete Täterperspektive
- mangelnde Sensibilität
- zu kurz, um der komplexen Thematik gerecht zu werden
- fehlende Content Notes

Bewertungsterne3

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 2,5/5
Preis/Leistung: 3/5


Rezension zu "Das Dorf am Grunde des Sees"

Tags: SF-Autorinnen, deutschsprachige SF, Inner Space