Interview mit Sven Haupt
Literatopia: Hallo, Lou. Dein kürzlich im Eridanus Verlag erschienener SF-Roman „Niemandes Schlaf“ beginnt mit einer gigantischen Blume aus Fleisch, gebaut von einem Hornissen-Drohnenschwarm. Es ist die erste von vielen Blumen, die für Chaos sorgen. Auch in anderen Werken von Dir spielen Blumen / Pflanzen eine besondere Rolle. Warum?
Sven Haupt: Schon bevor ich angefangen habe zu schreiben hatte ich gelesen, dass sich literarische Motive gerne verselbstständigen und den Autor:innen oft keine Wahl lassen, wenn es um ihre Verwendung geht. Blumen haben sich irgendwie in mein Werk gestohlen und nun übernehmen sie von sich aus wichtige Rollen. Ich habe keine Ahnung warum. Die erste Idee zu „Niemandes Schlaf“ ist zwanzig Jahre alt und sie enthielt das Graffiti einer Blume an einer Betonwand. Irgendetwas resoniert in mir, wenn ich dieses Motiv benutze und wer weiß wie viele Bücher ich vielleicht noch schreiben muss, um es selbst herauszufinden. Ich begrüße das Blühen jedoch, denn es wird nicht mit klassischer Science-Fiction assoziiert und ich freue mich über jede Gelegenheit weird zu sein.
Literatopia: „Niemandes Schlaf“ spielt in einem fiktiven Megaplex, der an ein klassisches Cyberpunksetting erinnert. Wie sieht der Alltag der Menschen dort aus?
Sven Haupt: Ich war auf der Suche nach einem Setting, welches dicht am Cyberpunk spielt, aber noch nicht ganz dort angekommen ist. Noch können Taxis nicht fliegen, noch gibt es keine virtuelle Parallelwelt online und noch sind Implantate und Mensch-Maschinen-Verschmelzung nicht Alltag. Künstliche Intelligenzen haben gerade erst Bewusstsein erlangt. Die Welt sollte sich anfühlen, als wäre es die gesteigerte Version unsere eigenen, welche direkt hinter der nächsten Ecke auf uns wartet. Konzerne beherrschen eine Gesellschaft in der Produktivität der einzige Bewertungsmaßstab für Menschen ist. Schlaf gilt als Schwäche, welche Karriere gefährdet. Wiederkehrende Lockdowns zusammen mit omnipräsenten, privaten Streitkräften in den Straßen sind normal geworden. Medikamentieren ist der gängigste Weg Probleme zu lösen. Die vollständige Abkehr von der Natur wurde zur Doktrin erhoben, welche absurdeste Stilblüten treibt, wie z.B. das Verbot von Zimmerpflanzen, weil sie unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Inmitten dieser Welt, in der Menschen nur noch funktionieren dürfen, lasse ich zahllose Blumen auftauchen. Mir erschien das Bild seltsam schön, aber auch dystopisch und doch hoffnungsvoll.
Literatopia: Deine Protagonistin Lou leidet unter starkem Muskelschwund. Die Krankheit zehrt sie auf, sie wird in ihrem intelligenten Rollstuhl, der eine Berühmtheit in der PharmaCorp-Klinik ist, immer kleiner – gleichzeitig ist all dies eine Art Befreiung für Lou. Inwiefern?
Sven Haupt: Ein wiederkehrendes Thema meiner Bücher ist die Frage, was eigentlich eine Heldin ausmacht. Wie entsteht der Mut die Welt zu retten? Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der alle meine sogenannten Rollenbilder männlich waren und als Äußerung ihrer Macht und Überlegenheit große Waffen benutzten. Meine Heldinnen sind im Gegensatz dazu oft äußerlich unscheinbar. Sie haben keinen muskelbepackten Körper und bekommen kein magisches Schwert. Im Gegenteil, oft nehme ich ihnen noch mehr weg. Ihnen fehlt die Erinnerung, oder sie verstehen nicht, in welcher Welt sie sich befinden. Fremde Kräfte versuchen sie zu instrumentalisieren und zu missbrauchen. Oder sie sind krank, und alles an ihnen sagt deutlich, dass sie nicht geeignet sein sollten, Heldinnen zu werden. Sie sind es aber dennoch. Sie sind es sogar an Orten, wo es niemand bezeugen kann. Am Ende gibt es dann nicht einmal wehende Fahnen, Fliegerstaffeln, Orden und dramatische Musik. Mir ist es wichtig, zu zeigen, dass wahre Stärke an Orten stattfindet, wo wir schwach sind, wo wir allein sind und wo wir aufstehen, wenn uns selbst zum Stehen die Kraft fehlt. An diesen stillen Orten, wo niemand zusieht, entsteht wahres Heldentum.
In diesem Rahmen führt Lou den ultimativen Kampf. Während sie dabei zusieht, wie sich ihr altes Leben immer weiter auflöst, findet sie in dieser Schwäche und Hilflosigkeit ein komplett neues Leben. Ein Leben, in welches sie vielleicht niemals gefunden hätte, wenn sie geblieben wäre, wo die Gesellschaft sie hingestellt hat und wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, sich selbst neu sehen zu lernen. Man kann dies auch als Metapher lesen, denn viele Menschen besitzen ganze Teilpersönlichkeiten, welche sie sich bauen mussten (durch Traumata), oder welche für sie gebaut wurden (von der Gesellschaft), welche dem Leben im Weg stehen, welches sie haben könnten. Oft bedarf es schwerer Krisen, bis wir verstehen, wie wenig aktiven Einfluss wir auf die Geschichte nehmen, die wir über uns erzählen und wie viel der Macht wir an andere abgetreten haben. Unser Heldentum besteht dann im Loslassen dessen, was wir nicht mehr in unserer Geschichte sehen wollen. Es gibt ein Sprichwort, das sagt: Wer alles haben will, muss bereit sein alles aufzugeben. Ich glaube das ist sehr wahr.
Literatopia: Deine zweite Protagonistin, Professor Bettina Calvin, kennen Deine Fans bereits aus Deinem Episodenroman „Der elektrische Engel“. Wo lässt sich „Niemandes Schlaf“ zeitlich in Bezug auf „Der elektrische Engel“ einordnen? Und inwiefern hat sich Bettina Calvin in Deiner Vorstellung verändert?
Sven Haupt: Prof. Bettina Calvin war ursprünglich als Hommage an Isaac Asimovs berühmte Dr. Susan Calvin konzipiert. Ihrem Schaffen habe ich meinen ersten Episodenroman „Der elektrische Engel“ gewidmet. Dort wird ihr Leben in Form von fünfzehn Kurzgeschichten erzählt. Die Ereignisse von „Niemandes Schlaf“ liegen zeitlich zwischen Kapitel elf und vierzehn. Nach dem elektrischen Engel wollte ich es eigentlich dabei belassen und mich anderen Geschichten zuwenden, doch Bettina Calvin hat sich immer wieder in meinen Kopf geschlichen. In der ersten Konzept-Version von „Niemandes Schlaf“ war der Protagonist gesund und männlich gelesen und der Roman funktionierte überhaupt nicht. Erst als ich Lou gefunden hatte, wurde mir klar, dass ich eine zweite Erzählschiene brauche, auf der ein Gegenentwurf zu ihr agiert. Jemand, der kühl, sachlich und unbedingt rational arbeitet. Jemand, der immer versuchen wird, die Welt mit Fakten zu verstehen und dabei versagen muss, denn es gibt Entwicklungen, die sich dem Rationalen schlicht entziehen. Bettina Calvin war die offensichtlich Wahl. Im elektrischen Engel wird sie sehr mächtig und überlegen portraitiert. In „Niemandes Schlaf“ ist sie am Höhepunkt ihres Schaffens und ihrer Macht und scheitert dennoch, denn die Ereignisse lassen sich nicht durch Wissenschaft und Fakten kontrollieren. Bettina Calvin so verletzlich zu machen, wie sie am Ende ist, war schwer für mich, aber es war notwendig, denn es macht sie für mich auch menschlicher und nahbarer.
Literatopia: „Niemandes Schlaf“ ist weird, düster, aber auch hoffnungs- und humorvoll. Insbesondere die Dialoge sind sehr unterhaltsam. Findet sich dieser Humor in all Deinen Geschichten? Und fließt der Humor ganz natürlich in die Geschichten oder feilst Du länger an solchen Szenen?
Sven Haupt: Der größte Aufwand für mich ist die Strukturarbeit an einem neuen Roman. Diese nimmt auch die meiste Zeit in Anspruch. Die Konstruktion der Erzählkurve, die Abfolge der Kapitel, der genaue Inhalt, der in jeder Szene transportiert werden muss. Steht das Gerüst, schreibe ich mich nur noch an der Struktur entlang. Ich weiß dann genau, was in den Dialogen besprochen werden soll. Der Humor kommt beim Schreiben von ganz allein, dazu muss ich mich nicht bemühen, denn so denke ich automatisch. Ich muss eher darauf achten, es nicht zu übertreiben. Um den Humor muss ich mir keine Sorgen machen. Schwieriger ist es, wenn meine Protagonisten beginnen Sätze zu benutzen, welche spontan ihren Charakter verändern und ich manchmal nachträglich die komplette Struktur des Romans umbauen muss, weil meine Heldin sich gerade entschieden hat eine andere Persönlichkeit zu entwickeln.
Literatopia: In Deinen Werken sprengst Du Genregrenzen und kreierst eine ganz eigene Phantastik, die sich Strömungen wie New Weird zurechnen lässt. Doch was genau ist „weird“? Und warum brauchen wir mehr davon?
Sven Haupt: Ich rede gern und oft über dieses Thema. Mein Lieblingsbeispiel ist immer die Sichtweise meines Sohnes, wenn ich Fortnite mit ihm spiele und in eine Welt eintauche, in der eine fast schon betäubende Mischung aus Science-Fiction, Fantasy, Horror und Popkultur omnipräsent ist. Feen, die mit Darth Vader zu Ariana Grande tanzen, während daneben eine Banane in Agentenuniform zusieht, sind nicht einmal der Rede wert. Wir nennen es weird, für meinen Sohn ist es fast schon wieder langweilig. Angesichts dieser Welt sind klassische Science-Fiction-Szenarien für mich nicht mehr genug. Mir ist diese Sichtweise zu eng und ich suche nach einer größeren Perspektive. An dieser Stelle zitiere ich immer Jeff VanderMeer: „Wenn man darüber nachdenkt, wie sie derzeit Roboter aus Froschembryonen erschaffen, fühlt es sich an, als ob man etwas braucht, das über das Normale hinausgeht. Surrealismus und Fantasy, die Science-Fiction durchdringen, sind das, was ich benutze, wenn ich über diese Themen nachdenke.“
Literatopia: Die Titel von „Wo beginnt die Nacht“ und „Niemandes Schlaf“ sind von Werken Rainer Maria Rilkes inspiriert. Was bedeutet Dir sein Werk?
Sven Haupt: Ich liebe die Gedichte von Rilke. Schon seit über drei Jahrzehnten. Ich weise immer wieder darauf hin, dass ich nicht in dem Sinne Romane schreibe, sondern nur Telefonbücher voll erklärenden Text um Rilke-Gedichte herum baue. Die letzten vier Romane konnte ich überhaupt erst anfangen zu schreiben, als ich das passende Gedicht und somit den Titel und dadurch das Grundgefühl des Buches gefunden hatte. Wäre ich talentiert, wie Rilke es war, könnte ich meine Bücher auch auf ein paar Zeilen komprimieren. Ich tue, was ich kann, also kompensiere ich, indem ich ein paar hundert Seiten mehr benutze. "Niemandes Schlaf" ist übrigens erst mal das letzte Buch, welches sich an Rilkes Werk anlehnt. Die nächsten beiden Romane werden mit Zitaten aus den Songtexten meiner Lieblingsband Nightwish eingeleitet.
Literatopia: Du studierst schon eine Weile Liebesromane, um emotionale Nähe zwischen Deinen Figuren besser darstellen zu können. Was ist das Zwischenergebnis Deiner Studien?
Sven Haupt: Zu niemandes Überraschung wird es anspruchsvoller, je mehr ich darüber lerne. Das Thema von Darstellungen von Liebe ist geradezu schockierend komplex und ich finde selten eine Form, die mir zusagt. Oft wird mir an den entscheidenden Stellen zu viel erklärt, aber diese Erfahrung mache ich ständig. Schließlich bin ich ein:e erklärte:r Gegner:in von Exposition und vermeide es grundsätzlich Leser:innen irgendetwas zu erklären. Meine Idee ist im Moment eher Nähe zu zeigen, ohne sie zu erklären und die Tiefe von Bedeutung füreinander ausschließlich im Subtext zu transportieren. Ich finde das alles andere als leicht, das ist mir gerade erst klar geworden, denn in meinem nächsten Roman „Anahita“ wird es tatsächlich um Liebe gehen und das, was wir bereit sind, dafür zu zahlen, unseren Weg zu gehen. Ich stelle mir ja gerne harte Aufgaben, aber ich muss sagen, das war bis jetzt die Schwerste.
Literatopia: Gibt es zu wenig aufrichtige Liebe in der Science-Fiction bzw. zu viele klischeebehaftete, oberflächliche Darstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen?
Sven Haupt: In der Science-Fiction mit der ich groß geworden bin? Mit Sicherheit. Die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen war wahlweise abwesend oder furchterregend. Heute findet dankbarerweise progressives Denken immer stärker Einzug in die literarische Welt und die Beziehungen werden tiefer, komplexer, facettenreicher und wenden sich neuen Horizonten zu. Ich weiß noch wie erleichtert ich war, als ich die ersten Bücher von Becky Chambers und Ann Leckie las und endlich die Perspektiven und die Tiefe fand, die mir immer gefehlt haben. Dank der vielen neuen und hervorragenden, progressiven Stimmen in der deutschsprachigen Science-Fiction sind wir eigentlich auf einem guten Weg. Immer vorausgesetzt die ewig Gestrigen schaffen es nicht, uns wieder zum Schweigen zu bringen.
Literatopia: Du bist Buddhist:in. Inwiefern fließen Deine Spiritualität und Deine Erkenntnisse in Deine Bücher ein?
Sven Haupt: Buddhismus findet sich in allen meiner Bücher. Wann immer es um Bewusstsein geht, darum wie unser Handeln, unsere Entscheidungen und unsere Sicht auf Dinge das Universum formen, in welchem wir leben, ist es buddhistische Psychologie, welche hinter den Motiven steht. Im Roman „Stille zwischen den Sternen“ wird erklärt, dass es die Anwesenheit von menschlichen Bewusstsein ist, welches der begrenzende Faktor bei Reisen im Subraum ist. Dem liegt das buddhistische Verständnis zugrunde, dass es das Bewusstsein ist, welches die Realität erschafft, nicht umgekehrt. Selbst der Weltenbau wird davon durchtränkt. In dem Roman „Wo beginnt die Nacht“ wird ein Haus beschrieben, welches durch Zeiten, Dimensionen und Existenzebenen reisen kann. Das Universum, welches dort beschrieben wird, basiert vollständig auf buddhistischer Kosmologie. Das Gleiche gilt für die Welten, die in „Niemandes Schlaf“ beschrieben werden. In praktisch allen meinen Werken finden sich mehr oder weniger offensichtliche Referenzen an die Lehre des Buddha. Ich weise nur nicht extra darauf hin.
Literatopia: Du bist sehr begeistert von dem Roman "Blindsight" von Peter Watts und immer noch sauer, dass er dafür nicht den Hugo Award bekommen hat. Was hat Dich an dem Roman so sehr beeindruckt?
Sven Haupt: Vielen Dank, dass Du mir Gelegenheit gibst, noch einmal Werbung für Peter Watts machen zu können, der in meinen Augen ein verkanntes Genie ist. Sein Roman "Blindsight" ist ein Meisterwerk und mein einziger Konflikt ist, dass ich mich nicht entscheiden kann, ob das Nachfolgewerk „Echopraxia“ noch besser ist, oder nicht. "Blindsight" hat es, bislang als einziges Science-Fiction Werk, geschafft mir die Begegnung mit Außerirdischen so darzustellen, dass ich sie kaufe: Beängstigend, verstörend und bis zum Ende vollständig unverständlich. Der Autor hat sein Raumschiff mit einem Vampir als Kommandanten ausgestattet und mich damit vollkommen überzeugt. Ein Vampir in einem Raumschiff. Das muss man sich erst mal trauen. Ich kann das Buch nur jedem Science-Fiction-Fan ans Herz legen. Faire Warnung: Es ist hardcore Science-Fiction und Peter Watts ist extrem kompetent darin Astrophysik und Neurobiologie in schockierender Tiefe für seine Motive zu benutzen. Es ist also ein durchaus anspruchsvolles Werk, welches man nicht mal eben zum Einschlafen lesen kann. Ich habe es drei Mal gelesen und ich bin noch immer nicht sicher, ob ich es verstanden habe.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Website: https://elektrischerengel.com/
Rezension zu "Niemandes Schlaf“
Rezension zu "Wo beginnt die Nacht"
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.