Ein Psalm für die wild Schweifenden (Becky Chambers)

Cover "Ein Psalm für die wild Schweifenden" in grün mit einem Mandala aus Blättern im Zentrum

Carcosa (2024)
Originaltitel: A Psalm for the Wild-Built (2021)
übersetzt von Karin Will
Hardcover, 188 Seiten, 18,00 EUR
ISBN 978–3‑910914–10‑0
E‑Book, 188 Seiten, 12,99 EUR
ISBN 978–3‑910914–11‑7

Genre: Science Fiction


Klappentext

Vor Jahrhunderten entwickelten die Roboter auf dem kleinen Mond Panga ein Bewusstsein ihrer selbst – worauf sie umstandslos in der Wildnis verschwanden und zu einem Mythos wurden, zu einer urbanen Legende. Den Menschen hingegen ist es seither gelungen, die Klimakrise zu überwinden und zu einem gedeihlichen Dasein im Einklang mit ihrer Umwelt zu finden.

Dex zieht als Teemönch mit Fahrrad nebst Wohnanhänger durch die Lande und lädt in den Siedlungen zu besinnlichen, therapeutischen Gesprächen ein. Doch die Welt gerät aus den Fugen, als urplötzlich ein Roboter aus dem Wald tritt und die Frage stellt: »Was brauchen die Menschen?«

Der erste Teil eines Doppelromans, der sich bewusst der heute vorherrschenden Untergangsstimmung entgegenstellt und, mit leichter Hand erzählt, ein positives Zukunftsszenario entwirft.


Rezension

"... die Menschen hatten ein Händchen dafür, die Dinge aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine Grenze zu finden, an die sie sich hielten, war schon ein haushoher Sieg." (Seite 30)

Geschwister Dex ist mit sirer Aufgabe nicht mehr zufrieden und beschließt, fortan als Tee-Mönch durch die menschlichen Siedlungen Pangas zu ziehen. Dafür möchte Dex alles selbst erlernen, besorgt sich einen Ochsenbike und radelt mit sirem Teestand von Dorf zu Dorf. Den ersten Einsatz vermasselt Dex gnadenlos, eigentlich sollte ser den Menschen Tee ausschenken und sich deren Sorgen anhören, doch das ist gar nicht so einfach. Doch Dex lernt aus der Erfahrung und ist schon bald sehr beliebt bei den Menschen, die sire Ankunft regelrecht ersehnen. Dex spürt, was die Menschen brauchen, und schenkt ihnen kleine Auszeiten mit selbst zubereiteten Tees. Doch bald ist Dex wieder unzufrieden, obwohl ser alles richtig macht und die Arbeit als Teemönch sehr liebt. Dex ärgert sich über sich selbst, warum kann ser nicht einfach zufrieden und glücklich sein, alles scheint doch perfekt? Überstürzt trifft Dex die Entscheidung, in die Wildnis hinauszuziehen - und trifft dort auf einen Roboter, den ersten, den Dex jemals gesehen hat. Den ersten, den irgendein Mensch seit vielen, vielen Jahren gesehen hat. Und der Roboter will wissen, was sie Menschen brauchen ... 

"Ein Psalm für die wild Schweifenden" spielt in einem utopischen Setting auf einem Mond, der um einen Gasriesen kreist, irgendwo in der Galaxie. Über die Vergangenheit der Menschheit dort erfahren die Leser*innen wenig, doch offenbar gab es eine Industrialisierung ähnlich wie auf der Erde, die zur extremen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und zur Zerstörung der Lebensgrundlagen geführt hat. Die Menschen haben aus ihren Fehlern gelernt und große Teile des Mondes der Natur überlassen, während sie in kleineren und größeren Siedlungen friedlich zusammenleben. Panga erscheint wie ein Solarpunkparadies mit erneuerbaren Energien und einer Bevölkerung, die Rücksicht auf die Natur und aufeinander nimmt und sich bemüht, möglichst wenig Schaden anzurichten. Den Menschen geht es gut, die elemenatren Bedürfnisse sind befriedigt, doch Sorgen hat jeder mal - und kann diese bei Dex für kurze Zeit vergessen und sich der Schönheit des Augenblicks hingegeben. 

Vor längerer Zeit bauten die Menschen Roboter, die irgendwann ein Bewusstsein entwickelten und sich entschieden, in die Wildnis hinauszuziehen. Die Menschen haben dies akzeptiert, da sie jedes Leben ehren und den Robotern die Entscheidungsfreiheit lassen wollten. Da die Menschen nicht in die Wildnis gehen, hat seit diesem Abschied niemand mehr einen Roboter gesehen. Zumindest weiß Dex nichts davon. Ser kennt die Geschichte der Roboter, hätte es aber niemals für möglich gehalten, einen zu sehen. Und dann will dieser Roboter, der sich Helmling nennt, auch noch wissen, was die Menschen brauchen! Dex weiß selbst nicht, was ser will und braucht und warum ser so unzufrieden ist, obwohl  sehr sich glücklich schätzen sollte. Die beiden begeben sich auf eine gemeinsame Reise, während der sie einander kennenlernen und in verschiedenste Fettnäpfen treten. Doch sie gehen respektvoll miteinander um und vor allem Helmling ist über jede neue Erfahrung begeistert, während Dex zunächst verzweifelt, weil ser sich als absolut ungeeignet ansieht, die Menschheit zu repräsentieren. Und Dex ist überfordert mit der Wildnis, die zugleich atemberaubend schön und bedrohlich ist.

"Ich bestehe aus Metall und Zahlen, du aus Wasser und Genen. Aber wir sind beide mehr als das. Und dieses Mehr lässt sich nicht durch unsere Bestandteile definieren. Deine Wahrnehmung unterscheidet sich von der einer Ameise und meine von der eines ... keine Ahnung. Eines Staubsaugers. Habt ihr noch Staubsauger?" (Seite 120)

Zwischen Dex und Helmling entspinnen sich interessante und oft tiefergehende Gespräche, die vor Augen führen, wie sehr wir durch unseren jeweiligen Blickwinkel, aufbauend auf unseren Erfahrungen, geprägt sind. Dex ist in der Wildnis überfordert, weiß nicht, wie ser sich richtig verhält und geht über sire Grenzen. Helmling kennt sich in der Wildnis aus, ist erfüllt von Faszination für alles Lebendige und kann Dex in sirer Überforderung gut abfangen. Es macht einfach Spaß, den beiden zuzuhören, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu ergründen. Becky Chambers' Roboter sind erstaunlich heitere Wesen, die sich nach dem benennen, was sie als erstes bei ihrem Erwachen sehen. Sie haben alle Spezialgebiete, die meisten sind für sich, aber es gibt auch lose Gruppen und größere Treffen. Bei einem davon wurde beschlossen, wieder Kontakt mit den Menschen aufzunehmen. Leider wird dieser Handlungsteil im ersten Band kaum näher ausgeführt, das Kennenlernen von Dex und Helmling und damit Mensch und Roboter stehen im Vordergrund.

Becky Chambers zeichnet wunderschöne Bilder, die an Ghibli-Filme erinnern, und zeigt ein respekt- und liebevolles, menschliches Miteinander, das nicht frei von Konflikten ist, aber frei von Diskriminierung und vor allem Hass und Gewalt. Die Menschen sind bemüht, Lösungen für Probleme zu finden, sie kümmern sich umeinander, was sich auch durch Tätigkeiten wie die eines Teemönchs ausdrückt. Dex ist nicht-binär, was im Original durch die Pronomen "they/them" ausgedrückt wird - im Deutschen hat man sich für das Neopronomen "ser" entschieden, inklusive Deklinationen, die sich mal an der weiblichen, mal an der männlichen Form orientieren. So wird neben "ser" beispielsweise "sire" und "sihm" verwendet, was sich nach wenigen Seiten recht natürlich liest, aber irgendwie nicht richtig wirkt. Die Deklinationen lesen sich eher passend zu "sier" als zu "ser". Auch die Übersetzung des Titels ist nicht ganz passend. Der deutsche Titel klingt zwar schön und passt zur positiven Stimmung der Geschichte, doch das "Wild-Built" geht unter. Helming ist ein Roboter, der in der Wildnis aus den Teilen anderer Roboter gebaut wurde, also quasi "wild-built".

"Ein Psalm für die wild Schweifenden" ist der erste von zwei Bänden, die sich um Dex und Helmling drehen und aufgrund der Kürze beider Texte hätte man sie auch gut in einem Buch veröffentlichen können. Carcosa hat sich entschieden, zwei Bücher daraus zu machen, und so endet der erste Band mit einer Art Fadeout. Obwohl der Kurzroman voll spannender Ideen und schöner Momente steckt, fühlt man sich am Ende wenig beeindruckt. Man liest die Geschichte mit einem Lächeln auf den Lippen, genießt sie, aber es bleibt wenig übrig - was vor allem daran liegt, dass spannende Gedanken zu Ökologie, Wahrnehmung und Identität nicht zu Ende gedacht werden. Vielleicht gelingt es Becky Chambers im zweiten Band, mehr Tiefe zu erzeugen.

"Der Widerspruch besteht also darin, dass das Ökosystem als Ganzes auf die Zurückhaltung aller Beteiligten angewiesen ist, um nicht zu kollabieren, aber die Beteiligten haben keinen angeborenen Mechanismus, der ein solches Verhalten begünstigen würde." (Seite 152)


Fazit

"Ein Psalm für die wild Schweifenden" ist eine wunderschöne Utopie auf einem fernen Mond, auf dem die Menschen der Natur Raum lassen. In der Wildnis leben auch Roboter, die einst in Fabriken arbeiteten und ein Bewusstsein entwickelten. Nun kommt es erstmals seit vielen Jahren zum erneuten Kontakt zwischen Mensch und Roboter, inklusive großer Verunsicherung und Neugier. Becky Chambers schildert diese Begegnung mit viel Empathie und feinsinnigem Humor, lässt jedoch bisher Tiefe vermissen.


Pro und Contra

+ an Solarpunk erinnernde Utopie irgendwo in der Galaxie
+ Dex ist ein sehr empathischer, liebenswerter Charakter
+ Helmlings Faszination für alles Lebendige
+ interessante, humorvolle Dialoge zwischen Dex und Helmling
+ rücksichtsvolles, menschliches Miteinander auf Panga
+ schöne, schlichte Covergestaltung

- zu vieles bleibt oberflächlich

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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Tags: Solarpunk, SF-Autorinnen, Becky Chambers, Utopie