Ich, Hannibal - Rom wird vor ihr erzittern (Judith und Christian Vogt)

Cover "Ich, Hannibal" in schwarz-gold-violett mit der weiblichen Hannibal im Profil im Stil antiker Statuen, umgeben von Ranken

Piper (Mai 2024)
Klappenbroschur, 432 Seiten, 17,00 EUR
ISBN 978-3-492-70658-2

Genre: historische Fantasy


Klappentext

218 v. Chr: Feldherr Hannibal und die Armee Karthagos brechen auf, um Rom zu erobern. Doch statt Hannibal führt dessen Mörderin unter seinem Namen die Armee an, und sie entsendet ihre beste Monsterjägerin, die größten Bestien des antiken Mittelmeerraums zu unterwerfen. Nicht nur von Elefanten, sondern auch von Sphinxen, Harpyien und anderen mythischen Kreaturen verstärkt, greift Hannibal Rom an – und sie setzt dabei alles auf eine Karte.


Rezension

"Als du die Gewalt gesehen hast, die den Sagunterinnen angetan wurde, da hast du gedacht, dass du Macht brauchst - und als du im Tempel von Gades warst, da hast du gedacht, du kannst sie haben; dass ein Toter und eine gute Geschichte sie dir verleihen werden." (Seite 312)

Der karthagische Feldherr Hannibal ist tot. Auf dem Rücken eines einäugigen, alabasterfarbenen Elefantenbiests kehrt seine Frau zum Heer zurück und beansprucht seinen Namen und seine Position. Ihr sei prophezeit worden, dass Hannibal scheitern werde und er habe sein Leben geopfert, um sie an seine Stelle treten zu lassen und den Feldzug gegen Rom zu einem Triumph zu machen. Von Anfang an herrschen Zweifel an dieser Geschichte, doch die göttliche Bestie in Gestalt eines gigantischen Elefanten beeindruckt die Soldaten und Offiziere schwer. Zudem ist das Heer bereit und kriegshungrig. Vorerst folgen sie der neuen Hannibal, die das Heer mit Hilfe von mythischen Bestien erfolgreich über die Alpen führt, wertvolle Bündnisse mit Galliern schmiedet und siegreich gegen die römischen Legionen vorgeht. Doch wird die Stratega gegen alle Intrigen und gegen die Ungeheuerlichkeiten des Krieges bestehen?

"Ich, Hannibal" ist eine phantastische Neuerzählung des legendären Feldzuges über die Alpen und nimmt dabei die Perspektive von Karthago ein, das sich gegen die römische Expansion zur Wehr setzt. Zu historischer Fantasy wird der Roman durch den Einsatz mythischer Bestien im Krieg. Diese werden von den Karthagern als Waffen genutzt. Die Römer hingegen fangen Stammesbiester, um sich andere Völker zu unterwerfen. Im Gegensatz zur realen Geschichte stirbt hier Hannibal Barkas einen frühen, gewaltvollen Tod. Seine Frau tritt an seine Stelle und verfolgt seine Pläne. Vom ersten Moment an, als sie Hannibals Tod verkündet, muss sie um ihre Position kämpfen: mit Hilfe einer phantastischen Geschichte, die sie zur Erfüllerin einer Prophezeiung macht. Mit Hilfe des Chronisten Sosylos, der ihre Intelligenz erkennt und für sie die Wahrheit unterdrückt. Und mit Hilfe einer Bestienjägerin, die die Monster der Antike unterwirft. Hannibal weiß die Bestien einzusetzen, sie dienen ihr so manches Mal für eine erfolgreiche List, manchmal aber auch mit roher Gewalt. Die Bestien sind es auch, die Hannibal vor den Männern im Heer, die sie am liebsten zurück auf den Platz einer Frau drängen würden, schützen. Die Bestien verleihen ihr Macht, denn sie sind entscheidend für den Krieg und die Kontrolle über sie liegt bei ihr und der Bestienjägerin Tamenzut.

"... er blieb, gefesselt davon, nicht der Geschichte von Männern zuzusehen, sondern zu lauschen, wie zwei Frauen unerhörterweise Teil von Geschichte wurden." (Seite 155)

Hannibal selbst erleben die Leser*innen oft nur aus der Sicht von Sosylos, dem Chronisten des Feldzuges. Er dokumentiert den Weg und die Siege der Stratega (und ist eine von vielen historischen Figuren). Anfangs ist auch er empört über den Gedanken, eine Frau das Heer führen lassen, aber Hannibal erinnert ihn daran, ebenso wie ihr Mann seinen Lehren gelauscht zu haben und sie beweist, dass sie gut aufgepasst hat. Sosylos erkennt ihren brillanten Verstand und er erkennt sie als Gleiche, denn wie sie als Frau ist auch er als Sklave nicht frei. Als Chronist hat er eine hohe Stellung im Heer, doch er ist und bleibt ein griechischer Sklave. Sosylos wird zu einem von Hannibals wichtigsten Verbündeten. Ebenso wie Bestienjägerin Tamenzut, die sich weder als Frau noch als Mann sieht. Das Alter macht ihr allmählich zu schaffen, der Rücken schmerzt immer öfter, doch sie ist noch immer hart im Nehmen und scheut keinen Kampf gegen eine Bestie. Eher scheut sie den Kampf gegen Menschen, denn diese können weitaus grausamer sein als die Monster, die Tamenzut für Hannibal unterwirft.

Zu den Protagonist*innen zählt außerdem Fulvia, eine Römerin, die gut geheiratet hat, jedoch alles verliert, als ihr Mann stirbt und sie mit seinen drei Kindern zurücklässt. Fulvia ist jung, die Kinder entstammen einer früheren Ehe, doch sie will Verantwortung für sie übernehmen und den Pflichtteil des Erbes erstreiten, um das ein Verwandter sie betrügen will. Als Mittellose muss ihr jedes Mittel Recht sein, doch lange versucht sie, Rom treu zu bleiben und nach den Regeln zu spielen. Doch diese Regeln diskriminieren sie als Frau, machen sie zur Beute für Männer, die die Macht in der Stadt unter sich aufteilen. Fulvia verbündet sich mit kathargischen Spionen und gewinnt Macht über Männer, indem sie sich bei ihnen einschmeichelt und sie verführt - was sie eigentlich nicht will. Durch ihre Perspektive erkennt man die Ungerechtigkeit der Römischen Republik, die Angriffskriege als Verteidigung darstellt und innerhalb und außerhalb der Stadtmauern Menschen ausbeutet. Und ganz gleich ob Rom, Karthago oder andere antike Reiche: überall herrscht das Patriarchat und damit Ungerechtigkeit.

"Niemand zählte die Frauen im Heer. Niemand zählte die Frauen, die Heere auf dem Weg zu hinterlassen pflegten; verletzt, vergewaltigt, verstoßen." (Seite 309)

"Ich, Hannibal" ist das bislang schmerzhafteste Buch von Judith und Christian Vogt, das im Kern von der Grausamkeit des Krieges und seinen Opfern handelt. Es werden große Schlachten geschlagen und große Erfolge gefeiert, doch es ist auch ein elendes Sterben auf dem Schlachtfeld und ein noch elenderes Schicksal für Zivilisten, insbesondere Frauen, die als Kriegsbeute betrachtet, von ihren Familien getrennt, vergewaltigt und ermordet werden. Hannibal duldet diese Grausamkeiten nicht, doch auch die Männer in ihrem Heer bestehen auf Kriegsbeute und nicht alle geben sich mit geraubtem Gold, Schmuck und Rüstzeug zufrieden. Viele Männer können Hannibals Weg, den Besiegten Freiheit zu gewähren und zu Verbündeten gegen Rom zu machen, nicht verstehen. Sie wollen kämpfen, töten, Reichtümer anhäufen und ihre Namen in die Geschichte schreiben. Während manche Männer sie dennoch unterstützen, teils unerwartet, fallen Hannibal andere in den Rücken. Die größte Gefahr für sie ist ein gekränktes, männliches Ego.

Die Darstellung von Gewalt in "Ich, Hannibal" ist schonungslos, aber nie verherrlichend. Es wird der Krieg mit all dem vergossenen Blut und durchlebten Schmerz gezeigt und je länger Hannibals Feldzug dauert, umso mehr Zweifel kommen auf, ob Krieg der richtige Weg sein kann. Für Hannibal ist es lange der einzige Weg, denn nach dem Mord an ihrem Mann bleibt ihr nur die Flucht nach vorne. Anfangs warten die Männer im Heer nur darauf, dass sie einen Fehler macht und sie sie töten können, doch mit jedem weiteren Sieg verdient sie sich Respekt. Dennoch wird sie niemals so respektiert wie der männliche Hannibal. Neben ihr und Tamenzut gibt es weitere Frauen im Heer, die weitgehend unsichtbar bleiben. Unter den Galliern gibt es Kriegerinnen, doch man(n) spricht nicht über sie. Der Krieg ist eine männliche Welt, eine grausame Welt männlicher Macht, die auf dem Schmerz der Besiegten und Unterdrückten, meist Frauen, basiert. Judith und Christian Vogt beschäftigten sich in diesem Buch intensiv mit Macht und Machtmissbrauch, mit toxischen Vorstellungen von Männlichkeit, unter denen vor allem Frauen, aber auch Männer leiden. Letztlich bleibt die Frage, wer in dieser Geschichte wirklich die Monster sind.

Trotz der Grausamkeit des Krieges ist "Ich, Hannibal" ein zutiefst schönes Buch mit fragilen Momenten intensiver Nähe und Solidarität unter Frauen und queeren Menschen. Hannibal, Tamenzut und Fulvia stehen nie wirklich allein da. Es gibt viele helfende Hände und ja, "nicht alle Männer" sind brutale Schlächter und intrigante Machtmenchen. Manche sind zuverlässige und ehrliche Bündnispartner, manche wahre Freunde, viele schlicht Mitläufer - und so manches Biest hat eine zärtliche Seite. Es gibt viele skurrile, lustige Situationen, Abenteuer und Action, leise Momente des Innehaltens, entspannte Momente mit gutem Essen und kleine Triumphe über eklige Kerle. Wie das echte Leben steckt der Roman voller Höhen und Tiefen, lässt die Leserschaft hoffen, bangen und verzweifeln, lachen, mitfühlen und tief in Gedanken versinken.

"Monster und Menschen hingegen - sie waren irgendwie verwandt. Nicht nur trugen viele Ungeheuer Menschenköpfe, nein, auch umgekehrt trugen viele Menschen Ungeheures in ihren Herzen." (Seite 78)

Der Titel "Ich, Hannibal" ist etwas unglücklich gewählt, der Verlag wollte offenbar eine Nähe zu anderen Retellings herstellen. Doch die Geschichte wird nicht aus Hannibals Perspektive erzählt, es gibt kein "Ich" und Hannibal ist zwar die zentrale Figur, aber es ist nicht ihre Geschichte, sondern eine Geschichte über Frauen, die sich gegen männliche Macht behaupten müssen, und eine Geschichte über den Krieg und darüber, was er aus Menschen macht. Die Handlung erstreckt sich über drei Jahre, entsprechend gibt es immer wieder große Zeitsprünge und einige relevante Ereignisse finden außerhalb der Romanhandlung statt. Tatsächlich ist "Ich, Hannibal" so komplex und dicht, dass man die Geschichte gut auf zwei oder drei Bände hätte ausdehnen können. Beachtenswerterweise funktioniert sie dennoch, außerordentlich gut sogar. Mit zunehmender Seitenzahl entfaltet die Handlung immer mehr Wucht und beim Lesen wird die Brust immer enger. Doch der Roman ist auch fordernd, es gibt sehr viele Figuren inklusive komplexer Beziehungsgeflechte, sehr viele Details, die im Kopf behalten werden müssen. Man sollte dieses Buch nicht zu lange aus der Hand legen und vermutlich wird man es auch nicht lange aus der Hand legen können.

Um den Überblick über die vielen (oft historischen) Figuren zu behalten, gibt es ein ausführliches Personenverzeichnis am Ende des Buches. Ebenso hilfreich ist die Landkarte vom Mittelmeerraum vorne im Buch, um abzuschätzen, wo Hannibal sich gerade befindet. Was fehlt, ist eine Übersicht der antiken Begrifflichkeiten, die sich zwar oft aus dem Kontext erschließen (oder im Internet nachschauen lassen), die aber gerne ebenso im Anhang hätten erklärt werden können. Das Cover ist im Stil anderer Retellings antiker Geschichte und Mythologie gehalten, wirkt aber in edlem Schwarz-Gold mit den violetten Elementen sehr modern. Ein schönes Buch, dem man den Schmerz, der in ihm steckt, nicht ansieht.

"Sie ist eine Tochter der Nicht-Orte. Männer wie Maharbal gibt es viele in Qart-Hadašt, und sie formen die Welt. Aber wir (...) Wir haben nicht Teil daran." (Seite 417)


Fazit

"Ich, Hannibal" ist schmerzhaft, fordernd und zwischen der Ungeheuerlichkeit des Krieges und der tiefen Ungerechtigkeit des Patriarchats atemberaubend schön. Judith und Christian Vogt erzählen den legendären Feldzug über die Alpen neu, mit einer weiblichen Hannibal, die mit mythischen Bestien gegen Rom zieht und versucht, einen gerechten Krieg zu führen und Bündnisse mit den Besiegten zu schmieden. Es geht um Macht, insbesondere männliche Macht, die Frauen ausschließt, unterdrückt und ihnen Gewalt antut, aber auch um weibliche und queere Solidarität. In einer Welt voller Bestien stellt sich die Frage, wer die wahren Monster sind und was der Krieg aus Menschen macht.


Pro & Contra

+ historische Fantasy, die die Perspektive von Karthago einnimmt
+ Feldherrin Hannibal ist eine mysteriöse Figur, deren Fassade für kurze Augenblicke fällt
+ die schroffe, ehrgeizige Bestienjägerin Tamenzut
+ die junge Römerin Fulvia kämpft um ihr Recht
+ erzählt von Macht, Machtmissbrauch und toxischer Männlichkeit
+ schonungslos, aber nie verherrlichend in der Darstellung des Krieges
+ kleine Momente intensiver Nähe
+ weibliche und queere Solidarität
+ antike Bestien machen die Geschichte phantastisch
+ unterhaltsam und doch oft tiefgreifend
+ edles, modernes Cover

Wertungsterne5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Judith C. Vogt, Christian Vogt, Alternative Geschichte, queere Figuren, historische Fantasy, progressive Phantastik, Antike, feministische Fantasy