Interview mit Noah Stoffers
Literatopia: Hallo, Noah! Deine Leser*innen haben schon lange auf „A Midsummer’s Nightmare“ gewartet und das Buch prompt auf die Spiegel-Bestsellerliste gebracht. Vermutlich hast Du trotz spürbarer Vorfreude auf Social Media nicht einmal ansatzweise damit gerechnet? Wie hast Du die Zeit vor und während der Veröffentlichung erlebt?
Noah Stoffers: Das war tatsächlich absolut überraschend. Ich habe erst einmal gefragt, ob sie vielleicht die Titel verwechselt haben, weil ich das so unvorstellbar fand. Natürlich habe ich mich umso mehr darüber gefreut.
Insgesamt ist eine Veröffentlichung immer etwas anstrengend. Einerseits durch die Werbung, andererseits weil es schwer einzuschätzen ist, wie ein Buch tatsächlich ankommt. So unverhofft gute Nachrichten sind dann wie ein Adrenalinstoß. Das war sehr beflügelnd.
Literatopia: Wie wichtig sind Vorbestellungen bei Büchern inzwischen? Und welche Rolle hat die Bücherbüchse beim Erfolg des Romans gespielt?
Noah Stoffers: Ich vermute, dass beides zusammen für die Platzierung auf der Bestseller-Liste verantwortlich war. Vorbestellungen zeigen dem Verlag und dem Buchhandel schon vor dem Erscheinen, dass es ein Interesse am Roman gibt, und sie pushen die Verkaufszahlen in der Woche des Erscheinens. Das wird immer wichtiger, weil so viele Titel herauskommen. Auf der anderen Seite hat die Bücherbüchse als Abo-Box eine große Stückzahl auf einen Schlag geordert. Das hilft ungeheuer, genau wie das Posten von Unboxings und später Rezensionen. Und als jemand, der selbst gerne Bücherboxen bestellt, habe ich mich sehr drüber gefreut.
Literatopia: Kommen wir zum Inhalt von „A Midsummer’s Nighmare“ - welche phantastischen Alpträume erwarten Protagonist*in Ari auf dem Elite-College in Schottland?
Noah Stoffers: Erst einmal Geister – und damit der Zweifel daran, ob Ari deren eigenen Sinnen noch trauen kann. Denn bisher gab es keinen Funken von Magie in Aris Leben, zumindest nicht im Wortsinn. Aber auch die Grenzen der Realität verschwimmen immer stärker, als Monster auftauchen und Studierende übernatürliche Fähigkeiten entdecken. Da stellt sich schnell einmal die Frage, was ist hier noch Wirklichkeit? Im Grunde so wie bei den Menschen, die sich in Shakespeares Sommernachtstraum unter das Feenvolk mischen.
Literatopia: Erzähl uns etwas mehr über Ari. Was ist dey für ein Mensch?
Noah Stoffers: Ari ist nicht-binär und hat das Coming-out gerade erst hinter sich gebracht. Das kann eine sehr intensive Zeit sein, weil sich vorher oft einiges angestaut hat und noch viele Unsicherheiten da sind. Aber natürlich ist dey mehr als deren Queerness. Ari ist auch im Archäologie-Studium an einer alten Eliteuniversität und das, obwohl dey aus einfachen Verhältnissen kommt und immer ein bisschen zu wenig Geld hat. Dann steht noch die Prüfungsphase an und eigentlich wäre all das schon Drama genug. Zum Glück hat Ari eine Gruppe von Freund*innen, die alle zusammen in der Theater AG sind und sich gegenseitig auffangen.
Literatopia: Wie geht Ari damit um, als dey bewusst wird, dass dey nicht einfach nur von den Prüfungen gestresst ist, sondern tatsächlich Geister sieht?
Noah Stoffers: Erst einmal ist Ari reichlich überfordert und durch Prüfungen und Theaterproben auch unter Zeitdruck, sodass dey zwar Nachforschungen anstellt, aber eben nur im Rahmen derer Möglichkeiten. Dey versucht zum Beispiel herauszufinden, wer die Geister einmal waren. Gar nicht so einfach, denn Ari spricht mit niemandem darüber, dass dey Geister sehen kann. Denn wer sollte denen das glauben?
Literatopia: Für die Freund*innen ist Ari einfach Ari und auch die Mutter akzeptiert, dass Ari nicht-binär ist. Dennoch gibt es im Alltag immer wieder Probleme, die binäre Menschen kaum nachvollziehen können. Inwiefern sind dabei Deine eigenen Erfahrungen eingeflossen?
Noah Stoffers: Ich habe einen guten Teil meiner eigenen Erfahrungen in Geschichten verpackt und so in Ari verarbeitet. Erst wollte ich das vermeiden, weil es nicht nur positive und bestärkende Erlebnisse und Gefühle sind. Doch beim Schreiben habe ich schnell gemerkt, wie stark die Wahrnehmung von Gender, also Geschlechtsidentität, unseren Alltag bestimmt. Da sind Grenzen, die wir oft gar nicht so wahrnehmen, weil wir sie für selbstverständlich halten. Sie bestimmen unseren Umgang miteinander. Wie viel Nähe ist angemessen? Welche Bemerkung, welcher Tonfall? Wie interagiere ich mit jemandem, der dasselbe oder ein anderes Geschlecht hat als ich? Das sind soziale Codierungen, die wir von klein auf lernen. Und wenn man da nicht mehr reinpasst, erzeugt das erst einmal viel Reibungsfläche und Unsicherheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ari das nicht erlebt, weil es für mich so allgegenwärtig ist. Gleichzeitig habe ich es stark abgemildert, damit es nicht zu viel Raum im Roman einnimmt.
Literatopia: Shakespeares „Sommernachtstraum“ ist während dem Lesen immer wieder präsent. Was bedeutet Dir persönlich die Geschichte? Und was bedeutet für Ari die Rolle des Oberon?
Noah Stoffers: Ich habe den Sommernachtstraum das erste Mal im Schultheater gesehen und danach in den 90er Jahren im Kino. Das hat eine starke Faszination für Shakespeare in mir ausgelöst. Später folgten dann noch diverse Theateraufführungen und Verfilmungen. Ich mag das Feenvolk und das Verwirrspiel in dem Stück einfach sehr gern. Es ist humorvoller und leichter als zum Beispiel „Hamlet“, „Macbeth“ und „Romeo und Julia“.
Und irgendwie kennen viele Menschen wohl das Gefühl, jemanden zu lieben, der oder die eine*n nicht zurückliebt. Oder die umgekehrte Situation: Eine Person liebt mich, aber ich kann die Gefühle nicht im selben Maß erwidern. Beides ist nicht besonders schön, aber sehr menschlich. Das treibt auch die Liebenden an, die sich eines Nachts im Wald bei Athen zwischen dem Feenvolk verirren.
Oberon hat insofern eine starke Bedeutung für Ari, als dass er denen die Möglichkeit gibt in eine andere Rolle zu schlüpfen. Sich Selbstvertrauen und Stärke auszuleihen. Und mit dem Ausdruck von Geschlecht zu spielen, denn Ari wurde bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen und Oberon ist eine männliche Rolle. Dieses „in fremde Rollen schlüpfen“ ist etwas, dass einige trans Menschen als sehr wohltuend empfinden, gerade, wenn sie noch nicht geoutet sind und sich noch ausprobieren.
Literatopia: Würdest Du uns die anderen handlungsrelevanten Figuren kurz vorstellen?
Noah Stoffers: Ren Tanaka ist Aris bester Freund, er spielt einen der Liebhaber im Stück. Er ist allseits beliebt, schlagfertig und auf eine mühelose Art selbstbewusst, um die Ari ihn glühend beneidet. Rayna Carter steht als Stipendiatin an der Spitze des Semesters. Sie spielt Titania, hat ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und viel aufgestaute Wut. Jamie Boyle hat die Rolle des Puck und genau wie der Elf neigt er zu unbedachten, manchmal etwas grausamen Scherzen.
Literatopia: Um Dark Academia gibt es seit Jahren einen regelrechten Hype, phantastische Geschichten im Uni-/Collegeumfeld erfreuen sich großer Beliebtheit. Was macht für Dich persönlich den Reiz von Dark Academia aus?
Noah Stoffers: Ich liebe diese nostalgische Atmosphäre, Bibliotheken und die Verehrung von Wissen. Irgendwie habe ich sofort englische Gärten, weiße Büsten und alte Gemälde vor Augen. Es ist eine stark romantisierte Sicht auf Colleges, die es genauso vermutlich nie gab.
Doch sie wird vermischt mit düsteren und unheimlichen Elementen, oft auch menschlichen Abgründen, hinter der schönen Fassade. Zum Beispiel mit toxischen Figuren und unmöglichen Entscheidungen.
Und es ist auch ein Setting, das stark von Privilegen geprägt ist. Wer kann es sich leisten, dort zu studieren? Oft sind die meisten Lehrenden immer noch weiß. Und nicht selten herrscht ein Leistungsdruck, der nicht allen Studierenden guttut.
Es gibt also zwei Seiten, der romantische Schein und die Geheimnisse dahinter. Diesen Gegensatz finde ich sehr spannend.
Literatopia: Wer im Internet nach Schottland und Hilma sucht, findet keine Insel. Ist Hilma dennoch von einem realen Ort inspiriert?
Noah Stoffers: Die Insel ist komplett fiktiv, aber ich habe sehr viel Zeit auf Pinterest verbracht, mit Fotos von Steinkreisen, alten Kapellen und kleine Cottages. Da ist viel Reisesehnsucht eingeflossen. Gleichzeitig habe ich über die Colleges in Oxford und Cambridge recherchiert. Oder viel mehr über den Alltag der Studierenden dort. Gerade sehr alte Colleges haben oft skurrile Eigenarten und „mein“ fiktives College ist ein Mix daraus, bei dem ich auch mit den Klischees von College-Romanen gespielt habe.
Literatopia: Das Motto Deines Lektorats Textpfade lautet „Jedes Buch ist eine Reise“ – würdest Du das näher erklären?
Noah Stoffers: Es dauert selbst im besten Fall ein paar Monate, manchmal auch Jahre, ein Buch zu schreiben und zu überarbeiten. In der Zeit entwickeln sich die Geschichte und der Mensch, der sie schreibt, zwangsläufig weiter. Wenn Autor*innen zu mir ins Lektorat kommen, haben sie für gewöhnlich schon ein ganzes Stück Weg hinter sich. Der Roman steht oft schon in der Rohfassung. Und dann komme ich dazu und wir arbeiten alles noch einmal durch. Was wieder eine Entwicklung bedeutet. Es ist ungeheuer spannend, das mitzubekommen, und dabei kriege ich ja nie den ganzen Weg mit. Ich begleite sie nur auf einer wesentlichen Etappe.
Literatopia: Inwiefern hilft Dir das Lektorieren fremder Texte beim Schreiben Deiner eigenen?
Noah Stoffers: Es hat meinen Blick auf Texte verändert und ich bin auch etwas pragmatischer geworden. Einerseits spüre ich meine eigenen Fehler schneller auf, andererseits bleiben immer noch genug übrig. Was gerade der Grund dafür ist, dass ein Lektorat und manchmal auch ein Sensitivity Reading so wertvoll sein können.
Literatopia: Welche Fehler werden beim Schreiben von Romanen Deiner Erfahrung nach immer wieder von den unterschiedlichsten Menschen gemacht?
Noah Stoffers: Es gibt Klassiker wie Infodump, Wortwiederholungen oder Schachtelsätze über mehrere Zeilen. Oder diese persönlichen Lieblingswörter, die immer wieder in einem Manuskript auftauchen. Jedes Mal, wenn ich gerade gemerkt habe, was aktuell mein Lieblingswort ist, wird es von einem anderen abgelöst, dass ich dann wieder viel zu oft verwende. Aber auch wenn sich bestimmte handwerkliche Aspekte wiederholen, bleibt es eben doch individuell und verändert sich beim Schreiben auch. Im Grunde kann man da nur versuchen, sich immer wieder selbst auf die Spur zu kommen. Einer meiner liebsten Tipps ist, möglichst treffende, genaue Wörter zu finden, so etwas wie pirschen oder schlendern statt gehen. Aber verallgemeinern kann man das nicht, denn manchmal braucht man eben auch das unscheinbare Gehen, weil es im Text fast unsichtbar ist.
Literatopia: Du bietest auch Sensitivity Reading an, insbesondere zur Darstellung queerer Figuren. Ist das für Dich als queere Person manchmal verletzend? Wie gehst Du damit um?
Noah Stoffers: Sensitivity Readings können emotional sehr anstrengend sein. Es gibt auf der einen Seite die Recherche, die eigenen Kenntnisse, die intensive Auseinandersetzung mit dem Text. Und auf der anderen die Leistung, die eigene negativen Gefühle zurückzustellen. Für gewöhnlich will der oder die Autor*in nicht verletzen. Und ich muss beim Feedback auch die Zielgruppe und die Absicht des Textes mitdenken. Wenn eine Beschreibung oder ein Element der Geschichte also unsensibel ist, dann versuche ich etwas Abstand zu gewinnen. Ich sortiere meine Gedanken und Gefühle und spiele mit Ideen für Lösungsansätze. Auf diese Weise kann ich im besten Fall einen konstruktiven Vorschlag machen. Oder zumindest auf die Metaebene des Textes verweisen, damit der/die Verfasser*in selbst überprüfen kann, wie er oder sie zu der Aussage steht.
Literatopia: Hast Du für uns vielleicht ein paar Buchtipps mit positiver queerer Repräsentation?
Noah Stoffers: Aiden Thomas schreibt Fantasy-Romane für Jugendliche und junge Erwachsene, oft mit trans Repräsentation. Im Romance-Bereich mag ich Marius Schaefers sehr gern oder Kacen Callender. Die „Heartstopper“-Autorin Alice Oseman hat einen sehr wohltuenden Roman über Asexualität geschrieben. („Loveless“). Ria Winter schreibt zum Beispiel märchenhafte, russisch inspirierte Fantasy mit lesbischer Repräsentation. Und „Pik Ass“ von Faridah Àbíké-Íyímídé ist ein düsterer Dark Academia Roman, ohne Fantasy, aber mit einer queeren Hauptfigur.
Literatopia: „A Midsummer’s Nightmare“ ist frisch erschienen – aber vermutlich arbeitest Du bereits am nächsten Buch? Würdest Du uns abschließen verraten, worauf wir uns in Zukunft freuen können?
Noah Stoffers: Tatsächlich arbeite ich im Moment nur an verschiedenen Ideen, aber noch nicht an einem konkreten Projekt. Ich bin der Situation, in der ich mir ganz unterschiedliche Geschichten gut vorstellen kann und selbst gespannt bin, wohin die Reise geht.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Fotos: Copyright by Marco Ansing
Website: https://www.textpfade-lektorat.de
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Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.