Mutterentität - Schattenspiele I (Christian Vogt)

ohne ohren (April 2024)
Taschenbuch, 106 Seiten, 7,49 EUR
ISBN: 978-3-903296-78-7
eBook 2,99 EUR, ISBN: 978-3-903296-79-4

Genre: Steamfantasy


Klappentext

Kann ich einen anderen Menschen haben, bitte?

Verbunden mit der Mutterentität und ruhend in einer nichtorganischen Existenz fühlt sich Nummer Siebzehn wohl – wären da nicht ein Museumsdiebstahl und der Auftrag, die wertvollen Objekte wiederzufinden, die gestohlen wurden.

In einer anderen Stadt forscht Kumari für ihre Promotion – doch seltsame Linien im Magiegewebe lassen ihren misstrauischen Blick zum Herz der Stadt wandern.

Neugierde, Forschungsdrang und im Dunkeln liegende Ereignisse vermischen Schicksale und Wesenheiten miteinander, die bisher nichts voneinander ahnten.


Rezension

"Tatsächlich bin ich eine Instanz. Genauer gesagt die siebzehnte Instanz einer Investigationsklasse. Also bin ich nichts anderes als das Aufleuchten und Vergehen tausender Lichtimpulse. Nein, das beunruhigt mich nicht ..." (Seite 8)

Siebzehn ist eine Instanz der Investigationsklasse und wurde beauftragt, bei einem Museumseinbruch in Luciwa, der Stadt der Hundert Inseln, zu ermitteln. Um zu kommunizieren und bewegungsfähig zu sein, nutzt Siebzehn einen spinnenähnlichen, mechanischen Körper, allerdings hasst sie es, als Spinne bezeichnet zu werden. Exekutiv-Justiziarix Ayo leitet die Ermittlungen und betrachtet Siebzehn als eine Art Homunkulus. Die Instanz selbst sieht sich als künstliches Wesen und ist Teil einer Mutterentität - quasi ein intelligentes Programm in einer gigantischen Differenzmaschine, deren Entwicklung mit Hilfe magischer Zeichen möglich war. Siebzehn ist mit Ayo nicht sonderlich zufrieden, da er sich respektlos, also menschlich, verhält, aber den Auftraggeber kann man sich nun einmal nicht aussuchen. Während ihrer Ermittlungen stößt Siebzehn auf eine Verschwörung – und auf die Wissenschaftlerin Kumari, die in Sygna seltsame, leuchtende Linien auf Photographien untersucht …

“Mutterentität“ ist eine Novelle aus der Welt der „13 Gezeichneten“ und ist erstmals 2020 als eBook im Selfpublishing erschienen. Im Verlag ohne ohren ist die Novelle nun erstmals als Print erhältlich und trägt den Untertitel "Schattenspiele I". Vorkenntnisse aus den Romanen um die "13 Gezeichneten" sind nicht notwendig, da alles Relevante beiläufig erklärt wird. Wer die Trilogie noch lesen möchte, wird jedoch gespoilert, was den Ausgang der Geschichte damals betrifft - wobei viele der Ereignisse ein Vierteljahrhundert später, also der Zeit, in der die Novelle spielt, bereits dem Reich der Legenden angehören. Die Welt hat sich verändert und insbesondere technologisch weiterentwickelt, sodass aus der Gunpowder-Fantasy nun Steamfantasy geworden ist. Mit Hilfe der Zeichenmagie wurden spannende neue Technologien entwickelt und beispielsweise das Unternehmen Telegraphia aufgebaut. Hier funktioniert das Telegraphieren nicht mit Tönen, sondern mit Hilfe von Magie und Licht.

"Wie dem auch sei: Ich rechne, also bin ich!" (Seite 23)

Die Novelle ist aus der Perspektive von Siebzehn verfasst, es gibt hier also steampunkigen Technobabble und herrlich trockenen Humor. Die Instanz hat übrigens kein Geschlecht und wurde kurz vor Beginn der Handlung erst „geboren“. Sie hält sich selbst für ein autonomes Programm, doch wie genau diese Technologie funktioniert, weiß sie auch nicht. Menschen mag sie nicht besonders, allerdings wirkt sie durch ihren leicht ironischen Erzählstil menschlicher als sie möchte und revidiert ihre Ansichten zumindest ein wenig, als sie Kumari kennenlernt. Die Wissenschaftlerin studiert an der neugegründeten Universität in Sygna und geht in ihrer Forschung voll auf. Für ihre Studien nutzt sie die Photographie, eine in dieser Welt neuartige Technologie, die mysteriöse, leuchtende Linien in Sygna sichtbar macht. Kumari sucht nach dem Ursprung dieser Linien und findet sie im Bleiberg. Ihre Lebensgefährtin Li-Zah ist alles andere als begeistert, als Kumari in die Katakomben unter der Stadt steigen will, um herauszufinden, wo der Ursprung der Linien liegt. Doch zähneknirschend unterstützt sie sie und nutzt ihre Kontakte, um Kumari eine geheime Expedition in den Bleiberg zu ermöglichen.

Kumari und Li-Zah ergänzen sich in ihrer Gegensätzlichkeit gut. Kumari ist eine pedantische Wissenschaftlerin, die für ihre Forschung nahezu alles tut, und Li-Zah eine leidenschaftliche Schauspielerin, einfühlsam und charmant. Christian Vogt braucht nur wenige Seiten, um ihre Beziehung intensiv darzustellen. Die beiden kennen sich schon länger und scheinen perfekt aufeinander eingespielt. Kumari ist autistisch, entsprechend fällt ihr die Interaktion mit Menschen oft schwer, da die meisten ihre Art zu denken und wahrzunehmen nicht verstehen. Li-Zah akzeptiert Kumari jedoch mit all ihren Facetten und weiß, wann sie Kumari ihre Interessen verfolgen lassen und wann sie sie respekt- und liebevoll ermahnen muss. Mit Siebzehn versteht sich Kumari auf Anhieb, was durchaus nachvollziehbar ist. Die intensive Bindung der beiden ist in der Kürze ihrer Begegnung allerdings nicht glaubhaft.

"Kumari wusste selbst, dass ihr überkorrektes Verhalten für andere Menschen nicht einfach zu erdulden war. Aber sie konnte es nicht ausstehen, wenn irgendetwas falsch war. Zum Glück hatte Li-Zah mehr Geduld mit ihr als andere ..." (Seite 29)

Auch wenn Vorkenntnisse nicht zwingend notwendig sind, so dürften sie den Lesespaß maßgeblich erhöhen. Für Kenner der Trilogie reicht die Erwähnung des Bleibergs aus, um Assoziationen an dunkle Kreaturen und finstere Schatten zu wecken. Sofort kommt eine unheilvolle Stimmung auf, die neuen Leser*innen entgehen könnte. Zudem sind hier sehr viele Namen und Begriffe aus der Welt der „13 Gezeichneten“ enthalten, die erschlagen können, wenn man sie noch nicht kennt (und wenn man sie kennt, freut man sich über so manches Wiedersehen). Auch ist die Zeichenmagie durchaus komplex und lässt sich schwer auf den wenigen Seiten durchschauen. Das Konzept der Steampunk-KI ist und bleibt unheimlich cool. Als sich in der zweiten Hälfte die Puzzleteile nach und nach zusammenfügen, kommt richtig Schwung in die Geschichte, die so manche Überraschung parat hält.

“Mutterentität“ hat Christian Vogt alleine geschrieben und wer ganz genau hinschaut, wird feine Unterschiede entdecken. Die Trilogie hatte mehr emotionale Kraft als diese Novelle, was teils am Stil aber vor allem an der Komplexität der Handlung liegt. Mit 106 Seiten ist „Mutterentität“ einfach zu kurz und wer Gefallen daran gefunden hat, verhungert quasi am ausgestreckten Arm. Hier gibt es so vieles, über das man gerne mehr gelesen hätte. Glücklicherweise enthält der Titel nun den Zusatz "Schattenspiele I", es wird also weitergehen, wahrscheinlich noch in diesem Jahr. Ob eine weitere Novelle reichen wird, um die Lust auf die steampunkige Weiterentwicklung der "13 Gezeichneten" zu stillen, ist fraglich, bietet die Welt doch Potential für weit mehr Novellen und Romane, eventuell auch in einem futuristischen Setting.

Der Verlag ohne ohren hat "Mutterentität" als Taschenbuch im Kleinformat in Hochglanz veröffentlicht. Das kleine Büchlein ist sehr fest gebunden, die kleine Schrift gerade noch so gut lesbar. Die Gestaltung ist schlicht und gelungen, es gibt es neu gestaltetes Inhaltsverzeichnis, hervorgehobene Kapitelüberschriften sowie im Anhang Autoreninfos und die Content Notes, auf die zu Beginn hingewiesen wurde.


Fazit

”Mutterentität“ vollzieht den Wandel von der Gunpowder-Fantasy zum Steampunk und bietet eine unterhaltsame und überraschende Geschichte aus der Welt der "13 Gezeichneten", die auch ohne Vorkenntnisse genossen werden kann. Christian Vogt gewährt spannende Einblicke in eine Zeit, in der Zeichenmagie und Industrialisierung technische Wunderwerke wie die Instanz Siebzehn hervorbringen und Technologie einen neuen Blick auf Magie ermöglicht. Leider ist die Novelle der Form entsprechend kurz geraten - man kann sich nur damit trösten, dass es einen zweiten Teil geben wird.


Pro und Contra

+ die Welt der „13 Gezeichneten“ hat sich weiterentwickelt
+ Steampunkflair durch Industrialisierung
+ spannendes Konzept der Steampunk-KI Siebzehn
+ ironische, unterhaltsame Erzählweise
+ Kumaris unbändiger Forscherdrang
+ Kumaris innige Beziehung zu Li-Zah
+ Photographie und Telegraphie mit Magie
+ selbstverständliche Diversity
+ cooles neues Cover

o einzeln lesbar, Vorkenntnisse erhöhen jedoch den Lesespaß

- zu kurz / man hätte gerne mehr von Luciwa und dem neuen Sygna gesehen
- die schnelle Bindung zwischen Kumira und Siebzehn ist nicht nachvollziehbar

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Hinweis: Diese Rezension entspricht der zum alten eBook, sie wurde jedoch nach erneuter Lektüre überarbeitet und ergänzt.


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Tags: Christian Vogt, Steampunk, Steamfantasy, Novellen, Künstliche Intelligenz, queere Figuren