Der gemeine Lumpfisch (Ned Beauman)

Liebeskind (März 2023)
Originaltitel: Venomous Lumpsucker
Übersetzerin: Marion Hertle
386 Seiten, 24,00 EUR
ISBN: 978-3-95438-158-6

Genre: Near Future Science Fiction, Satire, Umweltthriller

Gelesen wurde die englischsprachige Originalausgabe.


Klappentext

Mark Halyard arbeitet als Umweltverträglichkeitskoordinator bei der Brahmasamudram Mining Company, die im Tiefseebergbau tätig ist und versehentlich den Lebensraum eines wenig bekannten Putzerfischs, des Gemeinen Lumpfischs, vernichtet hat. Um die Zerstörung des Planeten einzudämmen, sind Unternehmen gesetzlich verpflichtet, für viel Geld Auslöschungszertifikate zu erwerben, falls sie an der Ausrottung einer Spezies mitwirken. Allerdings hat sich Halyard mit Leerverkäufen von Lumpfisch-Zertifikaten verspekuliert. Nachdem er auf fallende Preise gewettet hat, stellt ein mysteriöser Hackerangriff auf diverse Biobanken, in denen Gewebeproben und Genomdaten gefährdeter Arten gespeichert werden, das System auf den Kopf. Alle Back-ups für den Gemeinen Lumpfisch sind futsch, und der Preis für Lumpfisch-Zertifikate geht durch die Decke. Halyards einzige Hoffnung ist, mithilfe der Lumpfisch-Expertin Karin Resaint irgendwo ein Exemplar des Fischs aufzutreiben, damit die Spezies nicht als ausgerottet gilt …


Rezension

In „Venomous Lumpsucker“ entfaltet sich nach und nach das Bild einer nahen Zukunft, in der Alltag und Apokalypse nah beieinander liegen. Es wird keine Jahreszahl genannt, aber die Ereignisse dürften zeitlich nicht allzu weit entfernt sein. Trends der Gegenwart setzen sich fort: Nachrichtenverifikation ist ein großes Thema, KI und Algorithmen durchdringen den Alltag – auch wenn eine Pilzinfektion namens Kaptcha, welche die Züge der Befallenen verändert, ihnen das Leben schwer macht –, und Lobbyarbeit verwandelt Versuche, die rasende Umweltzerstörung zu regulieren, in eine Farce. Es ist eine Zukunft, in der die AfD unglücklicherweise erfolgreicher überdauert hat als die Ringelrobbe.

Es ist ein schwunghafter Handel mit sogenannten „Extinction Credits“ im Gange, die ein Preisschild an die Ausrottung von Spezies hängen sollen, was aber nicht wie vorgesehen funktioniert. Immerhin ist der Preis einer Spezies für große Firmen noch relativ erschwinglich und arbeiten diese auch hart daran, die Regelungen weiter aufzuweichen. Tiere, die keine echten Populationen mehr haben, werden in Form von Scans und genetischem Material in großen Banken gehortet, damit man irgendwie argumentieren kann, dass sie nicht wirklich ausgestorben sind. Die Figuren im Buch teilen sich, was das betrifft, grob gesagt in zwei Lager: Entweder sie ignorieren das Artensterben beziehungsweise reden es sich schön – oder sie setzen sich tatsächlich damit auseinander und tragen einen erheblichen psychischen Knacks davon.

In diesem Setting werden zwei Menschen durch einen Putzerfisch zusammengeführt, der, wie es im Text heißt „selbst für Fischverhältnisse dumm aussieht“. Aber der erste Eindruck täuscht. Der Venomous Lumpsucker ist zu erstaunlichen Denkleistungen und sogar Eigenschaften wie Rachsucht fähig, wie die Tierintelligenz-Expertin Karin Resaint bestätigt hat. Mark Halyard, der in der sogenannten Extinction Industry arbeitet, hat sich mit Firmeneigentum verzockt und will Resaint zunächst überzeugen, die Klassifizierung des Lumpsuckers als intelligent zurückzunehmen, um den Preis seiner Auslöschung zu senken. Für Resaint unterdessen ist der Venomous Lumpsucker der Fokus ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit dem menschengemachten Artensterben geworden.

Die beiden arbeiten widerwillig zusammen, in der Hoffnung, doch noch eine intakte Lumpsucker-Population irgendwo zu finden. Ihre Suche führt sie durch Nationalparks (mittlerweile primär Lagerstätten für toxischen Müll), Camps mit gestrandeten migrantischen Arbeiter*innen und komplett durch Smart Contracts regulierte libertäre Seeenklaven – und auf die Spur einer geheimnisvollen Frau, die auf der Flucht ist und Informationen über einen spektakulären Hack zu haben scheint, der die Welt erschüttert hat. Sie stolpern durch eine bizarre Szene nach der anderen und finden schließlich heraus, wie all diese Ereignisse zusammenhängen.

Weder Halyard noch Resaint sind besonders sympathisch. Halyard ist nur auf sein eigenes Wohl und die endlose Suche nach Essen, das noch nach etwas schmeckt, fixiert. Letzteres ist angesichts der Klimafolgen eine echte Herausforderung. Resaint arbeitet entschlossen auf reichlich schräges Ziel hin. Dies und der Stil des Buches halten die Lesenden häufig emotional auf Abstand, was vielleicht gar nicht schlecht ist, da es um eine Vielzahl schwerer Themen geht. Es geht um Tod, Schuld, Verlust und Verzweiflung. Sowohl implizit als auch in zahlreichen Dialogen wird diskutiert, welche Verantwortung Menschen für ihre Umwelt tragen und was der Verlust von Artenvielfalt ihnen bedeutet und bedeuten sollte.

Das Buch ist von trockenem, oft ziemlich schwarzem Humor durchdrungen und es gibt immer wieder kleine überraschende Formulierungen und Situationskomik. Gelegentlich weckt die Schilderung der Welt – zum Beispiel die Begegnung mit verwaistem Geo-Engineering-Equipment, das auf zufälligen Routen durch die Meere trudelt – eine Art trostloses Staunen. Und nicht zuletzt kommt auch viel Spannung und Neugier auf. Hat der Lumpsucker noch eine Chance? Und wie hängen ein Hack mit großen Auswirkungen auf den Markt, eine Fliegenplage und die „Meerjungfrau“ mit ihren Andeutungen über eine Verschwörung zusammen? Am Ende gibt es eine Auflösung, die auf mehreren Ebenen überzeugt aber in einer Hinsicht etwas simpel ist, gefolgt von einem sehr netten Epilog.


Fazit

„Venomous Lumpsucker“ ist unterhaltsam und überraschend und der Stil schafft eine gewisse Distanz zum eigentlich deprimierenden Inhalt. Das Buch macht den Eindruck, dass der Autor die Trends der Gegenwart präzise beobachtet und dann weitergedacht hat.


Pro und Contra

+ viele Überraschungen
+ gelungene Satire aktueller Trends
+ viele schräge, einprägsame Szenen
+ macht neugierig, wie Ereignisse zusammenhängen
+ wichtige Themen

o viele unsympathische Figuren
o deprimierendes Setting

- etwas enttäuschende Enthüllung, wo Fäden zusammenlaufen

Wertung: 

Handlung: 4/5
Figuren: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis-Leistung: 3,5/5

Tags: Climate Fiction, Near Future