Wolfszone (Christian Endres)

wolfszone

Heyne (Mai 2024)
Hardcover, Pappband
ca. 496 Seiten, 20,00 EUR
ISBN: 978-3-453-27471-6

Genre: Near-Future-Thriller / Cyberpunk / Climate Fiction 


Klappentext

Geh nicht allein in den Wald

Das Dunkel der Wälder in Brandenburg hat Monster hervorgebracht. Cyborg-Wölfe, erschaffen aus Nanogiftmüll und Raubtieren. Als eine junge Frau im Wald verschwindet, ist die Jagd eröffnet - aber wer ist Jäger und wer ist Beute?


Rezension

"Elektroautos schön und gut, aber das reicht eben nicht, um die Welt zu retten. Falls das überhaupt noch möglich sein sollte - alle erinnern sich unter dem Dauerbeschuss aus Hitze, Dürre, Waldbränden, Starkregen, Hagel, Überschwemmungen, Erdrutschen und Tornados reumütig an die verpassten Kipppunkte." (Seite 59)

Privatdetektiv Joe Denzinger erhält einen filmreifen Anruf. Silvia Kraupen, die Leiterin eines mächtigen Rüstungskonzerns, zitiert ihn zu sich - die Adresse soll er selbst herausfinden, er sei ja schließlich Detektiv. Joe glaubt an einen Scherz, doch er ist neugierig und steht kurz darauf tatsächlich vor einer der reichsten Frauen Deutschlands, die ihm offenbart, dass ihre Tochter verschwunden ist. Ausgerechnet in der Nähe von Dölmow, dem kleinen brandenburgischen Nest nahe der polnischen Grenze, das ständig in den Nachrichten ist, weil dort das Sperrgebiet der Cyborgwölfe liegt. Joe hat wenig Lust auf Wolfskontakt, doch der Auftrag wird verdammt gut bezahlt und ein "Nein" ist ohnehin keine Option. Also macht sich Joe auf den Weg nach Dölmow, wo ihn neben mutierten Wölfen, Soldaten und den Aktivisten von ProW@lf eine sengende Hitze erwartet. Der Asphalt kocht in dem kleinen Dorf und Joes Hotelzimmer hat keine Klimaanlage. Während er sich unter den Einheimischen und im ProW@lf-Camp umhört, wird das Militär zunehmend nervöser ... 

"Wolfszone" ist aus der Kurzgeschichte "Wer hat Angst vor dem bösen W@lf?" (erschienen in Spektrum der Wissenschaft, 2021) entstanden, es handelt sich jedoch um eine unabhängige, neue Geschichte mit der gleichen Ausgangsidee. In der nahen Zukunft wird Elektroschrott illegal in den deutschen Wald gekippt, weil die Megadeponien in Asien und Afrika nichts mehr nehmen. Natürlich könnte man den Müll auch korrekt entsorgen, doch wie im echten Leben geht hier Profit vor Recht und Anstand. Wie es der Zufall so will, wurde im Wald nahe Dölmow Nanotechnologie entsorgt, die die mit Implantaten ausgestatteten Wölfe infiziert und transformiert hat. Diese sind zu Cyborgs mutiert, riesigen Chimären aus Wolf und Maschine, und stehen unter strengster Beobachtung des Militärs, während der Bundestag darüber debattiert, ob man die Wölfe erforschen soll oder wegbomben. Menschen demonstrieren für und gegen die Wölfe und in Dölmow machen die Einheimischen gute Geschäfte mit den vielen Umweltaktivisten und Journalisten, die sich rund um die Sperrzone tummeln. Der Klappentext ist leider ziemlich reißerisch und impliziert, dass es sich bei den Cyborgwölfen um brutale Monster handelt, doch die Monster existieren mehr in den Köpfen der Menschen, die sich vor dem Neuen und Fremdartigen fürchten - was nicht heißt, dass die Wölfe ungefährlich sind.

Joe sieht von den Wölfen zunächst nichts. Seine Ermittlungen konzentrieren sich auf Gepräche mit den unterschiedlichsten Leuten und jedes Mal, wenn er eine Spur zu haben glaubt, verläuft diese wieder irgendwo im heißen Sand. Joe hat das Talent, mit nahezu jedem auszukommen und einen Zugang zu den unterschiedlichsten Menschen zu finden, abgesehen von der Wirtin das Gasthofs, die ihn aus unerfindlichen Gründen auf dem Kicker hat. Er setzt darauf, wenig aufzufallen und gibt sich meist diplomatisch und zurückhaltend, er kann jedoch auch ganz andere Seiten aufziehen, wenn ihn jemand verarscht. Damit passt er durchaus in das Klischee des "hard-boiled detectives", inklusive Feodora, und ist dabei schlicht ein prima Kerl, dem es wirklich wichtig ist, Lisa Kraupen zu finden. Dennoch lässt er sich ablenken: von einer taffen Journalistin, der er besser nicht zu nahe kommen sollte und der er trotzdem nicht widerstehen kann. Auch hier erfüllt er Stereotype, doch die tragen maßgeblich zur Unterhaltung bei. Christian Endres ist es gelungen, Joe zu einem wandelnden Klischee (von der guten Sorte) und gleichzeitig zu einem einzigartigen Charakter zu machen, der durch seine Fehler menschlich wirkt.

"Joe ist angefressen. Keine Frage, das ist alles beschissen gelaufen, und er hat sich wie der letzte Idiot verhalten und dazu beigetragen, dass die Scheiße früher als gedacht durch den Ventilator fliegt." (seite 425)

Neben Joe gibt es vier weitere Perspektivfiguren: Biologin Kira erforscht die Cyborgwölfe und kämpft dafür, dass sie ungestört in einem Reservat leben dürfen, während Kollegen beim Militär es kaum erwarten können, die Tiere auszulöschen. Immer an ihrer Seite ist der zahme Wolf Winslow, der in seiner Jugend durchaus anstrengend ist und bei der Leserschaft sehr beliebt sein dürfte. Kira hat Stress mit ihrer Frau und ignoriert ihre Anrufe, wobei man wenig über die Gründe für die Ehekrise erfährt. Im Vordergrund steht Kiras Arbeit als Wissenschaftlerin, die im Militär unschöne Kompromisse eingehen muss. Soldat Tariq hingegen muss sich mit seinen rassistischen Kollegen herumschlagen, dabei könnte er im Wolfsgebiet wirklich Rückendeckung gebrauchen. Sein Pflichtbewusstsein treibt ihn an, doch mit jedem weiteren ekligen Spruch wird der Wunsch, einfach hinzuschmeißen, größer. Der Alltagsrassismus, den Tariq erlebt, ist schwer zu ertragen, gerade weil er authentisch dargestellt ist. Herzerwärmend dagegen sind die kurzen Telefonate mit seiner Familie.

Ex-Profisportlerin und Fahrradkurierin Marija transportiert Pizza und Nudeln - und so manch illegale Substanz durch das Sperrgebiet. Nach einem Ausraster war ihre Karriere vorbei, kurz darauf auch ihre Ehe. Nun tut sie alles dafür, um ihre Tochter regelmäßig zu sehen, doch sie braucht auch den Kick, den ihr die nächtlichen Fahrten durch die Wolfszone bescheren. Marijas und Joes Wege überschneiden sich mehrmals, doch die beiden haben bis zum Finale nichts miteinander zu tun. Ähnlich verhält es sich bei den anderen Perspektivfiguren, deren Geschichten bis auf kleine Überschneidungen parallel verlaufen, die am Ende aber alle mit von der Partie sind. Mit DW-7X erlebt man zudem die Perspektive eines Cyborgwolfs, der von seinem Rudel verstoßen wurde und nun allein durch den Wald bei Dölmow streift. Er beobachtet die Menschen, während er gegen die fremdartige Technologie in seinem Körper ankämpft. DW-7Xs Szenen sind in einem abgehackten Stil mit kurzen Sätzen verfasst, wodurch der Autor versucht hat, die Gedanken eines mit Nanobots infizierten Tieres sichtbar zu machen.

Insbesondere durch Joes Perspektive bekommen die Leser*innen die Spaltung der Gesellschaft zu spüren, die unter den Auswirkungen der Klimakrise leidet und weiter streitet, statt an einem Strang zu ziehen. Zwar hat sich so manches positiv entwickelt, doch es hat nicht gereicht, um die Klimakrise einzudämmen und auch die Anpassungsmaßnahmen sind vielerorts dürftig. Die Cyborgwölfe werden dabei zur Metapher für die unterschiedlichsten Krisen: die einen fürchten sie und wollen sie vernichten, die anderen bewundern sie und kämpfen für ihren Lebensraum. Dazwischen gibt es viele Graustufen und einen Haufen Leute, die auf ihren eigenen Vorteil schauen. Dazu sind die Nachwirkungen der Corona-Pandemie (und nachfolgender) zu spüren und Fake-News hetzen die Bevölkerung auf. Christian Endres bindet beiläufig reale und fiktive Details ein, die seine Zukunftsivision sehr intensiv wirken lassen. So fühlt sich die Zukunft erschreckend vertraut an - einzig die Cyborgwölfe und die futuristischen Waffensysteme erinnern daran, dass es sich hier um Science Fiction handelt. Wenn die Kraupen-Kampfläufer durch den Wald stapfen, fühlt man sich an das Artwork von Simon Stålenhags "Electric State" erinnert.

Auf dem Cover steht "Cyberthriller", entsprechend wird man den Roman vor allem in den Thrillerregalen in den Buchhandlungen finden, wo er durchaus hinpasst - viel besser ist er jedoch bei der Science Fiction aufgehoben. Der Erzählstil steht in der Tradition des Cyberpunk und Christian Endres gibt dem Genre mit dem ungewöhnlichen Setting in der brandenburgischen Einöde einen neuen Drive. Dazu ist das Worldbuilding deutlich besser als beim durchschnittlichen Tech-Thriller und insbesondere im Hinblick auf die eskalierende Klimakrise gut durchdacht. "Wolfszone" ist von der ersten bis zur letzten Seite sehr atmosphärisch und bietet eine gute Mischung aus Action, Humor und Ernsthaftigkeit. 

"Die meisten Leute sind ein Puzzle aus den schlechtesten, besten, hellsten und finstersten Teilen." (Seite 439)

Maschinenwolf - Eine Story aus der Wolfszone

Im Vorfeld der Veröffentlichung von "Wolfszone" ist die Kurzgeschichte "Maschinenwolf" als Gratis-eBook erschienen. Darin begleiten wir Lisa Kraupen und ihren Freund Helge, aus dessen Perspektive die Story geschrieben ist, in das Sperrgebiet. Lisa will unbedingt einen der Cyborgwölfe filmen und so beweisen, dass sie nicht gefährlicher als vorher sind, während Helge seine Freundin beeindrucken will und ihm schnell der Arsch auf Grundeis geht. Im nächtlichen Wald erwartet die beiden so manche Begegnung und nicht nur Helge gruselt es, wenn es im Unterholz raschelt. Die Story eignet sich perfekt als Vorgeschmack auf "Wolfszone", lässt sich aber auch gut hinterher lesen, wobei dann die Verbindungen zum Roman deutlicher hervortreten. Vor allem eignet sie sich, um Christian Endres' Stil kennenzulernen, denn tatsächlich ist hier auf wenigen Seiten sehr viel von dem enthalten, was "Wolfszone" zu einem rasanten Lesegenuss macht.


Fazit

"Wolfszone" ist ein verdammt cooler Mix aus Cyberpunk und Climate Fiction inmitten der brandenburgischen Pampa und unter seiner unterhaltsamen Thriller-Fassade angenehm komplex. Christian Endres überzeugt mit einem Mix aus frischen Ideen und den genau richtigen Klischees, die einfach Spaß machen, und bietet ein vielschichtiges Porträt der nahen Zukunft, inklusive authentischer Charaktere, die sowohl von den großen Krisen ihrer Zeit als auch ihren ganz persönlichen Krisen gezeichnet sind.


Pro und Contra

+ cooler Mix aus Cyberpunk und Climate Fiction
+ Joe ist ein wandelndes Klischee mit Ecken und Kanten
+ einprägsame, glaubwürdige Figuren
+ die sehr unterschiedlichen Reaktionen auf die Cyborgwölfe
+ authentisches, detailreiches Porträt der nahen Zukunft in Deutschland
+ spannende zweite Hälfte mit gelungener Auflösung
+ locker, teils derb und durchgehend unterhaltsam geschrieben
+ schmuckes Hardcover im Metallic-Look

- Joe kommt in der ersten Hälfte nur langsam voran
- die enorme Größe der Cyborgwölfe erscheint übertrieben

Wertungsterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Die Prinzessinnen - Fünf gegen die Finsternis"

Rezension zu "Die Prinzessinnen - Helden und andere Dämonen"

Interview mit Christian Endres (2023)

Tags: Cyberpunk, Künstliche Intelligenz, Climate Fiction, Near Future, Christian Endres