Carcosa (2023)
Neuübersetzung von Hannes Riffel
Originaltitel: The Long Tomorrow (1955)
Klappenbroschur, 284 Seiten, 22,00 EUR
ISBN 978–3‑910914–04‑9
E‑Book: 284 Seiten, 18,00 EUR
ISBN 978–3‑910914–05‑6
Genre: Postapokalypse
Klappentext
Len Colter und sein Vetter Esau wachsen in einer Welt auf, die sich von der unseren grundlegend unterscheidet: Nach einem Atomkrieg, der sämtliche Städte zerstörte, wurde die Verfassung der Vereinigten Staaten um einen Zusatzartikel erweitert, der es den Menschen nur noch gestattet, in kleinen Dörfern zusammenzuleben. Das ganze Land ist von religiöser Demut geprägt und von einfachsten agrarischen Verhältnissen.
Die beiden jungen Burschen wollen sich damit jedoch nicht zufriedengeben. Nachdem Len und Esau auf ein technisches Wunderwerk stoßen, das ihnen ein anderes Leben verspricht, machen sie sich auf die Suche nach dem geheimnisvollen, kulturell hochentwickelten »Bartorstown« – und entdecken eine Welt, in der im Ringen mit der Vergangenheit über die Zukunft entschieden wird.
Rezension
"So leicht und hell und komfortabel. Das war die Welt. Und dann war sie weg. Von einem Moment auf den nächsten." (Seite 67)
Nach der Zerstörung (einem verheerenden Atomkrieg) leben die Menschen in den USA wie in der Frühen Neuzeit, als Amerika von Europäern kolonialisiert wurde. Die Ältesten erinnern sich noch an die Zeit vor der Zerstörung, an die großen Städte, die Wunder der Technik und Luxusgüter, die im apokalyptischen Feuer der Atombomben mit Millionen von Menschen verbrannten. Die Überlebenden verstreuten sich im ganzen Land, viele starben an Hunger und im Chaos nach dem Krieg. Andere fanden Zuflucht bei denen, die bereits vor der Zerstörung abseits der Zivilisation gelebt haben, wie den Amischen und den Mennoniten. Nun dominieren religiöse, christlich geprägte Sekten das Land, in dem es verboten ist, Städte zu errichten, denn die Städte werden als Ursprung allen Übels angesehen, ebenso wie die Wissenschaft, die die Atombombe hervorgebracht hat. "Das lange Morgen" ist erstmals 1955 erschienen und steht unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, der Angst vor einem weltzerstörenden Krieg sowie der Erschütterung über die gewaltige Zerstörungskraft und das unvorstellbare Leid. Die Gesellschaft in Leigh Bracketts Postapokalypse ist über Generationen traumatisiert und klammert sich an ein gottesfürchtiges Leben, mit dem viele zufrieden sind beziehungsweise es sein wollen. Fast hundert Jahre nach der Zerstörung leben die Menschen mit den Jahreszeiten, sie bestellen ihre Felder, bekommen Kinder und treiben Handel - und sie schlagen ihre Kinder, wenn diese zu viele Fragen stellen.
Len Colter und sein Vetter Esau handeln sich immer wieder Ärger ein, weil sie das einfache, gottesfürchtige Leben in Frage stellen, weil sie neugierig und wissensdurstig sind und Grenzen überschreiten. Ihre Neugier verleitet sie zum Besuch einer Predigt, wo sie Zeuge einer Steinigung werden und zum ersten Mal von Bartorstown hören, wo etwas aus der Zeit vor der Zerstörung überdauert haben soll. Len und Esau sind zutiefst erschüttert über den Mord an dem Mann, der mit Bartorstown in Zusammehang gebracht und daher getötet wurde. Die Angst der Menschen schlug in blanken Hass um, das kollektive Trauma fand einen Schuldigen und richtete diesen bestialisch hin. Len beschäftigt der Mord sehr, er ist emotional erschüttert und erkennt erstmals deutlich die Schattenseiten der Welt, in der er aufwächst. Er fragt seine Familie nach Bartorstown, der Vater tut es als Gerücht ab und ermahnt ihn, sich keine Gedanken darum zu machen. Die Großmutter erzählt, Bartorstown hätte es wirklich gegeben, doch sie glaubt nicht, dass es noch existiert. Len lässt der Gedanke nicht los und als Esau ein Radio stiehlt, ist dies für die Jungs der Beweis, dass es Bartorstown und damit die Welt vor der Zerstörung noch gibt. Bartortown wird zu einem Sehnsuchtsort, einem Traum, der sie dazu treibt, ihre Gemeinschaft zu verlassen. Es beginnt eine Reise durch die USA, durch kleine Gemeinden, in denen sie immer wieder an Grenzen stoßen und Zeugen menschlicher Grausamkeit werden. Ursachen der Gewalt sind Neid, Gier, religiöser Fundamentalismus und vor allem Angst - Angst vor der Zerstörung, dem apokalyptischen Feuer.
"Die Menschen waren keine Individuen mehr, sondern Rädchen in einer großen Maschine, alle nach demselben Muster geschnitten, mit demselben Geschmack und denselben Ideen, derselben massengefertigten Bildung, die niemanden etwas lehrte, sondern alles mit einer Tünche aus Schlagworten und Ignoranz zukleisterte. Warum willst du das zurückholen?" (Seite 173)
Leigh Brackett erzählt die Geschichte aus Lens Perspektive, der anfangs ein Fragen stellender Teenager ist und zunehmend sein Leben in Zweifel zieht. Ihm reicht es nicht, sich jeden Tag um Felder und Vieh zu kümmern, er will wissen, wie die Welt funktioniert und sehnt sich nach dem Wohlstand und den Technologien, die seine Großmutter beschrieben hat. Len glaubt, dass er in Bartorstown Wissen und Wohlstand finden wird, und lässt nicht davon ab, danach zu suchen. Sein Traum erfüllt sich schließlich, doch er wird mit einer Realität konfrontiert, die ihn zurück in den Glauben seiner Kindheit wirft. Len versucht, mit Hilfe all seiner Erfahrungen die Angst zu unterdrücken, doch er kommt nur schwer gegen das an, was ihm von klein auf beigebracht wurde. Seine Zweifel, die ihn hinaus in die Welt getrieben haben, die ihn unaufhörlich nach Bartorstown haben suchen lassen, treiben ihn nun zurück in die Vergangenheit. Doch Len ist erwachsen geworden und er zieht seine eigenen Schlüsse aus allem, was ihm widerfahren ist und was er gelernt hat. Esau fällt alles leichter, er grübelt nicht so viel wie Len und lässt vieles auf sich zukommen. Was die beiden jungen Männer eint, ist ihre Neugier und ihre Offenheit gegenüber dem, was sie Mehrheit verteufelt. Man könnte sagen, Esau ist einfacher gestrickt, er überlegt nicht viel, sondern reagiert, was ihm jede Menge Ärger einbringt, es ihm jedoch ebenso erleichtert, sich an neue Situationen anzupassen.
Eine weitere wichtige Figur ist der Händler Hostetter, der Len und Esau seit ihrer Kindheit kennt und für Len zu einer Art zweitem Vater wird. Hostetter lebt zwischen den Welten, er stammt aus Bartorstown, hat aber überwiegend außerhalb davon gelebt. Der Händler ist ein besonnener Ratgeber für Len und für die Leser*innen, deren emotionale Reaktion auf die Grausamkeiten in diesem Buch ähnlich wie Lens aussehen dürften. Hostetter erklärt die Gewalt und man versteht sie, was sie umso erschreckender macht. Auch wenn er Len Ratschläge gibt, lässt er ihm meist den größtmöglichen Freiraum, um zu eigenen Entscheidungen zu gelangen, wovon einige fatal sind. Len, Esau und auch Hostetter sind gut ausgearbeitete, vielschichtige Figuren, die nicht in die Welt, in der sie leben, passen - und deren Leben deswegen bedroht sind. Denn in dieser Welt wimmelt es vor religösen Fanatikern, die sie allein wegen dem Gedanken an Technologie aus der Zeit vor der Zerstörung töten würden. Die Angst, die sie ihr Leben lang erlernt haben, treibt sie dazu. Die Menschen hier sind Kinder ihrer Zeit, Kinder einer Postapokalypse, die auf den ersten Blick friedlich scheint und auf den zweiten tiefe Verwerfungslinien, Ängste, Schuld, Hass und Leid offenbart.
"Seit Anbeginn der Zeit glauben alle Menschen, dass ihre Taten gerechtfertigt sind, vom kleinsten Kind, das Bonbons klaut, bis zum Diktator, der einen Völkermord begeht. Das ist ein gedanklicher Kniff – wir machen uns vor, für alles einen vernünftigen Grund zu haben. Was der Menschheit mehr geschadet hat als irgendetwas sonst." (Seite 278)
Wie die Menschen in dieser Geschichte war auch Leigh Brackett ein Kind ihrer Zeit und so sind unter den handlungsrelevanten Figuren fast nur Männer. Einige davon entsprechen Stereotypen, jedoch nicht so sehr wie die wenigen Frauenfiguren, die oft weinerlich und hysterisch dargestellt werden und in der postapokalyptischen Gesellschaft nichts zu sagen und nichts zu denken haben. Einzig zwei Frauen stechen etwas heraus: Lens Großmutter hält eisern daran fest, dass vor der Zerstörung nicht alles Sünde und schlecht war, doch sie wird als hysterische Alte abgestempelt, die im hohen Alter wieder kindisch wird. Und dann wäre da noch Joan aus Bartorstown, die sich wie Len gegen das Leben, wie sie es kennt, wehrt. Doch Leigh Brackett nutzt ihr Potential nicht und drängt sie in die Rolle einer weinerlichen Frau, die nicht weiß, wie gut sie es hat und die schließlich von einem Mann unangenehm bevormundet und zurechtgewiesen wird. Ansonsten sieht man Frauen nur am Rand der Ereignisse weinen und schreien und die Kinder ins Haus treiben. Ein weiterer Negativpunkt ist die normalisierte Gewalt gegen Kinder, die von ihren Eltern beinahe zu Tode geprügelt werden, weil sie es wagen, sich Anweisungen zu widersetzen und Fragen zu stellen. Das ist zwar innerhalb der dargestellten Welt mit ihrem religiösem Fundamentalismus authentisch, doch schwer zu ertragen.
Ansonsten liest sich "Das lange Morgen" erstaunlich modern und man kann die Postapokalypse auf Bedrohungen wie die Klimakatastrophe übertragen. Dazu passt auch der erstarkende religiöse Fundamentalismus in den USA, der eine Welt, wie Leigh Brackett sie zeichnet, realistisch erscheinen lässt. Auch ist ein Atomkrieg nach wie vor eine reale Bedrohung, auch wenn das Thema weniger präsent ist als in den 1950ern und die Menschheit es bisher glücklicherweise vermieden hat, die Welt in einen nuklearen Winter zu stürzen. Dieser spielt übrigens in "Das lange Morgen" keine Rolle und man erfährt überhaupt sehr wenig über die Zeit direkt nach dem Krieg, nur dass es lange "immer schlimmer" wurde. In der Zeit der Romanhandlung ist nur die schreckliche Erinnerung an das Feuer, das vom Himmel fiel und als Strafe Gottes interpretiert wird, präsent. Die Städte scheinen vollkommen ausradiert, man sieht keine Ruinen und das Radio, das Esau stiehlt, ist neben Bartorstown das einzige Überbleibsel aus der Zeit vor der Zerstörung. Offenbar haben die Überlebenden alles vernichtet und das wenige, das übriggeblieben ist, wird gut versteckt, da man für seinen Besitz getötet werden kann. Das Radio wird auch zertreten, als die Erwachsenen es entdecken.
"Wissen lässt sich nicht auslöschen. Du kannst es unterpflügen, verbrennen und verbieten, aber irgendwo wird es überdauern." (Seite 405)
Im Kern ist "Das lange Morgen" eine Coming-of-Age-Story, das schmerzhafte Erwachsenwerden von Len, der viel wissen will und sich bald fragen muss, ob dieses Wissen, das er unbedingt haben wollte, ihn ins Unglück gestürzt hat. Dabei geht es auch darum, wie mit dem Wissen um die Atomkraft und die Atombombe umgegangen werden soll, ob man dieses Wissen und damit die Gefahr einer erneuten Apokalypse erhalten darf oder ob man alles vernichten sollte. Der Drang, alles zu vernichten, ist allzu verständlich, doch Leigh Brackett arbeitet heraus, dass man einmal erlangtes Wissen nicht auslöschen kann, dass es keinen Weg in die Vergangenheit gibt. Es bleibt nur die Zukunft, die aktiv gestaltet werden kann und muss, und hier können und wollen das nur wenige Menschen. "Das lange Morgen" zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Autorin keine Antworten vorgibt, sondern die Leser*innen eigene Antworten finden lässt. Der Roman stimmt sehr nachdenklich und zeigt in einer vermeintlich einfachen Welt, wie komplex das Leben ist und dass es oft keine einfachen Antworten gibt.
Auch wenn die Geschichte gut gealtert ist, gibt es natürlich einige Punkte, die aus heutiger Sicht veraltet wirken, insbesondere die Technologie, die in Bartorstown genutzt wird. Da gibt es beispielsweise einen Computer, der als Wunderwerk der Technik gilt und für heutige Leser*innen absurd riesig ist. Ansonsten erscheint das Setting eher historisch, weil viele Errungenschaften der Zivilisation verloren gegangen sind. Zeitlos bleibt der Konflikt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, der durch das Trauma des Krieges gezeichnet und daher umso dramatischer ist. Ebenso zeitlos ist die menschliche Grausamkeit, die zu Gewalt eskalierende Angst, in der sich aktuelle Konflikte und Krisen spiegeln. Fast glaubt man, in die Zukunft zu schauen, auch wenn die Ursachen andere sein werden. Und während viele Menschen in dieser Postapokalypse leiden, gibt es auch viele, die darin ihr Glück gefunden haben und diese Ambivalenz zieht sich durch die ganze Geschichte.
"Ich weiß jetzt, was auf dem Land lastet - ein träges, schwerer Gewicht. Sie nennen es ihren Glauben, aber das ist kein Glaube. Es ist Angst. Die Menschen haben sich eine Kappe über den Kopf gestülpt, haben sich der Unwissenheit ausgeliefert, fliehen vor allem und jedem ... und das nennen sie Gott, das beten sie an." (Seite 528)
Fazit
"Das lange Morgen" ist eine vielschichtige Postapokalypse mit einer über Generationen traumatisierten Gesellschaft, die sich in ihrer Angst religiösem Fundamentalismus verschreibt. Die ruhige Erzählweise wird von menschlicher Grausamkeit aufgebrochen, auf die Protagonist Len mit Bestürzung und Abscheu reagiert. Er sehnt sich nach der verlorenen Welt vor der Zerstörung, die er nur aus Erzählungen kennt, nach Technologie und nach Wissen. So jagt er einem Traum nach, der zu einer bitteren Realität wird. Leigh Brackett hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, der seine Leserschaft sehr nachdenklich zurücklässt.
Pro und Contra
+ vielschichtige, ambivalente Postapokalypse
+ gelungene Darstellung einer schwer traumatisierten Gesellschaft
+ glaubwürdiger Protagonist, der an seine Grenzen stößt
+ nachvollziehbare und daher umso erschreckendere Gewalt
+ wirft viele Fragen auf und lässt die Leser*innen eigene Antworten finden
+ transportiert die tiefe Erschütterung über die Zerstörungskraft der Atombombe
+ lässt sich auf heutige Krisen übertragen
+ stilvolles, schlichtes Cover der Neuausgabe
- sehr wenige / stereotype Frauenfiguren
- schwer zu ertragende, normalisierte Gewalt gegen Kinder
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5