Refugium (John Ajvide Lindqvist)

Lindqvist Refugium

dtv, 04.07.2023
Originaltitel: Skriften i vattnet (2022)
Übersetzt aus dem Schwedischen von Franziska Hüther, Ricarda Essrich, Hannes Langendörfer und Thorsten Alms
Gebunden, 524 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-423-28364-9

Genre: Kriminalroman, Thriller


Rezension

Die Millennium-Reihe Stieg Larssons, fortgesetzt von David Lagercrantz und Karin Smirnoff, mittlerweile angekommen bei Buch Nummer 7 (deutsch im August 2023 als Verderben erschienen), ist eine der erfolgreichsten Krimiserien der Welt. John Ajvide Lindqvist sollte auf Lagercrantz als Autor folgen, sein Manuskript für den 7. Band wurde jedoch vom Polaris-Verlag abgelehnt. John Ajvide Lindqvist hat für seinen Kriminalroman Refugium das Manuskript überarbeitet, die beiden Millenium-Hauptfiguren ersetzt, aus Journalist Mikael Blomkvist wurde Krimi-Autorin Julia Malmros, aus Hackerin Lisbeth Salander der Hacker Kim Ribbing. Der Autor hat die beiden Figuren mit Merkmalen der Vorbilder versehen, ihnen aber ausreichend neue Eigenschaften und Charaktertiefe verliehen, dass sie eigenständig wirken und nicht wie Abziehbilder.

In die Handlung hat er clever die Geschichte um sein Millennium-Manuskript eingearbeitet. Die ehemalige Polizistin und erfolgreiche Krimi-Autorin Julia Malmros soll Millennium fortsetzen. Julia will der Reihe jedoch eine andere Richtung geben, mit mexikanischen Drogenkartellen und norwegischem Ölgeld, Unterwanderung von Politik und Morden an Journalisten. Dem Verlag gefällt dies nicht, sie soll das Manuskript überarbeiten. Zuvor hatte Julia Ende Januar 2019 Kontakt zu dem Hacker Kim Ribbing aufgenommen, weil sie nicht über die Computerkenntnisse verfügt, um Lisbeth Salander glaubwürdig zu gestalten. Kim sollte ihr bei der Recherche helfen.

Kim stammt aus einer Familie der Oberschicht, die von seinem Großvater, einem brutalen Patriarchen, dominiert wurde. Der Großvater und die Eltern leben nicht mehr. Kim hat das große Vermögen geerbt. Er wohnt in Luxushotels, statt in seinem früheren Elternhaus. Er ist narbenübersäht, schwer traumatisiert und deckt im Darknet Fälle von Pädophilie auf. Julia verliebt sich in den rund zwanzig Jahre jüngeren Kim. Die beiden lassen sich auf eine seltsame Beziehung ein. Sie haben Sex, aber Kim verhält sich abweisend. Es entsteht eine – ebenfalls seltsame - Form von emotionaler Bindung. Julia ist geschieden, ihr Ex-Mann Jonny Munther ist Polizist und versucht, wieder mit ihr zusammenzukommen.

Julia hat ein Sommerhaus auf der Insel Tärnö, die einen Kilometer entfernt ist von der Insel Knektholmen in den Stockholmer Schären. Knektholmen gehört dem Ehepaar Olof und Gabriella Helander. Olof Helander war ein Kindheitsfreund von Julia. Das Ehepaar Helander und vier Gäste werden während der Mittsommerfeier 2019 in der Luxusvilla ermordet. Nur die vierzehnjährige Tochter Astrid überlebt und kommt traumatisiert in ein Krankenhaus. Es dauert nicht lange, da gerät sie in den Einflussbereich des renommierten Psychiaters Martin Rudbeck, dessen Opfer auch Kim gewesen ist.

Ermittler im Mordfall Helander ist Jonny, der nur über knappe Ressourcen verfügt. Anders Kim, der eine Seelenverwandtschaft mit Astrid spürt und mit Julia eigene Ermittlungen durchführt. Kim findet schnell heraus, dass Helander Geschäftsbeziehungen in China hatte und dass der Mordfall eine Verbindung zur chinesischen und norwegischen Ölindustrie aufweist. Zu Helanders Gästen gehörten der Chinese Chen Bao und der Europa-Parlamentarier Cédric Montaigne. Der Reichtum Olof Helanders stammt aus dem Handel mit CO2-Zertifikaten und Emissionsrechten, der Chen Baos aus Aktivitäten in der Klimaindustrie. Montaigne koordinierte Klimamaßnahmen der EU-Mitgliedsstaaten.

John Ajvide Lindqvist hat mit Refugium keine Horrorgeschichte geschrieben. Es ist sein erster Kriminalroman, mit Anklängen an den Horror. Es gibt ein paar grauenhafte Menschen in Refugium, darunter den Psychiater Rudbeck mit seinem perversen Interesse an Kim und Astrid. Einer der Themenkomplexe in Refugium ist Pädophilie sowie Missbrauch in der Familie und der Psychiatrie.

Lindqvist beschreibt plastisch den Zusammenhang von Emissionszertifikaten und Klimakompensation, über den wir in den letzten Tagen in der Berichterstattung über die COP28 informiert wurden. Weiter thematisiert er Korruption und Missbrauch im Handlungsfeld von Politik und Beratungsleistungen. Dies sowohl in der Klimapolitik wie auch im, wie es im Buch heißt, vermutlich teuersten Skandal der schwedischen Geschichte, verbunden mit dem berüchtigten Neue Karolinska-Krankenhaus.

All dies verknüpft Lindqvist formal und inhaltlich geschickt zu einer spannenden Geschichte. Der Prolog skizziert auf vier Seiten eine Feier, die Charakterisierung mehrerer Figuren, schließlich die Auflösung in einem Massaker. Die Zeit ist Mittsommer 2019, das Fest findet immer am Samstag zwischen dem 20. und 26. Juni statt. Das erste Kapitel und damit die Haupthandlung setzt ein halbes Jahr früher ein. Die lineare Handlungsentwicklung wird im zweiten Kapitel inhaltlich mit dem Prolog zusammengeführt und im siebten Kapitel durch einen Rückblick auf fünf Monate zurückliegende Ereignisse unterbrochen. Weiter sind im Roman kursive Abschnitte mit als gegenwärtig vermittelten Erinnerungen eingestreut.

Der Fall wird abgeschlossen, aber es gibt am Ende einen gruseligen Cliffhanger, der den Ausgangspunkt für den nächsten Band dieser als Stormland-Trilogie angekündigten Krimireihe bildet. Stormland ist auch der Arbeitstitel von Julias Millennium-Fortsetzung. Refugium ist bestimmt durch harten sozialen Realismus und erinnert an die Kriminalromane von Maj Sjöwall und Per Wahlöö, auf die John Ajvide Lindqvist sich nicht nur offen bezieht. Julia besucht auch die fiktive Schriftstellerin Irma Ryding, die mit Maj Sjöwall bekannt war. Es gibt einige popkulturelle Verweise und die Begründung dafür, dass 2018 der Film Christopher Robin mit Winnie Puuh in China verboten wurde. Kim liest die Summa theologica Thomas von Aquins auf interessante Weise. Er will nicht Aquin verstehen, sondern, was das Buch ihm persönlich zu sagen hat.


Fazit

John Ajvide Lindqvist lässt sich in seinem spannenden Kriminalroman Refugium Zeit, seine beiden Hauptfiguren nachvollziehbar zu entwickeln. Zu Beginn geht es vor allem um das Millennium-Projekt, die verschiedenen Vorstellungen von Verlag und Julia. Der Kriminalfall, die Parallelermittlungen von Polizei auf der einen, Kim und Julia auf der anderen Seite, werden transparent beschrieben. Geschickt handhabt der Autor das Wechselspiel zwischen Fiktion und Realität.


Pro und Kontra

+ clevere Konstruktion
+ sehr gute Hauptfiguren
+ Einbettung der Fiktion in reale politische Bezugsfelder
+ gibt einen Einblick in negative Aspekte von Klimapolitik, die mit dem Klima nur vordergründig zu tun haben
+ bei allen behandelten teils düsteren Problemen unterhaltsam mit ironischen Facetten

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5


Rezension zu Unwesen

Tags: Pädophilie, Korruption, schwedischer Kriminalroman, sozialer Realismus, Klimapolitik